Der Esoterik-Boom

Von Engelseminaren bis hin zu Schamanismus: Irrationales Verhalten liegt trotz Hochzeiten der Wissenschaft im Trend. Warum ist das so?

Warum trinken Menschen energetisiertes Wasser? Warum konsultieren sie eine Geistheilerin oder steigen in eine indianische Schwitzhütte? Warum trägt Joachim Löw während der Meisterschaftsspiele meist ein Shambala-Armband mit aktivierenden Hämatitkugeln? Und warum kauft jemand eine Energiepyramide für 1300 Euro und stellt sie in seinem Schlafzimmer auf?

Irrationales Verhalten boomt. Es ist heute kein Widerspruch mehr, als IT-Expertin während der Woche Software zu entwickeln und am Wochenende Engelseminare…

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während der Woche Software zu entwickeln und am Wochenende Engelseminare anzubieten. Viele Menschen können heute empirisches Wissen und esoterische Weisheit verbinden, ohne Bauchschmerzen zu bekommen.

Im Spannungsfeld von Religion und Therapie sind heute zahlreiche Heilsspezialisten tätig, die einen großen Wachstumsmarkt bedienen. Schätzungen zufolge werden allein in Deutschland damit pro Jahr 20 bis 25 Milliarden Euro verdient. Etwa 15 Prozent vom Jahresumsatz des deutschen Buchhandels werden mit esoterischer Lebenshilfe erwirtschaftet. Dabei bleibt es oft nicht bei der harmlosen Freizeitbeschäftigung abendlicher Lektüre. Manche Esoterikgläubige buchen Seminare und Kurse, flüchten sich von Heilsversprechen zu Heilsversprechen, stürzen sich zur Finanzierung in Schulden oder geraten vor bösen Flüchen in Panik. Oder sie meinen sogar, dass ihr neu gefundener Glaube den Arztbesuch gänzlich überflüssig mache.

Ob Aurareiniger, Reikitherapeut, schamanischer Berater, Engeldolmetscherin oder ganzheitlicher Astrologe – spirituelle Einzelanbieter haben den klassischen Sekten den Rang abgelaufen. Leider fehlen verlässliche empirische Daten über ihre Verbreitung. Eine Studie des Bochumer Religionswissenschaftlers Markus Hero hat im Jahr 2008 allein in Nordrhein-Westfalen über 1000 esoterische Lebenshilfeangebote gefunden, die pro Jahr von 90 000 Menschen konsultiert wurden. Religionswissenschaftler sprechen heute von einem „Markt der Sinnanbieter“, auf dem „spirituelle Wanderer“ nach Erleuchtung suchen. Dieser Markt wird Experten zufolge noch weiter expandieren. Nahezu jedes Wochenende findet irgendwo im deutschsprachigen Raum eine Tagung mit vollmundigen Glücksversprechen statt. Esoterik- und Naturheiltage oder die Spirit and Life-Messen werden von Menschen besucht, die alles haben und doch unglücklich sind. Nebenbei bemerkt: Nach wie vor ist die Esoterik eher ein weibliches Phänomen. Obwohl sich auch zunehmend mehr Männer damit beschäftigen, sind ungefähr zwei Drittel der Rezipienten Frauen. Was treibt diese Menschen an?

Die Erklärungsversuche dafür, warum im aufgeklärten 21. Jahrhundert magische Rituale, esoterische Lebenshilfe und sektenähnliche manipulative Gemeinschaften nach wie vor großen Zulauf haben, sind vielfältig. Was lässt sich über die Beweggründe der Sinnsuchenden sagen?

Das Psychotherapeutenjournal, die Mitgliederzeitschrift aller approbierten Psychotherapeuten in Deutschland, hat kürzlich ein Schwerpunktheft zum Thema Religiosität und Spiritualität veröffentlicht, dessen Beiträge starke Resonanz ausgelöst haben. Dort war von den Herausgebern zu lesen: „Das Vertrauen in die Kraft der Vernunft, allein ein gutes Leben zu organisieren, ist gering geworden. Der Mangel an Sinn ist allenthalben spürbar und wird oft beklagt. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt ist unabweisbar; ohne Sinngefüge können wir nicht leben … Ob allerdings eine in der wissenschaftlich aufklärerischen Tradition beheimatete, säkulare Psychotherapie die Aufgabe der Sinnvermittlung mit übernehmen kann oder sollte, ist sehr genau zu prüfen.“

Die esoterische Lebenshilfe füllt das offensichtliche Vakuum an geistig-seelischer Orientierung perfekt aus. Sie verspricht Glück, Lebenserfüllung und einfache Antworten auf komplexe Fragen. Häufig wird das eigene Schicksal an den spirituellen Seelenführer delegiert. Vielen ist die für seelisches Wohlbefinden oft notwendige psychologische Arbeit am Charakter viel zu mühevoll.

