"Wir würden es ohne Unruhe gar nicht aushalten"

Die Ruhe gilt als Voraussetzung für Glück. Doch unser Leben ist voller Unruhe. Der Philosoph Ralf Konersmann meint: Wir wollen es nicht anders

Herr Professor Konersmann, alle sind heute im Stress. Ist die Unruhe ein neues Phänomen?

Die Menschen haben schon immer die Erfahrung der Unruhe gemacht. Aber sie haben sie anders beschrieben. Wenn man in die Geschichte zurückblickt, stellt man fest, dass andere Zeiten gebräuchliche Begriffe von heute nicht zur Verfügung hatten, Stress oder Burnout etwa. Burnout kommt zur Jahrtausendwende auf, Stress um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Begriffe helfen uns, uns selbst und die Welt zu beschreiben, unsere…

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die Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Begriffe helfen uns, uns selbst und die Welt zu beschreiben, unsere Situation zu erfassen. Aber sollen wir deshalb annehmen, dass die Menschen vorher, etwa die Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs, keinen Stress hatten? Was war das denn, wenn es kein Stress war? Mich interessiert, wie so ein neues Wort das Begreifen verändert, sodass man jetzt sagen kann: „Was hatte ich heute wieder für einen Stress.“

Und mich interessiert, was auf der Strecke bleibt, wenn sich die Begriffe verändern. Denn wenn man in die Geschichte zurückschaut, sieht man, dass es zu anderen Zeiten andere Zugriffe auf alltägliche Belastungen gegeben hat: theologische, anthropologische, mythische. Im 20. Jahrhundert sind die psychologischen Beschreibungen dominant geworden. Mir scheint, dass damit auch etwas verlorengeht, nicht nur Beschreibungen, sondern vielleicht auch Lösungen, weil sie in der Sprache der Psychologie nicht mehr artikulierbar sind.

Was ist denn so schlimm an der Unruhe?

Das Problem hat als Erster Blaise Pascal gesehen, er nennt es Zerstreuung. Die Pointe bei der Zerstreuung ist, dass sie unsere Urteilskraft, unser Gefühlsleben und all das, was uns helfen könnte, aus der Unruhe herauszukommen, korrumpiert. Etwa durch eine auf Dauer gestellte moralische Entrüstung. In einer Welt der Zerstreuung werden moralische Anstöße leicht zu Vorwänden, sie bekommen einen gewissen Unterhaltungswert: Was ist denn heute wieder passiert? Oder sie werden zu Anlässen, um aktiv und aktivistisch zu sein, um dem Bedürfnis, sich zu kümmern, einen Gegenstand zu bieten. Wenn hier, auf dem Land eine Scheune brennt, kommen Helfer aus dem ganzen Umkreis, dann stehen 20 Feuerwehrwagen um die Scheune herum. Man sieht, wie die Sprungbereitschaft schon da war und man nur noch auf den Anlass gewartet hat, um den ganzen präventiven Aufwand zu rechtfertigen. Das Bedenkliche an der Zerstreuung ist, dass sie solche Umkehrungen begünstigt. Pascal sagt, wir jagen nicht mehr, um Fleisch zu bekommen, sondern weil wir die Zerstreuung lieben. Solche Verschiebungen im Motivationshaushalt sind typisch für die Unruhe. Die Zerstreuung sorgt für eine Chaotisierung dieser Motivationshintergründe, dafür, dass man nicht mehr ins Klare bringt, was man warum tut.

Ist der Mensch von Natur aus unruhig?

Das würde ich nicht sagen, weil wir in unserer Kultur ganz gegenteilige Wahrnehmungen des Phänomens Unruhe haben. Den Menschen als Unruhewesen zu definieren wäre für die Menschen über viele Jahrhunderte hinweg ein unerträglicher Gedanke gewesen. Das Bestreben galt immer dem Versuch, aus dem Modus der Unruhe herauszukommen und wieder zu dem Geschöpf zu werden, als das wir aus den Händen Gottes hervorgegangen sind. Zu Paradieswesen, zu Wesen, die in Ruhe leben dürfen und denen es vergönnt ist, bei sich selbst zu sein und sich den Dingen hinzugeben, die sie selbst sich wünschen. Die längste Zeit war die Unruhe ein Verhängnis. Und heute stehen wir da und sagen: bloß keinen Stillstand, bloß keine Stagnation. Wir würden es ohne die Unruhe gar nicht mehr aushalten.

