„Jeder kann zum Mörder werden“

Ein Gespräch mit dem Gerichtsgutachter Norbert Nedopil über die dunkle Seite der menschlichen Seele

Die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe hat er ebenso begutachtet wie den sogenannten Maskenmann, der drei Jungen tötete. Norbert Nedopil, der langjährige Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie der Universität München, ist hierzulande einer der renommiertesten Vertreter seiner Zunft. Für seine Gutachten befragt er viele Stunden lang Vergewaltiger, Mörder und Terroristen; er liest deren Biografie, die Ermittlungsakte und sucht im Explorationsgespräch Hinweise auf psychische Krankheiten. Von…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Biografie, die Ermittlungsakte und sucht im Explorationsgespräch Hinweise auf psychische Krankheiten. Von seinen Expertisen hängt maßgeblich ab, ob ein Täter vom Gericht für schuldfähig gehalten wird oder nicht – ob ihn Gefängnis oder Maßregelvollzug erwartet. Jetzt hat Nedopil ein Buch über seine Erfahrungen als forensischer Psychiater geschrieben: Jeder Mensch hat seinen Abgrund (Goldmann 2016). Im Psychologie Heute-Interview spricht er über das Böse, eigene Zweifel und wie es ist, beständig in die dunklen Seiten der menschlichen Seele zu blicken.

Herr Professor Nedopil, Sie werden nicht müde zu betonen, dass „das Böse“ keine wissenschaftliche Kategorie ist. Trotzdem die Frage: Sind Sie dem Bösen als forensischer Gutachter vor Gericht begegnet?

Durchaus. Ich erinnere mich an die Exploration eines russischen KGB-Agenten, der hinter der Front der Taliban in Afghanistan gekämpft hat. Seine Aufgabe war, aus dem Hinterhalt die Führer der Taliban zu erschießen. Immer wieder erfüllte er drei Wochen lang diese Aufgabe. Ich fragte ihn, wie er in dieser Zeit mit seiner Sexualität umgegangen war. Da erzählte er, dass die Frauen, die allein zum Wasserholen an den Brunnen gingen, leichte Beute für ihn waren. Auf die Frage, ob er wisse, was diese vergewaltigten Frauen zu erwarten hatten, antwortete er: „Ja, die wurden gesteinigt.“ Er erzählte das wie eine Selbstverständlichkeit. Das habe ich nur schwer verkraftet. Mit wissenschaftlichen Kategorien konnte ich das nicht mehr beschreiben.

War das die einzige Begegnung mit „dem Bösen“?

Da ist noch ein Fall, den ich wissenschaftlich schwer fassen konnte. Ein 18-Jähriger trifft zufällig eine junge Frau, vergewaltigt und tötet sie. Bevor er die Leiche im Fluss wegschwimmen lässt, steckt er ihr noch einen Ast in den Anus. Das ist nicht mehr mit einem zwar ungesteuerten, aber doch nachvollziehbaren Trieb erklärbar. Das ist über die ohnehin grausame Tat hinaus entwertend und böse, weil es keinen Nutzen für den Täter hat und nur der Erniedrigung des Opfers dient.

Die meisten Gewalttäter, so eine Ihrer Thesen, handeln keineswegs in einem unbeherrschbaren Zustand blinder Wut, sondern könnten sich durchaus kontrollieren. Sind wir also weniger triebgesteuert, als wir gemeinhin annehmen?

Den Probanden stelle ich häufig die Frage, was passiert wäre, wenn ihnen während der Gewalttat ein Polizist auf die Schulter geklopft und gefragt hätte, was sie da tun. Die meisten antworten: Dann hätte ich wohl aufgehört. Das zeigt mir, dass ein Täter durchaus in der Lage gewesen wäre, anders zu handeln. Richtig ist aber auch, dass die Zäsur von außen kommen muss. Da reicht manchmal ein Geräusch. Wenn Gewalt erst einmal entfesselt ist, lässt sie sich nur schwer von innen heraus wieder bändigen.

Kann also jeder Mensch zum Mörder werden?

