Margit kommt wegen eines Burnouts in Therapie, ihre Hausärztin hat eine Depression diagnostiziert. Nach einem halben Jahr und 25 Stunden Therapie sieht Margit sich noch nicht in der Lage, wieder zur Arbeit zu gehen, und bittet ihren Therapeuten um eine Verlängerung. Hendrik ist nach einem Unfall querschnittsgelähmt und leidet seither unter Depressionen. In der Therapie findet er schnell neuen Mut und kann nach ein paar Sitzungen wieder am Leben teilnehmen. Hannah setzt mit einer Rasierklinge hauchdünne…
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teilnehmen. Hannah setzt mit einer Rasierklinge hauchdünne Schnitte an ihren Unterarmen. Ihr Therapeut vermutet, sie könnte als Kind sexuell missbraucht worden sein, und beantragt eine Langzeittherapie. Drei Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemen, die unterschiedlich schnell und stark von Psychotherapie profitieren. Wie viel Psychotherapie ist genug, und woran lässt sich das erkennen?
Der Erfolg einer Psychotherapie zeigt sich zumeist schon nach den ersten drei Sitzungen, heißt es im Handbuch der Psychotherapie und Verhaltensmodifikation der amerikanischen Psychologen und Psychotherapieforscher Michael L. Lambert, Allen Eric Bergin und Sol L. Garfield. Kenner nennen das Werk auch die „Bibel der Psychotherapieforschung“; ein dicker, zwei Kilo schwerer Wälzer, der alle paar Jahre auf den aktuellen Stand der Wissenschaft gebracht wird. Demnach zeigen sich bei 80 Prozent der am Ende erfolgreich Therapierten schon binnen 150 Minuten entscheidende Verbesserungen. Das stellten die Wissenschaftler mit Blick auf eine Vielzahl von Studien fest, in denen der Zeitpunkt der Veränderung in einer Psychotherapie untersucht wurde.
Bisher waren Forscher und Praktiker stets davon ausgegangen, dass Psychotherapien meist lang andauernde Prozesse sind und die Wirkung nicht gleich am Anfang eintritt. Diese Annahme wurde beispielsweise gestützt durch Untersuchungen, die die Psychiaterin Cornelia Albani und ihre Kollegen 2010 veröffentlichten. In breitangelegten Befragungen zu eigentlich nichtpsychologischen Themen hatten sie Tausenden Menschen eine Nebenfrage gestellt: Waren Sie auch mal in Psychotherapie? Und, falls ja, wie lange? Die Antwort lautete bei denen, die ihre Therapie schon abgeschlossen hatten: im Durchschnitt 48 Stunden – also viel länger als in Studien, in denen nach dem Zeitpunkt von Verbesserungen gefragt wurde, die für Klienten bedeutsam waren.
Vielleicht kam das Ergebnis der Studie von Albani auch dadurch zustande, dass diejenigen, die nur kurz beim Therapeuten waren, sich kaum daran erinnerten oder sich gar nicht „therapiert“ gefühlt hatten. Neuere Zahlen zeigen zumindest, dass Psychotherapien heutzutage sehr viel kürzer sind als bei den von Albani und ihren Kollegen Befragten. Die Techniker-Krankenkasse hat 2014 nachgerechnet, wie viel Psychotherapie sie wirklich in diesem Jahr bezahlt hat: Demnach enden 50 Prozent aller Therapien bereits vor der zehnten Stunde, nur 25 Prozent der Therapien dauern länger als 17 Stunden. Der Mutterverband aller Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, hat inzwischen eigene Daten vorgelegt, die ähnlich wie die der Techniker-Kasse ausfallen. Wenig ist für viele anscheinend gut genug. Darauf hat jetzt auch der Gesetzgeber reagiert. Er fordert seit Anfang April 2017 alle Psychotherapeuten in Deutschland auf, bereits nach der zwölften Stunde neu zu entscheiden, ob die laufende Therapie wirklich noch notwendig ist. Und für weitere Stunden einen neuen Antrag zu stellen.
