Mensch wacht, Wagen macht

So mancher Autofahrer träumt vom autonomen Fahren. Doch bis dahin sind wir in hochautomatisierten Fahrzeugen – mit psychologischen Problemen.

Der Mann geht voll in die Eisen. Gerade noch rechtzeitig kommt sein ganz spezieller Wagen zum Stehen. „Oh, tut mir leid! Stimmt! Rote Ampeln kann er ja noch gar nicht erkennen“, bricht es aus ihm heraus. Das Team um Marc Kuhn von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart zeichnet jeden Kommentar seiner Testfahrer auf und atmet tief durch: Alles gut gegangen! Der Testfahrer saß in einem jener Gefährte, die wie ein Versprechen für eine neue automobile Ära wirken: das Zeitalter des autonomen…

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Ära wirken: das Zeitalter des autonomen Fahrens.

Fällt der Begriff, bekommen vielleicht auch Sie eine spontane Vision. Sie gehen raus vor die Tür, steigen in Ihr Auto, vorne oder hinten, programmieren im Navi, wohin Sie fahren wollen. Und drücken auf Start. Das Fahrzeug springt an und fährt los, ohne dass Sie bis zum Erreichen Ihres Ziels irgendetwas tun müssen, das mit Autofahren zu tun hat. Stattdessen machen Sie es sich bequem, lesen, spielen mit dem Smartphone, erledigen Arbeiten am Computer, schauen sich die Landschaft an. Oder Sie schlafen. Das nennt man autonomes Fahren. Der bestens programmierte Chauffeur macht immer und überall alles richtig. Was für ein Leben: Bahn fahren auf der Straße! Nur ohne lästige Leute im Abteil, die stören könnten.

Konflikt zwischen Mensch und Technik

Etliche Unternehmen – deutsche Autobauer wie Daimler und Volkswagen – arbeiten an der futuristischen Mobilität und werben kräftig. Die innovationsgetriebenen Heißsporne der kalifornischen Firma Tesla ohnehin. „Das autonome Fahren wird kommen“, prophezeit Kuhn. Aber bis dahin gehen, rein technisch gesehen, nach Expertenschätzungen noch 8 bis 15 Jahre ins Land. Möglicherweise sogar mehr. „So lange sehe ich jede Menge psychologische Probleme“, sagt Bernhard Schlag, Verkehrspsychologe an der Technischen Universität Dresden. Er fürchtet, „dass der Faktor Mensch und seine Psychologie in der Diskussion untergehen“. Herausforderung Nummer eins: die Interaktion zwischen Mensch und Technik konfliktfrei zu gestalten. Unangemessenes Vertrauen, reduziertes Situationsbewusstsein – das sind die Punkte, die es stärker als jetzt zu erforschen gilt. Bernhard Schlag fordert „ein passendes mentales Modell“ für die wahrscheinlichen Entwicklungen der kommenden Jahre hin zu einem immer höher automatisierten, aber eben nicht autonomen Gefährt. Ohne ein solches Modell bleibt auch das zweite Hauptmotiv für ein immer stärker automatisiertes Fahren nur ein zweifelhaftes Versprechen: mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Vor diesem Hintergrund bestückt die Automobilindustrie ihre neuen Modelle bereits jetzt mit sogenannten teilautonomen Fahrfunktionen, die schrittweise im vollautomatischen Fahren münden sollen. Diese „Assistenzsysteme“ kontrollieren das Fahrzeug in bestimmten Situationen. Up to date demnächst: der Geschwindigkeitspilot, der das Tempo automatisch anpasst, abhängig davon, welche Schilder die Sensoren des Wagens erkennen. Oder der Spurhalteassistent, der die Steuerung des Autos übernimmt, solange er ein vorausfahrendes Fahrzeug oder Fahrbahnmarkierungen ausmacht.

Zwei mit solchen teilautonomen Funktionen ausgerüstete Autos hat ein Team um Marc Kuhn jüngst von 200 Probanden zwischen 19 und 81 Jahren auf Straßen in und um Stuttgart testen lassen. Bevor es an die einstündige Praxis ging, wollten die Forscher um den Betriebswirtschaftler einiges wissen. So kam heraus: Die meisten Teilnehmer betrachteten das automatisierte Fahren vorab als positiv und konnten sich vorstellen, entsprechende Funktionen zu nutzen. Sofern es nicht mehr Geld kostet. Ein Drittel der Teilnehmer gab sich gar euphorisch ob der anstehenden Spazierfahrt, ein anderes Drittel allerdings sehr skeptisch. Vor allem aber erhofften sich viele, beim Fahren mehr entspannen zu können.