Die allermeisten Menschen, die töten, sind ja keine Intensivtäter oder Serienmörder, sondern waren vorher eher unauffällig. Wenn man einen Mörder also so versteht wie der Volksmund, würde ich sagen: Ja, jeder kann zum Mörder werden. Juristisch betrachtet sind in vielen Fällen die Mordmerkmale wie das Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit nicht erfüllt, sodass das Urteil dann auf Totschlag lautet. Aber jeder kann in eine Situation geraten, in der er bereit ist, einen Menschen zu töten, weil er keinen anderen Ausweg mehr sieht. Bei Ehedramen ist das öfter so.

Welche Überforderungen machen aus einem gutmütigen Ehemann einen Totschläger?

Dem Tötungsdelikt geht oftmals ein langer Prozess der Zermürbung voraus. Da stauen sich über Monate oder sogar Jahre so viele Kränkungen und Verletzungen auf, dass dann ein Funke reicht, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Ich erinnere mich an den im Buch zitierten Helmut, der seine Frau mit einem Holzscheit erschlagen hat. Der konnte schon lange davor nicht mehr gut schlafen, weil er fürchtete, seine Frau zu verlieren. Er war gekränkt und verzweifelt, weil seine Frau ihn vor unlösbare Alternativen stellte: deine Mutter oder ich. Seine Mutter konnte er nicht aufgeben, er wollte aber auch auf keinen Fall seine Frau verlieren. Da hat er dann keinen Ausweg mehr gesehen. Die Tat kam also wie so oft nicht aus heiterem Himmel, sondern stand am Ende einer langen zermürbenden, krisenhaften Beziehung.

Derart überforderte Menschen töten also unerwartet ihren Partner, wenn sie in eine Sackgasse geraten?

Der Täter erkennt in der Krise subjektiv keinen Ausweg. Natürlich gibt es immer Alternativen. Ein Paartherapeut hätte Helmut womöglich geholfen, eine Trennung zu akzeptieren. Man muss sich ja klarmachen, was es zum Beispiel für die Kinder bedeutet, wenn der Vater die Mutter tötet und sie dann keine Eltern mehr haben. Dass diese dramatischen Folgen gar nicht mehr bedacht werden, zeigt, wie eingeengt der Blickwinkel von Menschen wie Helmut ist. Ich kann Paaren nur dazu raten, Hilfe von außen zu suchen, bevor eine Krise so eskaliert, dass einer in seiner Verzweiflung zum Totschläger wird, weil er zu tief in der Sackgasse steckt.

Je monströser die Tat, desto eher heißt es: Der muss krank sein. Warum ist das oft ein Irrglaube?

Ein wichtiger Grundsatz lautet: An einer Tat lässt sich keine psychische Krankheit festmachen. Als forensischer Psychiater muss ich umgekehrt vorgehen. Ich muss untersuchen, ob eine Störung, etwa eine Schizophrenie oder eine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Wenn das so ist, muss ich in einem zweiten Schritt untersuchen, ob die Krankheit einen Einfluss auf die Tat hatte. Hatte der Mörder die Einsicht, etwas Falsches und Verbotenes zu tun? Oder war er so in Rage, dass er sich nicht steuern konnte? Allein von der Grausamkeit von 36 Messerstichen kann man also nicht ableiten: Der muss krank sein.

Der Tathergang ist also gar nicht so entscheidend?

Doch, schon, vor allem für die Frage, ob ein Täter so etwas noch einmal machen wird. Wenn jemand seine Impulse so wenig unter Kontrolle hat, dass er sich in einen Blutrausch gesteigert hat, spielt das für die Gefährlichkeitsprognose eine große Rolle. Wer seine Impulse nicht kontrollieren kann und zu Gewalt neigt, bleibt gefährlich.

Aber nicht jeder vermeintliche Kontrollverlust ist auch wirklich einer, wie der Fall des sogenannten „Maskenmanns“ zeigt, der nachts in Schullandheime einstieg, Jungen missbrauchte und drei von ihnen tötete. Was war sein Motiv?

