„Die Einzelkämpferphase ist vorbei“

In unserer Gesellschaft bestimmt Wettbewerb unser Handeln. Der Hirnforscher Gerald Hüther plädiert für eine neue soziale Kultur des Zusammenlebens.

In Ihrem neuen Buch Etwas mehr Hirn, bitte beschreiben Sie, wie Ihnen eines Tages klarwurde, dass man jahrelang an der falschen Stelle geforscht hatte, um zu verstehen, warum ein Mensch sich auf eine bestimmte Weise entwickelt. Man hatte den Schlüssel in der Struktur des Gehirns gesucht und dann entdeckt, dass es auf etwas ganz anderes ankommt, nämlich auf die Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen machen. Warum war es so schwer zu erkennen, dass das Gehirn ein soziales Konstrukt ist?

Bis vor wenigen…

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machen. Warum war es so schwer zu erkennen, dass das Gehirn ein soziales Konstrukt ist?

Bis vor wenigen Jahren sind Neurowissenschaftler noch davon ausgegangen, dass alle Vernetzungen im Gehirn genetisch programmiert sind. Es war außerhalb unserer Vorstellungskraft, dass neue Verschaltungen durch soziale Erfahrungen entstehen könnten. Der modernen Hirnforschung verdanken wir die bahnbrechende Erkenntnis, dass unser Gehirn eine Baustelle ist und sich lebenslang immer wieder umstrukturieren kann. Es gibt keine genetischen Programme, die die Hirnentwicklung in der Baby- und Kleinkindphase steuern. Genetisch wird lediglich ein Überangebot von Vernetzungsoptionen bereitgestellt. Welche davon genutzt und dann auch ausgebaut und stabilisiert werden, hängt davon ab, welche Informationen im Gehirn eintreffen.

In der vorgeburtlichen Phase knüpfen sich die Netzwerke vor allem durch Signalmuster, die aus dem Körper kommen. Nach der Geburt strukturiert sich das kindliche Gehirn vor allem durch soziale Erfahrungen. Und weil jede Familie anders ist, bekommt auch jede und jeder ein anderes Hirn. Alles, was wir später können, haben wir von anderen gelernt und dann weiterentwickelt. Ohne ein erwachsenes Vorbild könnten wir nicht einmal auf zwei Beinen laufen. Selbst Mimik und Gestik sind nicht in dem Sinne angeboren, wie wir das lange Zeit gedacht haben, auch das erlernen wir erst in der Interaktion mit einem Gegenüber.

Ob wir als Kinder Geborgenheit, Liebe und Ermutigung erfahren oder kleingemacht und ständig kritisiert werden, beeinflusst unsere spätere Entwicklung maßgeblich, das hat die Psychologie vielfach nachgewiesen. Wieso ist es ein so großer Schritt, diese Erkenntnisse auf die Hirnforschung zu übertragen?

Natürlich ist dieses Wissen nicht neu. Doch die Neurobiologen waren bis vor kurzem felsenfest davon überzeugt, dass erwachsene Nervenzellen sich nicht mehr teilen können und das Gehirn genetisch determiniert ist und sich nicht mehr verändert. Dieses starre und falsche Konzept haben die Neurobiologen selbst aufgebrochen. Endlich kommen Entwicklungspsychologen nicht mehr in Beweisnöte, weil ihre Erkenntnisse, wie prägend unsere Erfahrungen mit Gemeinschaft sind, sich mit einem plastischen Gehirn, das sich durch Erfahrungen selbst organisiert, erklären lassen.

Heißt das, dass wir uns, so lange wir leben, durch Austausch mit anderen weiterentwickeln und folglich mehr Gemeinschaftserlebnisse brauchen?

Wenn wir wegkommen vom Determinismus, bieten sich völlig neue Perspektiven. Der zentrale Begriff für das 21. Jahrhundert heißt Selbstorganisation. Dieses Konzept verwenden Biologen beispielsweise, um zu beschreiben, wie sich Ökosysteme von selbst stabilisieren. Man kann damit auch nachvollziehen, wie ein Klassenverband, eine Familie oder eine andere menschliche Gemeinschaft funktioniert. Mit Genetik lässt sich ein sich selbst organisierendes System nicht erklären.

Leider haben wir die alten Glaubenssätze, dass unser Verhalten vor allem genetisch gesteuert wird, noch sehr stark verinnerlicht. Selbst wenn wir nur von 50 Prozent genetischer Festlegung ausgehen, trauen wir uns nicht, mutig weiterzudenken, und bleiben in engen Mustern gefangen. Wie oft heißt es noch, wenn einer 70 Jahre alt ist, könne er nichts Neues mehr lernen und auch keine neuen Kontakte mehr knüpfen, dann sei der Zug abgefahren. Stattdessen müssten wir uns nun fragen, wie die Bedingungen aussehen sollten, damit wir auch im fortgeschrittenen Alter noch überraschende und bereichernde Erfahrungen machen können.

In Ihrem neuen Buch kritisieren Sie mehrere Denkfallen. Für besonders destruktiv halten Sie die Überzeugung, dass Wettbewerb wichtig ist, damit wir uns weiterentwickeln. Was ist falsch am Wettbewerbsgedanken?

Wir haben ihn so verinnerlicht, dass er uns wie ein Naturgesetz erscheint. Im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein und in der Wirtschaft bestimmt der Wettbewerb unser Denken, Fühlen und Handeln. Ohne Konkurrenz, glauben wir, gäbe es keinen Anreiz, sich anzustrengen und sich weiterzuentwickeln, weder als Einzelner noch als Gruppe. Wenn die produktive Kraft des Wettbewerbs gepriesen wird, beruft man sich auf Darwin und die Evolution. Wir haben jedoch nie ernsthaft darüber nachgedacht, was durch Wettbewerb in der Natur und in unserem Alltagsleben wirklich begünstigt wird. Tatsächlich führt der durch Konkurrenz erzeugte Druck dazu, dass etwas, was schon existiert, was also bereits als Anlage ausgebildet ist, noch besser ausgeformt wird.