Der Spurhalteassistent röhrt los

„Leider wurden über zwei Drittel der Probanden durch die Testfahrt enttäuscht“, schildert Kuhn die Studienerfahrungen. Das lag vor allem an ihren übergroßen Erwartungen. Sobald beispielsweise der Spurhalteassistent keine Straßenmarkierungen mehr identifizieren kann, etwa an Kreuzungen oder Baustellen, funktioniert er nicht mehr. Dass er rote Ampeln nicht registriert, hatten zunächst etliche Fahrer verdrängt. In diesen Momenten der Alarmstufe eins röhrt er los – da muss der Mensch „höllisch schnell achtgeben“ (Kuhn) und binnen einer Sekunde die Kontrolle übernehmen.

Infolgedessen lautet die klare derzeitige Vorgabe der Hersteller: Selbst wenn das System reibungslos funktioniert, muss der Fahrer jederzeit hochwachsam sein. Sonst knallt es wie 2016, als ein Kalifornier seinem Tesla blindlings vertraute, einen Film beim Fahren schaute und das mit dem Tod büßte. Im Stuttgarter Versuch gab sich ein Drittel der Probanden dem System vollkommen hin. Es waren, wie ein Persönlichkeitstest ermittelte, extravertierte Charaktere. Sie nahmen, erlaubterweise, vertrauensselig die Hände vom Steuer und die Füße von allen Pedalen und griffen fast zum Smartphone. „Supergenial, das ist echt die Zukunft“, fand ein Proband ganz beglückt. Vor allem in Stausituationen kam die Technik selbst bei ängstlichen Probanden bestens an und entlastete vom nervigen Kuppeln und Schalten und Bremsen: „Man kann total relaxen.“

Viele andere „klammerten sich während der gesamten Fahrt krampfhaft ans Lenkrad“, sagt Kuhn. Es handelte sich um eher introvertierte Persönlichkeiten. Für sie stellte sich die Spritztour als einzige Katastrophe heraus.

Doch ob fasziniert oder abgestoßen: Die meisten beschwerten sich darüber, immer aufmerksam sein zu müssen: „Warum braucht man dann so eine Technik?“ Nur 28 Prozent der Testfahrer hatten nach dem Erlebnis noch Vertrauen in die Maschine. Zuvor waren es 50 Prozent.

Der Versuch zeichnet damit ein fundamentales Dilemma der kommenden Jahre, wenn die Funktionen wahrscheinlich mehr und mehr Automatisierung erlauben – und man sich auf Landstraßen oder Autobahnen zeitweise anderen Dingen zuwenden darf. „Die Technologie“, davon ist Bernhard Schlag überzeugt, „wird in absehbarer Zeit nicht ohne die Kontrolle des Menschen auskommen.“ Insofern, so der Psychologe weiter, „ist das, was Verkehrsminister Dobrindt in seinem Gesetzentwurf vorschlägt, vorsichtig ausgedrückt, sehr mutig.“

Quadratur des Kreises

Für Schlag ist im Umgang mit automatisierten Systemen vor allem eines wichtig: das korrekte mentale Modell. In einem mentalen Modell speichern wir bestimmte Abläufe und Funktionen unserer Umwelt ab – um sie zu simulieren und optimal vorbereitet zu sein, wenn sie wirklich passieren. Dies tun wir auch, um bestimmte Ereignisse vorherzusehen und uns in jeder Situation bestmöglich zu verhalten.

In gewissem Sinne geht es beim immer weiter automatisierten Fahren der mittleren Zukunft um die Quadratur des Kreises. Einerseits gibt der Mensch in den kommenden Jahren – so er denn will – mehr und mehr Fahrzeugkontrolle an den Computer ab. Er muss motorisch immer weniger tun. Andererseits „hat er aber weiterhin den Hut auf“, sagt Schlag, „und das ist aus psychologischer Sicht entscheidend“.

Böse ausgedrückt wird er zum Kontrollorgan für den Fall der Fälle degradiert. Einerseits muss der Mensch lernen, der Technik zu 99 Prozent zu vertrauen – sonst wäre der gesamte Ansatz des hochautomatisierten Fahrens nutzlos. Andererseits muss er dem System zu einem Prozent misstrauen, um so alert zu sein, dass er im Notfall „der Maschine aus der Patsche helfen kann, um sich selbst zu retten“. Denn auch die Technik bleibt anfällig. So wird der Mensch zum passiven Überwachungsorgan, „und wir wissen, das kann er überhaupt nicht gut“. Er wird müde, verliert die Lust, wird unaufmerksam und nachlässiger. Mit Laisser-faire im Wagen hat das allerdings wenig zu tun. Im Gegenteil: Je schöner die Nebentätigkeit, desto größer diese Übernahmeproblematik.