Die Verhaltenstherapie ist der Platzhirsch
Die Zahlen der Krankenkassen zeigen auch: Offenbar soll es effizient zugehen in unseren Praxen. Die von Sigmund Freud begründete klassische Psychoanalyse, eines der bekanntesten Verfahren, wird in Deutschland nur noch von einem kleinen Teil aller Psychotherapeuten angeboten. Dreimal die Woche über mehrere Jahre kann so eine Behandlung dauern. Eine abgeschlossene Analyse kostet im Durchschnitt um die 7000 Euro. Rund 1500 Euro fallen hingegen für eine kurze Verhaltenstherapie an, etwa 3500 Euro für das lange Format mit bis zu 45 Stunden. Da wundert es nicht, dass der Platzhirsch unter den in Deutschland angebotenen Therapieverfahren die Verhaltenstherapie ist. Die meisten niedergelassenen Psychotherapeuten praktizieren sie. Und sie lassen sich in Deutschland schon vergleichsweise viel Zeit. In der Regel beantragen die Verhaltenstherapeuten zunächst 25 Stunden für jeden Klienten, dies ist der kürzeste Zeitrahmen, den kassenfinanzierte Therapeuten vorsehen. Wesentlich schneller sind die lösungsorientierten Verfahren. Am Kurzzeittherapiezentrum in Milwaukee – der Wiege dieses Ansatzes – arbeitet man im Schnitt nur 2,9 Stunden mit jedem Klienten. Das passt zu den raschen Veränderungen binnen drei Stunden, von denen Lambert, Bergin und Garfield berichten: Schon in der ersten Phase einer Therapie kann sich viel verändern.
In Milwaukee glaubt man, dass bestimmte Gesprächstechniken die Patienten dazu anregen, schnell eigene Lösungen für das Problem zu finden, dessentwegen sie die Therapie begonnen haben. Ein Beispiel ist die Wunderfrage: „Angenommen, während Sie schlafen, geschieht ein Wunder, und das Problem, das Sie schon seit längerer Zeit belastet, ist gelöst. Was wird Ihrer Meinung nach morgen früh das erste kleine Anzeichen sein, welches Sie darauf hinweist, dass sich etwas verändert hat?“ Ähnlich sehen das auch die Autoren der Psychotherapiebibel: Die schnellen Veränderungen müssen etwas mit den Menschen selbst zu tun haben, glauben sie. Zumindest gelte das für eine große Untergruppe aller Patienten. Diese seien, so die Forscher wörtlich, äußerst „findig“. Ermutigt durch die Gespräche in der Therapie, beschreiten sie bald eigene Wege zur Heilung. Und es gibt noch weitere Erklärungsansätze für die schnellen Erfolge. Sie haben mit der Wichtigkeit von gutem zwischenmenschlichem Kontakt zum Psychotherapeuten zu tun.
Diese therapeutische Beziehung trägt mit einem Anteil von 30 Prozent zum Endergebnis bei, doppelt so viel wie therapeutische Techniken. Dieses Ergebnis ist durch Hunderte von Studien inzwischen gut gesichert. Bestätigung für die Bedeutung der psychotherapeutischen Beziehung kommt noch von anderer Seite. Der Biologe, Philosoph und Hirnforscher Gerhard Roth hält auf Basis von bildgebenden Verfahren vor allem die Zuwendung durch einen feinfühligen und vertrauenserweckenden Therapeuten für die raschen Anfangserfolge in der Therapie verantwortlich. Weil dadurch das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet werde, gehe es Patienten so schnell so viel besser. Der Zugang zu verschütteten Ressourcen werde wieder frei. Seien jedoch, wie bei Persönlichkeitsstörungen und komplexen Störungen, tieferliegende Strukturen beteiligt, müsse ein mühseliger Prozess der Nachreifung des Gehirns in Gang gesetzt werden, und es komme in der Regel zu einer zweiten Therapiephase, die sehr viel mehr Zeit erfordere.
Lange Therapien sind offenbar nachhaltiger
Das unterstützt, was der Professor für Psychotherapieforschung Falk Leichsenring von der Universität Gießen anhand von Metaanalysen gefunden hat. Dabei handelt es sich um sehr viele verschiedene Studien zu Therapien, die bis zu 50 Stunden gedauert haben. Leichsenring kam zu dem Fazit: Nicht nur weisen Patienten nach diesen langen Therapien am Ende weniger Symptome auf. Sie zeigen auch weniger Probleme im zwischenmenschlichen Bereich und in ihrem Verhalten. Leichsenring beklagt deshalb eine Marginalisierung der psychodynamischen Verfahren, die durch die Forschungslage nicht mehr zu rechtfertigen sei. Zu Unrecht habe man jahrelang geglaubt, sie seien vor allem eines: länger. In Wirklichkeit seien sie – zumindest in bestimmten Fällen – genauso gut oder auch besser.