Sehnsucht nach Verzauberung

Eine treibende Kraft, die Menschen zu esoterischen Heilsbringern zieht, ist die Sehnsucht nach Verzauberung. Esoterische Deutungen haben auch deshalb einen durchschlagenden Erfolg entwickelt, weil dort die Entzauberung der äußeren Natur durch die Technik durch eine Verzauberung der Innenwelt ersetzt wurde. Mit psychologischen Mitteln lassen sich Fantasien und Vorstellungskräfte leicht beflügeln. Es entsteht eine subjektive Realität, die sich wohltuend vom Alltag abhebt.

Psychologische Studien über die Beweggründe für die Inanspruchnahme esoterischer Lebenshilfe sind rar. Die Münchner Sozialpsychologin Claudia Barth hat die Bedeutung esoterischer Seminare und Gruppen für die Identitätsbildung in ihrer Dissertation beschrieben. Esoterik wird hier als ein typisch postmodernes Phänomen, als subjektive Methode der Lebensbewältigung beschrieben. Nach Barth hilft eine esoterische Lebensdeutung dem Einzelnen dabei, in der unsicheren und schwer einzuschätzenden Moderne zurechtzukommen. Sie fördere das Gefühl der Authentizität, liefere Erklärungen und Entlastungen für Erfahrungen des Scheiterns und verschaffe scheinbare Erleichterung angesichts des Gefühls von Entfremdung und Selbstentfremdung.

Auf Esoterikmessen hat die Forscherin nach den Motiven der Besucherinnen und Besucher gefahndet. Durch ein ausgewogenes Geschlechter- und Ost-West-Verhältnis bilden die Ergebnisse der Autorin ein breites Spektrum an Lebenserfahrungen ab. Sie betont, dass sich alle von ihr interviewten Menschen als „esoterisch“ einschätzten. Als wichtiges Auswahlkriterium für die ausführliche Einzelfallauswertung legte die Autorin psychische Stabilität und eine stabile Weltanschauung fest – sie wollte die Haltung überzeugter Esoteriker kennenlernen.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Studie: Bei seelisch Gesunden kann die Sinnsuche in esoterischen Milieus durchaus zu einer Weiterentwicklung führen, jedoch ist die Gefahr für eine ungesunde Bindung an einen spirituellen Meister groß. Die Studie weist weiter darauf hin, dass bei der prinzipiell endlosen Suche nach einem erleuchteten Bewusstseinszustand mitmenschliche Qualitäten wie soziale Verantwortung oder Gemeinschaftsfähigkeit häufig verlorengehen. Auffällig viele der Befragten hätten die Lebensform „Single“ gewählt, und meistens seien sie finanziell abgesichert. Die Autorin weist nach, dass fast immer das Scheitern oder ein Leiden an bestehenden Normalitäts- und Leistungszwängen der Ausgangspunkt für eine Neuorientierung des Lebenskonzepts war. Für seelisch labile und kranke Menschen kann esoterische Lebenshilfe also gefährlich werden.

Versprechen und Wirkungen esoterischer Praktiken

Eine Studie der Universität München hat die Wirkung esoterischer Praktiken am Beispiel einer theosophischen Loge (White Eagle Lodge) wissenschaftlich untersucht. Dazu nahmen die Teilnehmer eines Heilungsrituals einzeln vor dem Altar der Loge Platz, der von innen heraus beleuchtet war. Die Heilerin trat hinzu, sprach ein Gebet und übertrug „Lichtenergie“ durch ihre Handflächen an die Chakrapunkte der Versuchsperson, um deren innere Energien zu reinigen, zu harmonisieren und zu stärken. Die Forscherinnen, eine Medizinerin und eine Religionswissenschaftlerin, führen die Wirksamkeit der zehnminütigen Behandlung auf die Verbindung von Ritual und Körperkontakt, die Empathie der Heilerin sowie die Erwartung der Testperson zurück, die sich zu einem deutlichen Placeboeffekt addiert hätten. Besonders wirksam erwies sich das Heilritual bei Teilnehmern, die mit dem monistischen Weltbild der Loge – alle Materie ist mit geistiger Energie beseelt – übereinstimmten.

Während fachliche Beratung und Psychotherapie sich als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen, die Autonomie des Patienten stärken und sich selbst möglichst bald überflüssig machen möchten, stellen sich erleuchtete Meister oder „hellsichtige“ Medien durch ihre Einzigartigkeit als unverzichtbar dar. Sie behaupten, ihre menschlichen Schwächen und Fehler hinter sich gelassen zu haben und die Wirklichkeit umfassend verstehen und erklären zu können. An den riesenhaften Erwartungen erleuchtungssüchtiger Anhängerinnen und Anhänger und den narzisstischen Versuchungen der Gururolle sind schon viele religiöse und spirituelle Meister gescheitert.

