Folgen der sozialen Ungleichheit

Die soziale Ungleichheit in westlichen Gesellschaften wächst stetig. Im Gespräch warnt die Sozialpsychologin Susan Fiske vor verheerenden Folgen.

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Das Bild zeigt die Sozialpsychologin von Susan Fiske
Die Sozialpsychologin Susan Fiske warnt vor den Folgen der Ungleichheit.

Frau Professor Fiske, was genau verstehen Sie unter sozialer Ungleichheit?

Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen man soziale Ungleichheit definieren kann. Auf einem nationalen Niveau ist der Gini-Koeffizient ein Maß für die Ungleichheit der Einkommensverteilung, das eine erstaunliche Vorhersagekraft für die Psychologie besitzt. Diese nationale Ausprägung von Ungleichheit hat wirklich schlechte Effekte auf das individuelle Wohlbefinden.…

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nationale Ausprägung von Ungleichheit hat wirklich schlechte Effekte auf das individuelle Wohlbefinden. Wir haben herausgefunden, dass die Höhe des Gini-Koeffizients beispielsweise vorhersagt, wie Leute ambivalente Stereotype benutzen.

Je ungleicher ein Land ist, desto stärker gebrauchen sie diese – als gäbe es da mehr zu erklären: Da gibt es die Armen, die es verdient haben, und jene, die es nicht verdient haben, die verdient Reichen und die unverdient Reichen. Das ist eine Möglichkeit, Ungleichheit zu messen. Aus einem stärker psychologischen Blickwinkel schaut man typischerweise mehr auf interpersonelle oder Intergruppenunterschiede bei Macht und Status. Eine allgemeingültige Definition gibt es aber noch nicht.

Warum sollten wir uns gerade heutzutage stärker mit diesem Thema beschäftigen?

Ungleichheit spielt heute eine größere Rolle denn je, weil sie stetig wächst, sowohl in entwickelten Ländern wie den USA als auch in sich entwickelnden Ländern wie China. Ungleichheit ist ein Problem von enormer politischer, ethischer und pragmatischer Wichtigkeit. Aus dem psychologischen Blickwinkel gesehen, trennt sie uns voneinander und führt zu einer sozialen Polarisierung.

Woran erkennen Menschen denn soziale Ungleichheit?

Ich denke, wir stehen erst am Anfang zu verstehen, welche sozialen Hinweise sie nutzen. Manchmal ziehen sie nur Bezeichnungen oder soziale Rollen wie Chef oder Mitarbeiter heran, also Dinge, die offensichtlich Macht oder Status anzeigen. Aber es gibt auch viele subtile Zeichen: die Kleider, die Menschen tragen, die Accessoires, die sie mit sich führen, die Art und Weise, wie sie sich verhalten und miteinander sprechen, etwa die Themen, über die sie reden, in welchen Urlauben sie waren und so weiter. Auch wenn ein Milliardär Jeans trägt, dauert es deshalb nicht lange, bis herauskommt, dass er einer ist.

Welche Probleme erwachsen aus sozialer Ungleichheit – auf individueller Ebene?

Nun, unsere Studien zeigen beispielsweise, dass ranghöhere Personen und rangniedere Personen unterschiedliche Befürchtungen haben, wenn sie in Interaktion treten, teils beruhend auf den Vorurteilen, die sie voneinander haben. Das Stereotyp von der hochrangigen Person besagt beispielsweise, dass sie vermeintlich kompetent, aber kalt ist, und das der Person mit niedrigem Status, dass sie vermeintlich warm, aber inkompetent sei – das sind übrigens Stereotype „reicher“ und „armer“ Leute, die tatsächlich überall auf der Welt existieren.Für Personen mit hohem Status folgt daraus, dass sie besorgt sind, Statusniedere könnten sie als nicht vertrauenswürdig oder nett einstufen. Deshalb zeigen sie häufig ein Verhalten, von dem sie sich offenbar versprechen, wärmer zu wirken: Sie benutzen weniger kompetente Wörter und präsentieren sich als weniger kompetent – so als würden sie sich selbst schlechtmachen, und das wirkt gönnerhaft und herablassend.

Wenn statusniedere Personen auf der anderen Seite annehmen, dass sie aufgrund ihrer Stellung als inkompetent eingestuft werden, wünschen sie sich in einer Interaktion dagegen vor allem Respekt. Wir denken, so wie es auch in der Literatur zur sozialen Klasse beschrieben ist, dass sie sich mehr Gedanken über den anderen machen und versuchen, sich ihrer Vorstellung von ihm anzupassen. Sie wollen also etwas erreichen, von dem sie meinen, dass die andere Person es ist, will und erwartet. Es geht nur um den anderen. Statushohen geht es dagegen nur um sich selbst, sie sorgen sich vor allem um ihr eigenes Image.