„Wie lang eine Therapie sein muss, das hängt vom Problem ab“, erklärt Leichsenring. „Da ist es wichtig, ganz genau hinzusehen. Es gibt Dosis-Wirkungs-Kurven. Wissenschaftler haben große Stichproben untersucht und geprüft, wie viel sich nach wie vielen Sitzungen verbessert. Sie haben unterschieden nach akuten Störungen, chronischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Bei akuten Problemen können Kurzzeittherapien reichen. Aber eine Borderlinestörung können Sie nicht in 25 Sitzungen behandeln. Dafür benötigen Sie mindestens ein Jahr, wenn nicht sogar zwei.“ Leichte Störungen lassen sich schneller behandeln, schwerere, komplexere Störungen benötigen mehr Zeit, lautet das Fazit des Psychotherapieforschers.
Möglicherweise wurde die Wirksamkeit der länger dauernden Therapien bisher übersehen, weil viele Forschungstherapien kurz sind. Häufig umfassen diese nur um die 15 Stunden und eine bestimmte Anzahl therapeutischer Interventionen. Anschließend wird geprüft, wie erfolgreich der Einsatz der Techniken war. Deshalb gibt es viel Evidenz zu kurzen Verfahren und noch relativ wenig zu längeren Therapien.
Um diese Lücke zu schließen, haben die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber und ihre Kollegen die sogenannte LAC-Studie zur Langzeittherapie bei chronischen Depressionen initiiert, die zurzeit noch läuft. Ein Novum der Studie ist, dass lange psychoanalytische Behandlungen mit langen Verhaltenstherapien mit bis zu 80 Sitzungen verglichen werden. Die Autoren gehen davon aus, dass sich durch beide Therapieverfahren die Anschlusskosten verringern, wie sie durch Arztbesuche, Arbeitsunfähigkeitszeiten und weitere Therapien verursacht werden. Ferner vermuten sie, dass die Verhaltenstherapie relativ schnell Besserung bringt, die Psychoanalyse dagegen längere Zeit braucht, um deutliche Verbesserungen zu erzielen, die dafür aber länger anhalten. Außerdem wollen die Autoren herausfinden, ob es einen Unterschied macht, wenn die Klienten sich die Therapieschule selbst aussuchen dürfen. Erste Ergebnisse werden für 2019 erwartet.
Inzwischen sehen einige schon das Wiederaufflammen eines alten Streits: die lange Psychoanalyse gegen die kurze Verhaltenstherapie. Die englische Tageszeitung Guardian, die ihren Lesern von den neuesten Forschungsergebnissen berichtete, sprach gar gleich von Krieg: Therapy wars, der Kampf der Therapieschulen sei wieder da. Doch das sieht Falk Leichsenring völlig anders. „Das ist ein Gegensatz, den ich nicht vertrete“, sagt er. „Auch ein Verhaltenstherapeut würde eine Borderlinestörung mit Langzeittherapie behandeln.“ Wie entscheidet man sich dann für eine der beiden von den Krankenkassen in Deutschland finanzierten Verfahren? „Die meisten können von beidem profitieren“, führt Leichsenring aus, „aber es gibt Vorlieben. Manchen Patienten liegt es mehr, konkret etwas zu tun, zu handeln. Diese Menschen würden eher auf Verhaltenstherapie ansprechen. Patienten, die sich fragen, warum habe ich diese komische Angst, warum überfällt sie mich, können beim selben Symptom eine psychodynamische Therapie machen. Menschen haben ja auch unterschiedliche Hobbys.“
Der Psychotherapeut Andreas Veith, Leiter eines Ausbildungsinstituts für Verhaltenstherapie in Dortmund, bestätigt diese Sichtweise. „Nachhaltigkeit sollte man wirklich in Betracht ziehen, wenn man wie Leichsenring Langzeit schon als Therapie mit 40 oder 50 Stunden definiert.“ Auch die Therapien von Veith dauern oft länger als 25 Stunden, berichtet er und betont: „Wenn der Patient nur so lange behandelt wird, bis die schlimmsten Symptome verschwinden, dann kehren diese eventuell wieder zurück oder tauchen an anderer Stelle erneut auf. Weil die grundlegenden Bedingungen der Symptomatik nicht verändert wurden. Und dann denken die Patienten: Selbst die Therapie konnte mir nicht helfen. Und das macht sie noch hoffnungsloser.“