Aber die meisten Menschen scheinen sich eher nach Ruhe als nach Unruhe zu sehnen.

In der Tat, die wenigsten würden offen erklären, dass sie die Unruhe vorziehen. Andererseits genügt es schon, dass wir uns ansprechen und mitreißen lassen, dass wir uns gegen die Unruhe nicht wehren. Unsere ganze Umgebung, Kindergarten, Schule, Arbeitswelt, alles ist auf Dynamisierung angelegt. Aus Zielen werden Zwischenziele, und schon kommt das nächste. Bis vor kurzem gab es noch den Ausdruck „Reifezeugnis“. Der wurde dann von den Erziehungswissenschaftlern bekämpft, weil Reife ein Endzustand sei. Man wollte das lebenslange Lernen propagieren. So normalisiert sich die Unruhe, das Wort selbst braucht dabei gar nicht zu fallen.

Und zugleich träumen wir vom Paradies und der paradiesischen Ruhe?

Natürlich. Eine der Pointen des jüdisch-christlichen Paradiesbegriffs ist: einfach angenommen sein. Ohne Gegenleistung, einfach weil man da ist. Ohne sich sein Leben verdient haben zu müssen. In der Neuzeit und in der Moderne haben wir dagegen die Logik des Verdienstes. Ruhe muss verdient sein, die Pause muss verdient sein: durch Arbeit. Schon Kant schrieb, Ruhe sei der Lohn für die erbrachte Anstrengung. Wir knüpfen Ruhe an Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit wir uns das leisten können, sonst haben wir ein schlechtes Gewissen. Manchen verlässt ja auch im Urlaub das Gefühl nicht, eigentlich zu Hause oder im Büro gebraucht zu werden. Ruhe ist heute von einem leichten Unbehagen, ja Unrechtsbewusstsein begleitet. Ruhe ist etwas, was wir uns eigentlich nicht erlauben dürfen. Das Paradies ist genau das Gegenteil: die Befreiung von jeder Verpflichtung; paradiesisch leben heißt, umsorgt zu sein, wunschlos zu sein. Das ist ein ganz starkes Motiv und vermutlich der Grund dafür, dass die Paradiesvorstellung so zählebig ist.

Gibt es gute und schlechte Formen von Unruhe?

Ja, darauf sind die Philosophen schon in der Antike gekommen. Um die Zeitenwende herum gibt es zwei große Beschreibungsmuster für die Unruhe. Das eine ist das jüdisch-christliche Modell, das sagt, wir hatten einmal die Ruhe, die Paradiesruhe, und leider waren wir so blöd, sie zu verspielen. Jetzt müssen wir uns damit auseinandersetzen, was wir da angerichtet haben. Das andere ist das stoische Modell, das die Zeitordnung umkehrt und sagt, die Ruhe ist etwas, was wir vor uns haben. Wir leben jetzt in einer Welt der Unruhe, aber wenn wir uns klug anstellen und uns des Beistandes der Philosophie versichern, der Vernunft, dann mag es uns gelingen, Seelenruhe zu finden. Aber das ist paradoxerweise ein lebenslanger Kampf: Wir müssen uns der Unruhe stellen, sie besiegen. In diesem Zusammenhang unterscheidet der römische Philosoph Seneca zwischen guter und schlechter Ruhe und zwischen guter und schlechter Unruhe. Die schlechte Ruhe ist die Trägheit, sich einfach so gehenlassen. Die gute Ruhe ist die Seelenruhe, das ist der Zielpunkt des individuellen Bildungsprozesses. Und ebenso für die Unruhe: Es gibt eine Unruhe, die bloß Hektik, Betriebsamkeit, geistloses Nach-vorn-Stürmen ist. Und es gibt eine gute Unruhe, die konstruktiv ist, die sich immer wieder dem Ziel verpflichtet fühlt, sich selbst und die eigene Trägheit zu überwinden, und die dem Einzelnen oder der Gesellschaft dazu verhilft, einen Zustand echter Ruhe zu finden. Wir müssen also die gute Unruhe – den Prozess der Bildung – gegen die schlechte Unruhe mobilisieren, um aus unserer Lage herauszukommen.

Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben?

Im Alten Testament ist die Verstoßung Kains nach dem Mord an seinem Bruder die Verstoßung in die Unruhe: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.“ Dort ist dann nichts mehr vertraut, die absolute Fremdheit. Doch schon der heilige Augustinus hat zu Anfang des fünften Jahrhunderts versucht, die Welt, in der wir so unruhig unterwegs sind, als Ort der Wiedergutmachung, der Bewährung zu bestimmen. So wird der alttestamentarische Fluch der Unruhe unterwandert, indem der Unruhe ein Sinn beigelegt wird. Es gab dann das ganze Mittelalter hindurch Diskussionen, und herausgekommen ist so etwas wie: Wir sind hier auf die Probe gestellt, und wenn wir die bestehen, werden wir eine neue, süßere Form der Ruhe an der Seite des Herrn erlangen. Das ist die vorsichtige Rehabilitierung der Unruhe, die über die Jahrhunderte immer konkreter wird und immer plastischere Formen annimmt. Bis in der Moderne die Unruhe völlig entproblematisiert scheint.

In der christlichen Lehre bleibt die Welt ein Stein des Anstoßes, ein Ort der Uneigentlichkeit. Und die Moderne ist, ganz gegen ihre Selbstwahrnehmung, dem Christentum gerade in diesem Punkt gefolgt. Auch für die Modernen ist die Welt, wie sie ist, nicht akzeptabel. Sie hat eine Schieflage, und wir müssen das geraderücken, müssen ständig etwas unternehmen, können die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Das sagt auch Augustinus, diese Welt kann nicht das letzte Wort sein, wir müssen darüber hinaus. Und dabei hilft uns die Unruhe. Aber dann gabelt sich der Weg: Während der christliche, individualistische Weg vorsieht, dass ich alles daransetze, meine Seele nicht zu gefährden, und Einkehr suche in Gott, versucht die Moderne das Problem zu kollektivieren und statt des Einzelnen die Welt zu verändern.

Sie schreiben, Unruhe sei nicht therapierbar. Was bedeutet das?

Auf einer bestimmten Ebene ist sie natürlich therapierbar, und alle, die sich bemühen, klinische Fälle von Unruhe zu behandeln, haben meinen Respekt. Das sind Leidensgeschichten, und wenn solchen Menschen geholfen werden kann, wäre es zynisch, dagegen anzugehen. Ich wollte betonen, dass die Unruhe eingewoben ist in unsere Kulturmuster und wir letztlich außerstande sind, aus diesem Kokon auszubrechen. In unseren Denkmustern bringen wir immer schon Spuren der Unruhe mit. Unsere Art, auf Unruhe zu reagieren, hier ein Meditationskurs, da ein Ratgeber, das sind selbst Unruhestrategien. Ich wollte darauf hinweisen, dass wir aus der Verfänglichkeit der Situation nicht so ohne weiteres herauskönnen. Die abendländische Kultur ist eine Kultur der Unruhe, und es bedarf einer ganz anderen Form von Anstrengung, um uns dem zu stellen, als mal einen Ratgeber zu lesen.

Aber es gibt doch nicht nur Ratgeber, sondern immer mehr Entschleunigungsbewegungen, von slow food bis slow science.

Es stimmt, dass gewisse Zweifel an der Unruheideologie aufgekommen sind. Die Menschen merken, wie dürftig das Programm ist, immer gleich in den Modus der Veränderung einzutreten und zu hoffen, dass sich die Lösung dann schon irgendwie von selbst einstellen wird. Das ist erfreulich. Mir scheinen aber diese slow-Bewegungen mehr oder weniger deutlich am Unruheparadigma festzuhalten. Das sind modische Attitüden, aber sie packen das Problem nicht an der Wurzel. Und meistens sind sie regenerativ angelegt, auf dass wir nachher umso fitter seien. Es gibt sicher eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Unruhe, aber das bleibt konsequenzlos. Die Erfolgsgeschichte der Unruhe war ja nur möglich, weil sie in der Lage ist, alle anderen Denkmodelle in sich aufzunehmen. Dann wird aus der Ruhe die Pause, werden aus ihr die Ferien, die uns erlauben, durchzuatmen und nachher wieder voll mitzumachen.