In brenzliger Lage reagieren wir zu langsam

Doch „in genau dieses mentale Modell drängt man den Menschen beim assistierten Fahren“, sagt Schlag. Es kommt noch dicker: Weil er ja wahrscheinlich nur sehr selten einspringen muss, wird sich seine Reaktionszeit naturgemäß verlangsamen. Ein Team um Joost de Winter von der Universität in Delft (Niederlande) ist dieser Frage im Fahrzeugsimulator nachgegangen. Ergebnis: Es dauert einige Sekunden, bis die Probanden eine brenzlige Lage erkennen können. Je mehr Zeit verfügbar ist, desto besser die Situationseinschätzung. Umgekehrt: Je weniger, desto schlechter fällt die Reaktion aus. Vor allem können die Teilnehmer nur sehr mangelhaft angeben, wie schnell die anderen unterwegs sind.

Schwedische Wissenschaftler und eine Studie der Unfallforschung bestätigten die Erkenntnisse in ähnlichen Studien. Im Schnitt dauerte es sogar 5 bis 15 Sekunden, ehe die Probanden Parameter der aktuellen Verkehrssituation erkannt hatten. 5 Sekunden mehr als beim Fahren nach alter Art.

Das alles ergibt Sinn. Denn im vorgesehenen mentalen Modell sinkt die Erwartung an einen Fehler umso stärker, je sicherer der Assistenzapparat läuft. Wenn aber der Mensch selbst gefordert sein wird, dann gleich extrem: nämlich aus einer Unterforderung heraus in einer plötzlichen Gefahrensituation zum Beispiel bei Tempo 130 oder schneller. „Das geht nicht“, meint der Verkehrspsychologe, und je automatisierter das Fahrzeug wird, desto größer das Problem. Hinzu kommt: Wenn die Technik uns die Aufgaben dauerhaft abnimmt, verlernen wir entsprechende Kompetenzen, womit sich dann die Abhängigkeit von der Technik erhöht. Das geht selbst erfahrenen Piloten so, wie eine Studie gezeigt hat.

So wird also nur umgekehrt ein Schuh daraus, meint Schlag: „Der Mensch bleibt der aktive Chef in seinem Wagen, die Maschine hilft, wenn die Zeit zu reagieren zu kurz wird oder er etwas falsch macht.“ Weil es den Menschen optimal fordere, sei dies das bessere mentale Modell. Jedenfalls solange das System sich nicht selbst aus dem potenziellen Sumpf ziehen kann.

Wenn wir in zunehmend automatisierten Fahrzeugen im Straßenverkehr unterwegs sein werden, steht uns außerdem ein interessantes Feldexperiment bevor: Im Fahrzeug treffen unsere heuristischen Gehirne und die rationalen Algorithmen der Maschine aufeinander. Bemerkt der Automat zum Beispiel ein Schild mit einem Tempolimit von 60, bremst er den Wagen – auf genau 60 Stundenkilometer. Will heißen: Die Maschine verhält sich stets vernünftig, reagiert aber, „jedenfalls auf absehbare Zeit“, so Bernhard Schlag, unflexibel auf überraschende Situationen. Gerade das ist eine Domäne des menschlichen Gehirns. Es fällt in unvorhergesehenen Situationen Entscheidungen nach Daumenregel. Zwar sind sie unscharf, ermöglichen aber flexible und schnelle Reaktionen. „Für den selbst fahrzeugführenden Menschen bedeutet das Anpassungsdruck an die regelkonforme Maschine“, sagt Verkehrspsychologe Bernhard Schlag. Das könnte zu mehr Vernunft auf der Straße führen. Vielleicht aber auch nicht. Denn die überkorrekte Maschine könnten Menschen auch als Hindernis empfinden – und verärgert bis aggressiv reagieren. Und waghalsige Überholmanöver auslösen.

Ganz so pessimistisch wie Schlag ist Martin Baumann nicht. Gleichwohl haben er und seine Kollegen von der Universität Ulm das grundlegende Problem gleichermaßen erkannt. Sie wollen es technisch angehen – und betrachten es psychologisch etwas anders. „Wir sehen Mensch und Maschine als Partner, die sich ergänzen und sich helfen“, erklärt der Psychologe. Entsprechend müsse die Interaktion zwischen beiden intelligent gestaltet werden, „transparent und nachvollziehbar, zuverlässig und effizient“, wie der Ulmer Wissenschaftler sagt.