Wie viel Psychotherapie ist genug? Die Psychotherapieforscherin Ulrike Willutzki, Professorin an der Universität Witten/Herdecke, meint: „Ein guter Therapeut ist in der Lage, sich auf die konkreten Präferenzen des Patienten einzustellen, unabhängig davon, welche Therapieform er gelernt hat.“ Willutzki ist – genauso wie der Psychodynamiker Leichsenring – Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie, einem Gremium, das mit herausragenden Wissenschaftlern besetzt ist. Wenn es nicht auf das Verfahren ankommt, wie viel Psychotherapie ist dann genug? „Was für eine Frage“, antwortet Willutzki, „aus der Forschung wissen wir: Wenn nur eine kurze Therapie angeboten wird, sind die Klienten zwei Jahre nach Therapieende genauso zufrieden wie Klienten, deren Therapiedauer offen war. Wenn Therapeut und Klient das frei vereinbaren können, dauert die Therapie meist auch etwas länger. Es ist aber nicht unbedingt besser für den Klienten.“
Das sieht Falk Leichsenring anders. Er hält es für sinnvoller, wenn Therapeut und Klient miteinander aushandeln, wann die Therapie zu Ende sein soll: „Beide entscheiden das. Es ist etwas, das beide miteinander besprechen und aushandeln. Man gibt sich noch eine gewisse Zeit, das zu überprüfen, und dann sagt man okay, wir haben beide den Eindruck, dass das jetzt gut und stabil ist, und dann vereinbaren beide, die Therapie abzuschließen.“ Und Hirnforscher Roth plädiert dafür, das Problem mithilfe objektiver Messinstrumente zu lösen: „Man müsste sich auf standardisierte Wirkungstests einigen, die dann von unabhängigen Gutachtern umgesetzt werden“, sagt er.
Der US-amerikanische Psychotherapeut Gary Greenberg bringt in seinem Buch The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry wieder die Ökonomie ins Spiel: „Die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit ist nicht biologisch. Sie verläuft auf dem Gebiet der Ökonomie“, schreibt er. Ist also immer genau so viel Psychotherapie genug, wie gerade Ressourcen da sind? „Dafür sprechen ja auch die amerikanischen Verhältnisse“, bestätigt die Therapieforscherin Willutzki. „Wenn dort im Rahmen des managed Care nur acht Stunden zur Verfügung stehen, dann müssen acht Stunden reichen.“
Mehrere zu kurze Therapien können teurer sein als eine lange
Willutzki nennt noch weitere Gründe, warum Therapien kurz sein sollten: „Persönlich sehe ich eine zeitliche Begrenzung als Wert an, weil mir an der Selbständigkeit von Patienten liegt. Ich glaube, dass man sich zu sehr daran gewöhnen kann, innerhalb einer asymmetrischen und einseitigen Beziehung jemanden zur Verfügung zu haben, um zu reflektieren. Und da leidet die Reziprozität und damit vielleicht auch das Gebende, das auch zu sozialen Beziehungen gehört.“ Gerhard Roth wiederum argumentiert für längere Therapien, weil diese unter Umständen effizienter seien: Durch zu kurze Therapien könnten die Kosten der therapeutischen Versorgung sogar steigen, meint er: „Auf lange Sicht sind sich immer wiederholende Kurzzeittherapien teurer als eine längerfristige Therapie, die dann möglicherweise, aber nicht zwingend, eine andauernde Wirkung zeigt.“
In dieser Abwägung des Für und Wider lang andauernder therapeutischer Begleitung stellt sich auch die Frage nach einem realistischen Ziel von Psychotherapie – in einer Kultur, die so viele Möglichkeiten bietet, an denen man scheitern kann. Der Schriftsteller und Philosoph Egon Friedell schrieb: „Kultur ist Reichtum an Problemen.