Dem Heiler wird in allen spirituellen Glaubenssystemen bedingungslos vertraut. Er gilt als Mittler der höheren Wirklichkeit, aus der er spirituelle Heilkräfte verfügbar machen kann – absolute Hingabe vorausgesetzt. Der Heiler setzt in der Regel bestimmte Rituale seiner Tradition ein, um besondere Wirkungen zu erzielen. Um das therapeutische Arbeitsbündnis zu stärken, fordern manche Lehrer besondere Vertrauensbeweise, die unter dem Stichwort „verrückte Weisheit“ von sich reden gemacht haben. Zutreffend beschreibt der Münchener Psychiater Werner Huth: „Die Macht des charismatischen Führers besteht zuallererst darin, dass er für den Geführten – wie eine ‚eierlegende Wollmilchsau‘ – die unterschiedlichsten Aspekte in sich vereint. Vor allem muss seine Person … in aller Reinheit erstrahlen. So wird er zur vollkommenen Personifikation vor allem der Verlässlichkeit, so wie es die idealisierte Elternfigur für das Kleinkind war.“ Zu einem ganz ähnlichen Fazit kommt sein indischer Kollege Sudhir Kakar: „Wesentlicher psychotherapeutischer Faktor bei der Heilung durch die Gurus ist die emotionale Beziehung zum Patienten … In der Identifizierung mit dem Guru nimmt der Patient idealisierte Bilder in sich hinein, die er als echte und wertvolle Ergänzungen seiner eigenen Persönlichkeit empfindet.“ Die psychologischen Mechanismen der Idealisierung und Projektion greifen also in spirituellen Gruppen besonders gut. Es ist eine echte Herausforderung für jeden beraterisch, seelsorglich und psychotherapeutisch Tätigen, professionell mit den teilweise unbewussten Heils- und Erlösungserwartungen der Ratsuchenden umzugehen und nicht der schmeichelnden Faszination einer grandiosen Idealisierung durch den Ratsuchenden zu erliegen.

Die Sehnsucht nach einer Einbettung der individuellen Lebensgeschichte in einen „höheren“ Sinnzusammenhang macht es esoterischen Behandlern leicht, spekulative Deutungen vorzunehmen. Leider wird immer häufiger berichtet, dass sich auch fachlich anerkannte Psychotherapeuten esoterischer Erklärungsmodelle bedienen und sie in ihre Behandlungen einbeziehen. Aufgrund von zahlreichen Patientenbeschwerden hat im Jahr 2014 das Gesundheitsministerium in Österreich alle esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden in der Psychotherapie als Verstoß gegen die Berufsethik bewertet und sie deshalb explizit aus Behandlungen ausgeschlossen. Vor kurzem hat auch der größte deutsche Fachverband der Psychiater (DGPPN) ein Positionspapier zu diesem Thema verabschiedet, in dem er religiöse oder spirituelle Interventionen in der Behandlung ablehnt.

Wenn diagnostische Schlüsse aus esoterischen Systemen der Astrologie, der Chakrenlehre oder dem Auralesen gezogen werden, mag das zwar plausibel klingen und subjektiv stimmig wirken, hat aber mit fachlicher Psychotherapie nichts zu tun. Andere esoterische Methoden arbeiten mit Vorstellungen von Karma, Reinkarnation, von geistigen Wesenheiten in der jenseitigen Welt, mit denen man durch Rückführungen Kontakt aufnehmen könne. Bei einem solchen Vorgehen werden jedoch reale Konfliktsituationen in den Bereich des Fiktiven verschoben. Es werden hypothetische Kausalitäten aufgestellt, die nicht überprüfbar sind und mit der realen Alltagsbewältigung nichts zu tun haben.