Das Verhalten ist auf beiden Seiten dysfunktional, weil beide gegensätzliche Absichten haben und verschiedene Ziele und Intentionen verfolgen, so dass sie sich verfehlen. Besonders problematisch ist, dass die Statushohen so vorgehen – weil sie für gewöhnlich über die Ressourcen und die Macht verfügen.

Sie sagen es: Macht und Status kommen meist im Verbund. Das ist keine gute Kombination, die vielfach Ungleichheit nach sich zieht. Warum wirkt diese Kombination so auf uns?

Wenn man Macht als Kontrolle über Ressourcen definiert und Status als Prestige, das andere einem verleihen, dann bedeutet das wirklich, dass die Mächtigen von anderen nichts mehr brauchen, nichts Materielles und auch keine Anerkennung. Deshalb bin ich ein großer Fan von Interdependenz, also wechselseitiger Abhängigkeit. Sie sorgt dafür, dass Menschen anderen Menschen Aufmerksamkeit widmen und sich Gedanken darüber machen, was sie denken und wollen, dass sie empathischer sind; dafür gibt es auch Belege. Besonders toxisch ist die Kombination von großer Macht und hohem Status.

Weil man sich dann auf niemanden stützen muss.

Ja, weil man eben überhaupt nicht abhängig ist. Höchstens in dem Sinne wie ein sehr mächtiger Milliardär von seinem Assistenten abhängig ist. Aber Donald Trump zum Beispiel feuert seine Assistenten ständig. Sein Leben, seine Lebensgrundlage hängt nicht von ihnen ab.

Soziale Ungleichheit entsteht aus Differenzen in Macht und Status, und sie ist eine Folge von Hie­rarchien. Nun sind Hierarchien etwas Natürliches im menschlichen Leben. Ist soziale Ungleichheit dann nicht auch ein genuiner Bestandteil der Gesellschaft?

Unglücklicherweise ja. Aber Gesellschaften unterscheiden sich sehr darin, wie ungleich sie sind. Friedliche Kulturen mit einem hohen Grad an Gleichberechtigung verfügen über andere und gesündere Charakteristika als solche mit größerer Ungleichheit oder mehr Konflikten.

Welche Länder haben denn die größten Probleme mit sozialer Ungleichheit?

Die Länder, die nach dem Gini-Koeffizient den höchsten Grad an Gleichheit haben, sind die skandinavischen Länder und die Schweiz. Zu jenen mit der größten Ungleichheit zählen Südafrika und die Entwicklungsländer. Die USA und Nord- und Südamerika im Allgemeinen haben ein mittleres Maß an Ungleichheit. Ich denke, das resultiert daraus, dass die Amerikaner über eine lange Historie der Einwanderung verfügen, durch die sie gelernt haben, wie man Immigranten in die Gesellschaft integriert. Über die Jahre und Jahrzehnte sind dort viele Mischehen entstanden, es gibt also viele Menschen, deren Abstammung man nicht mehr anhand ihres Aussehens bestimmen kann. Um das zu tun, müssen sie einem ihre Lebensgeschichten erzählen.

Ist das Ausmaß sozialer Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten generell größer geworden? Unsere Gesellschaften sind ja reicher denn je, aber es scheint, als gäbe es auch mehr Unsicherheit, Misstrauen und Neid als früher.

Die Unsicherheit macht alles schlimmer. Zumindest in den USA, dem Land, das ich am besten kenne, ist klar, dass die Ungleichheit seit den 1970er Jahren stark gestiegen ist. Vor hundert Jahren war sie zwar auch groß, aber ich denke, dass im Westen – und dazu zähle ich Europa und die USA – heute eine große wirtschaftliche Unsicherheit und demografischer Wandel herrschen. Also machen sich sehr viele Menschen, die sich immer recht sicher gefühlt haben und auch das Gefühl hatten, die Zukunft ihrer Kinder sei sicher, jetzt Sorgen, ob das so bleibt.

Der deutsche Sozialpsychologe Immo Fritsche von der Uni Leipzig hat gezeigt, dass der Verlust der persönlichen Kontrolle in einer solchen Situation Menschen mehr auf ihre Gruppe achten lässt, sie vertrauen ihr mehr – und anderen Gruppen, darunter auch die der Einwanderer, weniger. Diese Ängste und diese Dynamik bringen die Menschen dazu, gemeinschaftlich handeln zu wollen. Für mich erklärt das die Psychologie nativistischer Bewegungen.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Aus demografischer Sicht tendieren beispielsweise in den USA ältere weiße Männer, besonders jene mit niedrigerem Bildungsstand, stärker dazu, solche Strömungen zu unterstützen. Als sie in den 1970er Jahren erwachsen geworden sind, war ihre Gruppe führend. Damals war der Anteil im Ausland geborener Menschen in den USA so niedrig wie nie zuvor oder danach. Diese Menschen sehen sich also einer Situation gegenüber, in der sie gewohnt waren, die Mehrheit zu stellen, und sie wissen, dass sich das nun wandelt. Das bereitet ihnen Sorgen. Ich verstehe diese Besorgnis, aber ich stimme ihr oder den Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen, nicht zu.