“ Mithilfe von Psychotherapie völlig frei von Problemen zu werden wird also nicht möglich sein. Und wann Patienten wie Margit, Hendrik oder Hannah die richtige Dosis Psychotherapie bekommen, lässt sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen. Bei der Antwort auf diese Frage geht es um die Auswahl von Therapieverfahren, die Einschätzung der Größe des Leidens, die Bestimmung des Therapieerfolgs, die Ethik therapeutischen Handelns, die damit verbundenen Kosten und vieles mehr. Einfache Lösungen gibt es nicht. Für Ulrike Willutzki ist Psychotherapie auf jeden Fall ein Aufwand, der sich lohnt: „Ich glaube, dass sich das für die Gesellschaft auszahlt, wenn Menschen durch Psychotherapie zufriedener werden. Weil sie dann produktiver sind. Weil sie mehr ausprobieren. Weil sie andere Menschen mehr fördern. Weil ihre soziale Verantwortung wächst. Psychische Gesundheit ist eine Ressource für die Gesellschaft. Ich glaube, dass zufriedene Menschen eine bessere Welt machen als unzufriedene Menschen.“
„Jede Therapieschule stellt ihre eigenen Fragen“
Der amerikanische Sozialpsychologe Ken Gergen hat sich lange mit der Bewertung der Ergebnisse von Psychotherapie beschäftigt und ist skeptisch, ob sich die Effektivität von Langzeittherapie allein durch empirische Forschung feststellen lässt. „Welche Therapieschule hätte sich je selbst untersucht und dabei herausgefunden, dass sie nicht hilfreich ist?“, fragt er und gibt auch gleich die Antwort: „Keine.“ Was sich nach einer gewagten Einschätzung anhört, lässt sich statistisch belegen. Die Statistiker nennen das den sogenannten Treue-Effekt: Wenn man berücksichtigt, welcher Therapieschule die Forscher selbst nahestehen, erklärt das zu 100 Prozent, was sie in den Daten finden. Bezieht man die „Treue“ in die Analyse der Behandlungsunterschiede mit ein, reduziert das alle je gemessenen Unterschiede zwischen den Verfahren.
Gergen hat dafür eine Erklärung: „Jede Therapieschule stellt ihre eigenen Fragen. Ein Anhänger der dialogischen Therapie wird keine Fragen zu Angst oder Verdrängung stellen, so wie das ein Psychoanalytiker tut. Verhaltenstherapeuten interessieren sich vielleicht einfach für die Rate, mit der sich Verhalten verändert.“ Also achten auch die Forscher vorwiegend auf die Art von Veränderung, die sie für besonders wertvoll halten, ist Gergen überzeugt. Er plädiert dafür, die üblichen Erfolgs- und Veränderungsmaße nicht dafür zu nutzen, ein Endergebnis festzustellen.
Stattdessen sollten die Fragebögen, die viele Patienten zur Einschätzung ihres Fortschritts ausfüllen, als Ausgangspunkt für weitere Gespräche dienen: „Man sollte diese Fragebögen zum Gesprächsthema machen, diskutieren, welche Wichtigkeit sie für den Patienten, aber auch etwa für seine Angehörigen haben, und fragen, welche Art von Veränderungen die Beteiligten wollen.“
Thorsten Padberg
Literatur
Lambert, M.J., Garfield, S.L., Bergin, A.E.: Handbuch der Psychotherapie und Verhaltensmodifikation, Dgvt Verlag, 2013
Albani C. u. a.: Ambulante Psychotherapie in Deutschland aus Sicht der Patienten. Teil 1: Versorgungssituation. Psychotherapeut, 55, 2010.
Multmeier, J.: Ambulante psychotherapeutische Versorgung in Deutschland – eine Kohortenbetrachtung der KBV. Projekt Psychotherapie Meinung – Wissen – Nachrichten, 2014.
Roth, G.: Warum nachhaltige therapeutische Veränderungen im Gehirn Zeit brauchen. Psychotherapeut, 61, 2016.
Rabung, S., Leichsenring, F.: Evidenz für psychodynamische Langzeittherapie. Überblick über vorliegende Reviews.Psychotherapeut, 61, 2016
Greenberg, G.: The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of American Psychiatry. New York: blue rider press, 2013
S. Miller, B. Wampold, K., Varhely: Direct comparisons of treatment modalities for youth disorders: a meta-analysis. Psychotherapy Research;18, 1, 2008
Z. E. Imel, B. Wampold, S. Miller, R. Fleming: Distinctions without a difference: direct comparisons of psychotherapies for alcohol use disorders. Psychology of Addictive Behaviors.; 22, 4, 2008
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