Die ideologische Vereinnahmung der Psychologie

Doch Menschen suchen nun einmal nach Sinn und Bedeutung. Sie wünschen sich ein weltanschauliches Orientierungssystem, gerade angesichts des Unberechenbaren, Tragischen und Absurden der menschlichen Existenz. Psychologisch stößt man bei der Bearbeitung von Sinnfragen allerdings schnell an Grenzen, weil deren Beantwortung von philosophischen Grundannahmen und subjektiven Werten abhängt. Wissenschaftlich können die drei existenziellen Grundfragen nach Sinn (wozu?), Schuld (warum?) und Tod (wohin?) nicht hinreichend beantwortet werden, sondern nur im Rückgriff auf religiöse oder spirituelle Überzeugungen und Werte. Eine Psychologie, die ihre Voraussetzungen und Werte nicht reflektiert und offenlegt, steht in der Gefahr, ideologisch vereinnahmt zu werden. Buddhistische, esoterische oder christliche Psychologie kann nicht fachlich überzeugen, weil sie keine wissenschaftlich überprüfbare Heilkunde bietet, sondern ihre Heilsversprechen weltanschaulich begründet. Deshalb müssen die Grundannahmen jedes psychologischen Entwurfes genau angeschaut werden. Ob wissenschaftliches oder weltanschauliches Modell: Jede Theorie gründet auf Voraussetzungen und transportiert Werte, denen man zustimmen oder die man ablehnen kann.

Die an der renommierten New Yorker Columbia-Universität tätige Psychotherapeutin Lisa Miller hat beispielsweise kürzlich den Entwurf einer „spirituellen Psychologie“ vorgestellt. Seit zehn Jahren bietet sie an ihrer Fakultät den fünfteiligen Trainingskurs „Spirituelle Wahrnehmung“ für angehende Psychotherapeuten an, um gemeinsam Spiritualität experimentell zu erkunden. „Spirituelle Wahrnehmung meint die Abstimmung mit einem liebenden und wegweisenden Universum, das uns umgibt, in uns lebt und durch uns wirkt“, so beginnt ein programmatischer Übersichtsartikel. Miller berichtet, dass in der weltanschaulich bunten Studentenschaft aus allen Ländern, Kulturen und Religionen gegenseitiger Respekt die Voraussetzung in ihren Kursen sei, um Spiritualität direkt zu erfahren. Ihre Grundüberzeugung lautet: „Das Bewusstsein existiert noch in anderen als materiellen Zuständen. Dort findet ein zielgerichteter Prozess statt, der von einer kosmischen Energiequelle gesteuert wird.“ Verstehen könne man das jedoch nur aus einer „postmateriellen psychologischen Sicht“ heraus, die zu einer vertieften Wahrnehmung führen würde: „Das Universum ist lebendig, heilig und wegweisend.“ Spirituelle Psychotherapie ermögliche spirituelle Wahrnehmung: „Wir schaffen einen liebenden Raum, der für geheiligte Arbeit bereitsteht, die unsere Erwartungen und Fantasien übersteigt. Spirituelle Präsenz, die wir wahrnehmen können und schätzen, bewirkt eine tiefgreifende Veränderung.“ Diese Zitate machen deutlich, wie auf der Grundlage eines esoterischen Welt- und Menschenbildes spekulative Schlüsse für therapeutische Haltungen und Verfahren gezogen werden.

Bei aller Wertschätzung für die spirituelle Dimension: Problematisch ist die Tatsache, dass die religionspsychologischen Einzelbefunde dieses Ansatzes in eine esoterische Wirklichkeitsdeutung eingebettet werden, die sich von der empirischen Psychologie verabschiedet hat. Diese wird als „materialistische Perspektive“ abqualifiziert. Spirituelle Psychologie fuße nämlich auf einem „postmaterialistischen Wirklichkeitsmodell“. Begründet wird das mit transpersonaler Psychologie und einer höchst spekulativen Quantenphysik, die bald technische Hilfsmittel bereitstellen könne, das Bewusstsein zu verändern und dann mit der größeren, spirituellen Wirklichkeit durch eine Art „Seelentelefon“ zu kommunizieren.

Um nicht missverstanden zu werden: Die spirituelle Dimension ist ein wichtiger Bereich der Persönlichkeit, der mehr psychologisches Interesse verdient – aber bitte differenziert! Buddhistische Achtsamkeitsmeditation, anthroposophische Heilkunde oder schamanische Begegnungen mit dem Krafttier machen dann Sinn, wenn sich der Anwender bewusst und informiert darauf einlassen möchte. Wird die energetische Chakrenreinigung, die Rückführungssitzung oder das Astrocoaching als neuestes psychologisches Wissen angepriesen und werden ihre weltanschaulichen Grundlagen nicht offengelegt, findet eine unprofessionelle Vereinnahmung statt, die Menschen in die Irre führt.

Dr. Michael Utsch ist Diplompsychologe und Psychotherapeut. Nach verschiedenen klinischen Tätigkeiten arbeitet er als wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Nebenberuflich unterrichtet er Religionspsychologie an einer evangelischen Hochschule in Marburg (www.studium-religion-psychotherapie.de). Bei der psychiatrischen Fachgesellschaft DGPPN leitet er das Referat „Religiosität und Spiritualität“.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2017: Schon in Ordnung