Wie bei den meisten Tötungsdelikten war es die Furcht, entdeckt zu werden. Der Mann hatte als Pädagoge gearbeitet und wollte gern Lehrer werden. Am meisten fürchtete er wohl, seine Mutter könnte bemerken, dass er sich an Jungen vergreift. Dass sie herausfindet, was für ein schlimmer Kerl er ist. Davor hatte er große Angst. Das hat ihn dazu gebracht, die drei Jungen zu töten, die sein Gesicht gesehen hatten. Sexualstraftäter bringen ihre Opfer in aller Regel um, weil sie befürchten, identifiziert zu werden.

Die Wissenschaft hat diverse Risikofaktoren für kriminelle Karrieren ermittelt, etwa Alkoholismus der Eltern, ein sozial schwaches Umfeld oder einen inkonsistenten Erziehungsstil. Neurobiologen halten zudem den Einfluss des Unterbewusstseins für größer, als bisher angenommen. Wie frei sind Straftäter denn eigentlich in ihrem Willen– und entsprechen Schuld und Strafe überhaupt noch dem forensischen Forschungsstand?

Ja, ich halte es nach wie vor für angemessen, individuelle Schuldfähigkeit festzustellen und dafür ein Strafmaß zu finden. Völlig richtig ist, dass sich sieben von zehn Risikofaktoren, die auf heranwachsende Kriminelle zutreffen, auf deren Eltern beziehen. Niemand kann etwas dafür, wenn sich die Eltern getrennt haben, völlig klar – und doch beeinträchtigt es die Entwicklung. Ein Großteil der jugendlichen Kriminellen wird aber nicht mit schweren Straftaten auffällig, sondern eher mit Autoaufbrüchen oder Raufereien, also einer Delinquenz im mittleren Niveau. Einigen gelingt es sogar, straffrei ihrer dissozialen Herkunft zu entwachsen, weil sie Vorbilder finden und schützende Bindungen eingehen. Umgekehrt werden nur wenige von ihnen zu Mördern oder Vergewaltigern. Es trifft also nicht zu, dass negative prägende Einflüsse einen jungen Menschen derart auf eine Schiene setzen, dass er der schiefen Bahn nicht entkommen kann. Auch wer statistisch gesehen weniger Resilienzfaktoren und ein höheres Risiko trägt, ist nicht determiniert, kriminell zu werden. Jeder verfügt über einen individuellen Handlungsspielraum, so begrenzt er auch sein mag.

Als Gutachter in Strafprozessen tragen Sie eine große Verantwortung. Richter neigen in aller Regel dazu, dem forensischen Gutachten zu folgen. Wie exakt ist Ihre Wissenschaft, was Tatmotive und Gefährlichkeitsprognosen angeht?

Klar ist: Wir arbeiten immer mit Hypothesen, weil wir Vergangenes und Zukünftiges beurteilen, das wir nicht selbst miterlebt haben. Früher wurden Gutachten eher im Duktus verfasst: „Das war so!“ Heutzutage müssen sich Hypothesen daran messen lassen, ob sie plausibel sind, was sie stützt, aber auch was dagegen spricht. Wenn ich mir unsicher bin, ob ein Täter spontan oder planvoll gehandelt hat, muss ich dem Gericht plausible Alternativen anbieten, ohne mich festzulegen.

Wie oft haben Sie als Gutachter Zweifel, und wie gehen Sie damit um?

Zweifel gehören dazu. Und jeder gute Richter will auch über diese Zweifel informiert werden. Ich erinnere mich an einen Fall, da hatte eine junge Frau ihren Liebhaber erstochen. Aus psychiatrischer Sicht litt diese Frau zweifelsfrei an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Als Psychiater konnte ich eindeutig bejahen, dass die Störung für die Tat relevant war. Schwieriger war zu beurteilen, ob sie sich steuern konnte. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass sie sich das Messer bereitgelegt hatte, also planvoll gehandelt hatte. Die Version der Frau war: „Das Messer lag zufällig da. Er kam und sagte: Mit dir Schlampe will ich nicht mehr schlafen. Da hab ich in blinder Wut zugestochen.“ Dann wäre in der Tat ihre Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen, zumal Borderliner ja emotional instabil sind und zu impulsiven Handlungen neigen. Beide Versionen waren denkbar. Ich habe dem Gericht somit zwei Hypothesen angeboten, weil sich keine der beiden widerlegen ließ. Entscheiden müssen die Richter.