Um beispielsweise die Reaktionszeiten bei einer Übernahme zu verkürzen, muss das Fahrzeug seinen Besitzer frühzeitig warnen. Grundsätzlich erkennt das Auto seine Umwelt über unterschiedliche Sensoren – Kameras und Radar. Sofern das Gefährt automatisch läuft und die Erkennungsmuster von Kameras und Radar übereinstimmen, ist sich das System zu 100 Prozent sicher: Es treten keine Fehler auf. Divergieren allerdings die Signale beider Sensoren, befindet sich der Wagen in einem unsicheren Zustand. Das soll das System dem Fahrzeugführer rechtzeitig mitteilen. Für ihn heißt das dann: Handy oder was auch immer weglegen und aufpassen, solange die Maschine keine Entwarnung gibt. In diesem Sinne soll das System beispielsweise über GPS auch Ortsdaten kommender Baustellen bekommen, die es wahrscheinlich überfordern würden.

Pass auf, es könnte sein, dass ich ausfalle!

Alles keine leichte Aufgabe, denn wenn die Technik bei jeder Kleinigkeit den Insassen aus seinen „Nebentätigkeiten“ reißt, verliert dieser womöglich das Vertrauen in die Technik und die Lust am autonomen Fahren. Oder er würde abstumpfen und nach etlichen falschen Alarmsignalen nicht mehr reagieren. Dieses Risiko will Baumann durch smarte Kommunikation minimieren. Zum Beispiel soll das Fahrzeug seine Unsicherheit als solche mitteilen und den Fahrer um Hilfe bitten: „Pass auf, es könnte sein, dass ich ausfalle, achte einfach ein wenig auf mich.“ So formuliert, erleben die Insassen eine Warnung ohne Folgen nicht als falschen Alarm, hat der Ulmer Psychologe in einer Untersuchung festgestellt.

„Das Gefühl der wechselseitigen Unterstützung ist wichtig“, betont Baumann, „die Kooperation schafft Vertrauen.“ Ein angemessenes Vertrauen in möglichst jeder Situation, wo mal die Maschine besser handelt als der Fahrer – und umgekehrt. Derart „werden sich viele kritische Situationen in der Mensch-Maschine-Interaktion lösen lassen“, ist der Wissenschaftler überzeugt, „aber nicht alle.“ So bleibt eine Grauzone des Restrisikos. Wie stets im Leben.

Wann soll der Fahrer übernehmen?

Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf beschlossen, der den Einsatz hoch- oder vollautomatisierter Fahrzeuge erlauben soll. Allerdings bleiben die Pflichten der Fahrer zur Überwachung der Funktionen sehr hoch.

Kritiker monieren, dass der Gesetzentwurf bestehende Risiken von Systemausfällen auf den Fahrer schiebe, die Autoindustrie zu wenig rechtliche Haftung übernehme und dass nicht genau geregelt sei, wann der Fahrer übernehmen soll. Außerdem warnen Verbraucherschützer vor der geplanten Speicherung von Fahrdaten. Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff fordert genaue Regeln für folgende Punkte: welche Daten wie lange aufgezeichnet werden, wer Zugriff darauf bekommt und wie sie genutzt werden dürfen.

Der Deutsche Verkehrsgerichtstag verlangt klare gesetzliche Vorgaben für verkehrsfremde Tätigkeiten – wie Lesen oder Schreiben von Mails. Außerdem müsse der Zustand der automatisierten Systeme jederzeit durchschaubar sein. Last, but not least: Das Gesetz müsse das Recht auf die freie Entscheidung verankern, ob man die Maschine nutzen will – oder nicht.

Big Brother lenkt

38 Prozent von gut 1000 befragten Deutschen wollen das Steuer auch künftig nicht aus der Hand geben, ergab eine Umfrage von TNS Infratest im Dezember 2015. 44 Prozent gaben an, selbst entscheiden zu wollen, wann die Maschine das Auto übernimmt. Die Hälfte aller Frauen unter den Befragten lehnt das automatisierte Fahren komplett ab. In einer anderen Studie eines Autoherstellers vermissten die meisten Probanden, dass sie Geschwindigkeit und Spurwechsel nicht beeinflussen konnten. „Das Lenkrad in der Hand zu halten hat auch eine psychologische Bedeutung“, erklärt Bernhard Schlag. Der Experte weist auf „ein subjektives Bedrohungsgefühl“ hin, das sich beim automatisierten Fahren einstellen könne: eine neue Dimension eines ungewollten Eindringens in die eigene Privatsphäre. Das Smartphone ist nichts dagegen. Denn der Big Brother sitzt unerreichbar in der Cloud. Und er lenkt!

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2017: Gekonnt überzeugen