Warum ist das Programm der Unruhe dürftig?

Das ganze karge, dünne und klägliche Programm der Unruhe besteht in der Inaussichtstellung: Es wird schon besser werden. Wenn wir nur immer weiter forschen und entwickeln und machen und tun, wird alles besser. Wenn nur alles kocht und fiebert, wird schon etwas dabei herauskommen.

Wie könnte eine zeitgemäße Form der Ruhe aussehen?

Wir haben uns in den letzten 200 Jahren viel Mühe damit gegeben, die Ruhe zu diffamieren. Phlegma, Lethargie, Stillstand, Stagnation, das alles sind Schimpfwörter der Unruhekultur. Davon hat sich der Ruhebegriff nicht mehr erholt. Obwohl wir ja noch Impulse haben, die uns skeptisch sein lassen in Bezug auf das, was da geschieht. Aber was heute Muße sein könnte, wissen wir nicht. Es ist Unsinn zu sagen, wir lesen mal einen Stoiker, und dann wissen wir Bescheid. Es ist eine mühselige Arbeit, einen angemessenen Begriff zu finden, jenseits der einfachen Gegensätzlichkeit von Ruhe und Unruhe. Vielleicht würde ich beim Begriff des Spiels ansetzen, das ist etwas, das man um seiner selbst willen tut. Man muss aus der Zweck-Mittel-Relation ausbrechen. Die Dinge beschreiben, wie sie sind, also etwa Sport als Sport, nicht als Fitness, Bildung als Bildung, nicht als Ausbildung.

In Ihrem Buch sprechen Sie über den Inquieteur. Was ist das?

Den Begriff hat André Gide geprägt. Er wollte damit eine Kunstform beschreiben, in der es vor allem um das Lassen geht. Der Inquieteur betont nicht die Aktivität, er bringt nicht etwas aus sich hervor, er lässt zu. Er legt dem, was geschieht, nichts in den Weg. Er versucht zu sehen, was man sehen würde, wenn man keine vorgefasste Meinung hätte. Das Zulassen spielt in der modernen Kunst eine große Rolle. Ich meine, die Terminologie des Lassens, Zulassens, Nachlassens hat etwas mit Ruhe zu tun. Sich selbst nicht affizieren lassen von der Unruhe. Eine Einstellung finden, aus der man dem, was geschieht, zuschauen kann, ohne sich selbst immer wieder in die Unruhe hineinreißen zu lassen.

Sind Sie selbst zur Ruhe gekommen?

Wenn man gern und viel schreibt, mindert sich das Problem, weil man sich selbst im Schreiben aufteilt, zugleich als Beobachter fungiert und das Beobachtete zu Protokoll gibt und Formulierungen probiert. Da bildet sich so ein überschaubarer Mikrokosmos, das hat beruhigende Wirkung. Und die großen Schriftsteller haben immer gewusst, dass der Schreibprozess ein Ordnungs- und Orientierungs- und in diesem Sinne auch ein Beruhigungsprozess ist.

Ihr Buch hat einen eher gelassenen Tonfall. Machen Sie nicht zu schnell Ihren Frieden mit der Unruhe?

Ich glaube, es geht gar nicht anders. Wenn meine These richtig ist, kommen wir aus der Unruhe so schnell nicht heraus. Mein Ziel war eine Bestandsaufnahme, und auch wenn ich in Interviews langsam darauf festgelegt werde: Mein Buch ist kein Ratgeber. Ich will nicht gleich auf die zweite Stufe springen und erklären, was wir jetzt tun sollen. Dieser Automatismus, immer gleich Lösungen haben zu wollen, statt innezuhalten und zu fragen, wie es eigentlich um uns bestellt ist: Das ist seinerseits schon so ein Unruhesyndrom. Darauf, erst einmal die Lage zu klären, möchte ich als Philosoph bestehen.

Ralf Konersmann ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel und Direktor des dortigen Philosophischen Seminars.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2016: Ausgebrannt