Lässt sich überhaupt exakt bestimmen, ob sich ein Täter unter Kontrolle hatte oder nicht? Wie gut bildet die Vorstellung von der sogenannten Steuerungsfähigkeit das Innenleben des Täters ab? Immerhin ist das ja entscheidend dafür, ob ein Täter überhaupt schuldfähig ist.

Steuerungsfähigkeit ist ein juristischer Begriff, kein psychiatrischer. Den exakten Punkt, wann jemand nicht mehr in der Lage ist, sich zu steuern, kann man gar nicht bestimmen. Vor 25 Jahren galt jemand, der mehr als 2,3 Promille Alkohol im Blut hatte, als vermindert steuerungsfähig. Heute wissen wir, dass langjährige Trinker auch mit drei Promille noch Kontrolle über ihr Verhalten haben können. Das Kon­strukt verändert sich also ständig.

Es gibt heute signifikant weniger Tötungsdelikte als noch vor Jahren, dennoch scheint die Angst vor Gewalt ständig zu wachsen. Können Sie sich, wenn Sie als Gutachter Gefährlichkeitsprognosen erstellen, von gesellschaftlichen Stimmungen freimachen, die etwa Sexualstraftäter am liebsten für immer wegsperren würden?

Von solchen Ideologien kann ich mich ganz sicher freimachen, und wenn ich sie teilte, würde ich sofort aufhören. Ich kann und darf mich aber nicht von veränderten Sicherheits- und Toleranzbedürfnissen freimachen. Bis in die 1980er Jahre hinein war man tolerant mit Menschen, die mit ihrer Sexualität Grenzen übertreten haben. Sogar Kinderpornografie wurde toleriert. Damals hat man davor zurückgeschreckt, jemandem seine Freiheit zu nehmen, weil man das für einen übertriebenen Eingriff in dessen Rechte gewertet hat. Heute ist es umgekehrt. Als Psychiater kann ich nicht außerhalb der Gesellschaft und ihres Konsenses agieren. Ich darf aber nicht irrationale Ängste, die mitunter die öffentliche Meinung bestimmen, zu meiner eigenen professionellen Haltung machen. Dann wäre ich fehl am Platz.

Erinnern Sie sich an Fälle, bei denen Sie die Gefährlichkeit eines Täters unterschätzt haben und er anschließend wieder vergewaltigt oder gemordet hat?

Ich kann mich nicht daran erinnern, die Gefährlichkeit eines Sexualstraftäters falsch eingeschätzt zu haben, sodass er anschließend wieder Kinder missbrauchen konnte. Sehr wohl erinnere ich mich an einen Fall, der schon sehr lange zurückliegt. Damals habe ich die Prognose erstellt, dass ein Gewalttäter wohl wieder körperliche Übergriffe begehen werde, Schlimmeres aber unwahrscheinlich sei. Dieser Täter hat dann jemanden umgebracht. In einer Ausnahmesituation, von der ich überzeugt bin, dass sie nicht vorhersehbar war. Gott sei Dank ist so was danach nie wieder vorgekommen.

Schwingt bei der Erstellung von Gefährlichkeitsprognosen nicht immer die Angst mit, ein Täter könnte es wieder tun?