Die Vorstellung „Einwanderung und anderes, das Unsicherheit auslöst, sind schlecht und zerstören unsere Kultur“ könnte man auch umdeuten in: „Diese Dinge entfachen Energie, sie beleben die Wirtschaft, sie bringen jüngere Arbeiter, die die älteren unterstützen.“ Es kommt nur darauf an, wie man es sieht.

Wenn man Menschen direkt fragt, was sie von Ungleichheit halten, werden sie sicherlich sagen, dass sie sie nicht befürworten. Ich habe in einer Ihrer Studien aber gelesen, dass Leute in begünstigten Gruppen nicht willens sind, über Ungleichheit zu diskutieren – anders als Mitglieder benachteiligter Gruppen. Warum ist das so?

Ich denke, besonders in auf Gleichheit beruhenden Gesellschaften fühlen sich Menschen dabei unbehaglich, zugeben zu müssen, dass sie privilegiert sind. Auch ich mache diese Erfahrung, etwa wenn ich Menschen im Zug kennenlerne. Wenn mich jemand fragt, was ich mache, sage ich nicht sofort, dass ich in Princeton lehre – weil ich glaube, dass sie mich dann für arrogant halten würden und für keine gute Person.

Sie würden annehmen, ich sei kompetent, aber kalt, und das müsste ich dann wiedergutmachen. Gleichzeitig würden sie mich bemitleiden, wenn ich erzähle, dass ich in New Jersey wohne, denn das hat keinen besonders guten Ruf. Also sage ich meist als Kompromiss, dass ich außerhalb von New York lebe.

Wir alle tendieren dazu, uns dauernd mit anderen zu vergleichen, manchmal werden wir dann neidisch, das ist menschlich. Gibt es etwas, das man tun kann, um diesen Gefühlen vorzubeugen?

Die Niederländer sprechen von „gutem Neid“ – dieses Konzept erscheint mir sehr nützlich. Die Forschung zu sozialen Vergleichen zeigt in gleicher Weise, dass wir uns manchmal vergleichen, um uns weiterzuentwickeln, so wie es bei einem Lehrer und einem Schüler der Fall ist oder bei anderen, die uns als Vorbild dienen. Da geht es in gewisser Weise auch um Neid, aber eben um einen gutartigen im Sinne von: Was kann ich von dieser Person lernen, wie kann ich wie sie werden?

Bösartiger Neid dagegen, Missgunst im Allgemeinen ist keine konstruktive Emotion. Viele unserer Arbeiten und die anderer zeigen, dass Emotionen die direkten Vorläufer von Verhalten sind, also sehr gute Prädiktoren. Deshalb denke ich, es ist hilfreich, tieferzugehen und zu schauen, welche Überzeugungen zu dieser Verstimmung führen, darüber nachzudenken und zu versuchen, einen anderen Weg einzuschlagen als diesen wenig hilfreichen.

Aber es ist menschlich, sich zu vergleichen, und menschliche Gruppen verfügen fast immer über Hie­rarchien, genau wie Primaten und die meisten anderen Tiere. Also muss man über die Gründe nachdenken und ob so eine Hierarchie hilft, unsere Interaktionen zu koordinieren, damit man nicht dauernd darum kämpfen muss, wer federführend ist.

Auf einem Segelschiff zum Beispiel kann man nicht fortlaufend infrage stellen, wer die Befehle gibt. Wenn man nicht untergehen möchte, braucht es jemanden an der Spitze. Man kann nicht zu demokratisch sein und über alles abstimmen, man braucht schnelle Entscheidungen. Hierarchien sind also effizient. Zum Problem werden sie nur, wenn sie starr und unveränderlich sind und keine Bewegung erlauben.

Was erwarten Sie von der Zukunft? Wird die soziale Ungleichheit mehr werden?

Ich kann nicht beurteilen, was der gesamtgesellschaftliche Trend ist, sondern nur sagen, ob die einzelnen Menschen sich der Ungleichheit stärker bewusst werden, und da denke ich, ja, das ist so. Auch die normalen Leute diskutieren meinem Eindruck nach verstärkt über das Thema. Und unter Psychologen wird die Forschung offensichtlich aktuell als spannend wahrgenommen, immer mehr Menschen wollen soziale Klassen analysieren, Macht- und Statusdebatten führen. Als ich angefangen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, war den Leuten das unangenehm. Es war schwer, Mitarbeiter zu finden. Das hat sich grundlegend geändert.

Susan T. Fiske ist als Professorin für Psychologie an der Princeton ­University tätig. Das Spezialgebiet der 1952 geborenen Amerikanerin ist ­soziale Kognition. Aktuell forscht sie vor allem zu den Themen Vorurteile und Stereotype

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2018: Akzeptieren, wie es ist