Ich erstelle heute andere Prognosen als in meinen ersten Berufsjahren. Es geht nicht mehr darum, vorauszusagen, ob etwa ein Vergewaltiger wieder vergewaltigen wird. Vielmehr geht es darum, Bedingungen zu definieren, durch die das individuelle Risiko kontrolliert werden kann. Also aufzuzeigen, was geregelt werden muss, damit es nicht wieder passiert. Ein Beispiel: Jemand neigt dazu, Sexualstraftaten zu begehen, wenn er einsam ist und Alkohol trinkt. Die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft, regelmäßige Kontrolle und intensive Nachsorge nach der Haft könnten notwendige Bedingungen sein, die unbedingt eingehalten werden müssen, damit dieser Mann nicht wieder zum Täter wird. Die Rückfallhäufigkeit bei schweren Straftaten ist auch durch diese Maßnahmen deutlich zurückgegangen.

Im Maßregelvollzug werden psychisch oder suchtkranke Straftäter untergebracht, die schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind. Etliche von ihnen haben als junge Erwachsene Straftaten begangen und bleiben dennoch dauerhaft eingesperrt. Halten Sie das für richtig?

Es gibt Täter, die dauerhaft weggesperrt werden müssen, weil man ihnen therapeutisch nicht helfen kann und sie zum Beispiel drastische Eingriffe wie eine medikamentöse Regulierung ihres Sexualtriebs ablehnen. Wenn jemand weiterhin gewalttätige, sadistische Fantasien hat, muss man die Bevölkerung vor ihm schützen, ihn gleichzeitig aber human behandeln. Ich erinnere mich an einen zweifachen Mörder, der extrem harte sadistische Fantasien hatte. Der wünschte sich, Röcke und Kleider zu tragen. Da habe ich gesagt: Lasst ihm das. Ich plädiere also dafür, innerhalb der Einrichtung so viel Freiheit wie möglich zu gewähren. Diese gefährlichen Gewalttäter können sich nämlich noch so anstrengen, sie haben zu Recht keine Chance rauszukommen.

Was ist mit den anderen – werden im Maßregelvollzug Menschen, die eigentlich wieder in Freiheit leben könnten, weggesperrt, weil die Gesellschaft jedes Risiko scheut?

Wenn man – abgesehen von den oben genannten – die weitaus größte Gruppe aus dem Maßregelvollzug entlassen würde, müsste man damit rechnen, dass 20 Prozent mit gravierenden Delikten rückfällig werden. Aber 80 Prozent eben auch nicht. Das Problem ist, dass ich als Psychiater nicht mit Gewissheit sagen kann, wer wieder zum Täter wird und wer nicht. Das hängt nämlich von Lebensumständen und Bedingungen ab, die nicht vorhersehbar sind. Daher kommt es darauf an, für jeden Patienten ein individuelles Risikomanagement zu organisieren. Durch verschiedene Lockerungsstufen kann man Patienten an der kurzen oder an der langen Leine kontrollieren. Es stellt sich also nicht primär die Frage, ob jemand wieder etwas Verbotenes tun wird, sondern wie viel Kontrolle nötig ist und wie viele Freiheiten gewährt werden können. Das kann bedeuten, dass einem Patienten tageweise Ausgang gewährt wird, um in der Stadt einzukaufen oder spazieren zu gehen. Es kann bei einem anderen auch ausreichen, einmal im Monat ein Therapeutengespräch anzuordnen, um genügend Sicherheit für ein weitgehend selbständiges Leben zu schaffen. Aber ganz ohne Kontrollmechanismen wird heute fast niemand mehr aus dem Maßregelvollzug entlassen.

Sie haben über viele Jahre Mörder, Vergewaltiger und Terroristen getroffen und begutachtet. Was haben Sie aus den vielen Blicken in Abgründe über den Menschen gelernt?

Dass man furchtlos in die menschlichen Abgründe schauen kann! Und dass die Unterschiede zwischen uns Menschen gar nicht so gewaltig sind, wie wir gern annehmen wollen. Wann immer ich Menschen betrachte – ich sehe bei allen Licht und Schatten. Der Unbescholtene ist nicht durchweg nur gut. Umgekehrt verfügt auch derjenige, der Schlimmes getan hat, über gute Eigenschaften. Davon bin ich überzeugt.

Norbert Nedopils aktuelle Veröffentlichung Jeder Mensch hat seinen Abgrund ist 2016 im Goldmann Verlag erschienen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2016: Heimat finden