Wenn etwas, was schon da ist, nur noch besser und effektiver wird, handelt es sich dabei jedoch lediglich um eine fortschreitende Spezialisierung, aber es entsteht auf diese Weise kaum Neues. Viele kreative Leistungen, die wir als Menschen vollbringen und die sich als innovative Lösungen, als Weichenstellungen im Laufe der Evolution herausgebildet haben, lassen sich nicht als Folge von Wettbewerb erklären. Ein frühes Beispiel dafür ist der Übergang von Einzellern zu Vielzellern. Bevor sie sich zusammengetan haben, mussten sie einen Mechanismus finden, den Wettbewerb, der immer zur Trennung und Vereinzelung führt, zu überwinden. Das Zusammenbleiben ist also immer das Ergebnis von Begegnung.

Es gibt also noch ein anderes Prinzip, das wir offenbar bisher vernachlässigt haben: Kooperation und Integration. Was heißt das für unser Zusammenleben?

Ich bin überzeugt davon, dass auch für uns, ähnlich wie für die Einzeller damals, die Einzelkämpferphase vorbei ist und wir an einem Punkt stehen, wo wir eine neue Kultur des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens entwickeln müssen, die auf Vertrauen und Kooperation beruht.

Bei dieser Form von Zusammenarbeit geht es nicht mehr darum, sein Wissen nur für die eigenen Karrierepläne zu nutzen, sondern es der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Diese Form von Kooperation gelingt bisher nur selten, weil das Schulsystem und auch das betriebliche Anreizsystem, das wir uns geschaffen haben, die Lust, Erfahrung und Wissen vertrauensvoll und großzügig zu teilen, überhaupt nicht fördern.

Es scheint, als hätten wir uns Strukturen gebastelt, die viele gar nicht mehr wollen und unter denen wir auch leiden. Viele beklagen ja, dass sie keine Lust mehr haben, sich allein durchzukämpfen. Was muss sich ändern?

Wir müssten aufhören, andere als Objekte unserer eigenen Ziele und Maßnahmen zu benutzen, und einander stattdessen als Subjekte begegnen. Dann findet wirklicher Austausch statt, dann entsteht das, was wir Kokreativität nennen. Das ist die Grundlage für Etwas mehr Hirn, bitte. Diesen doppeldeutigen und provokativen Titel habe ich für mein Buch bewusst gewählt, nicht weil ich Menschen auffordern will, ihr Hirn mehr anzustrengen, sondern um klarzumachen, dass wir gemeinsam über deutlich mehr Hirn verfügen als allein. Um auf unserem Planeten langfristig überleben zu können, brauchen wir zwar auch technologische Innovationen, aber vor allem eine neue Form des Zusammenlebens, in der der Einzelne sich eingeladen, ermutigt und inspiriert fühlt, seine Talente und Begabungen zu entfalten zum Wohle aller.

Kränkungen, die Menschen durch mörderische Konkurrenz erfahren, tun weh, soziale Zurückweisung macht einsam, ebenso das Gefühl, unfair behandelt worden zu sein. Das alles hinterlässt deutliche Spuren im Gehirn. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass dabei diejenigen Zentren im Hirn aktiviert werden, die auch für das Schmerzempfinden zuständig sind. Deshalb brauchen wir mehr gegenseitige Unterstützung. Die geeignetste Form dafür sind kleine Gemeinschaften zu Hause, in der Nachbarschaft, am Ausbildungs- und Arbeitsplatz, in denen die Menschen einander ermutigen, über sich hinauszuwachsen, und sich gegenseitig helfen, ihre Lust am gemeinsamen Gestalten wiederzuentdecken.

Ihre Vision für eine neue Kultur des Zusammenlebens sind Potenzialentfaltungsgemeinschaften. Was bedeutet das konkret?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Seit einiger Zeit arbeite ich eng mit der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen zusammen. Das Zusammenspiel in diesem Orchester ist so gut, dass sie auch ohne Dirigenten auskommen. Die Musiker wollen finanziell unabhängig sein und kümmern sich selbst um ihre Finanzierung. Und sie proben in einer Gesamtschule in Bremen in einem schwierigen Wohnviertel, mit dem Ziel, als kultureller Mittelpunkt der Schule das Klima positiv zu beeinflussen. Das ist ihnen auch tatsächlich gelungen. Die Schule ist eine völlig andere geworden. Nebenbei produziert dieses Orchester die weltbesten Beethoven-Einspielungen und macht vor, was für Dimensionen erschlossen werden können durch eine neue Art des Miteinanders. Das verstehe ich unter Potenzialentfaltungsgemeinschaft.

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Das klingt nur so, weil wir nicht mutig genug denken und von Vorstellungen beherrscht werden, die auf völlig überholten Annahmen beruhen. Deshalb fällt es uns schwer, uns Gemeinschaften vorzustellen, die ohne straffe Hierarchien, Chefs und Controlling auskommen. Ich bin schon länger auf der Suche nach Gemeinschaften, in denen etwas entstanden ist, was sich eigentlich keiner vorstellen kann, und werde auch immer wieder fündig.

In Berlin gibt es beispielsweise den großartigen „Straßenchor“. Der Chorleiter Stefan Schmidt zog im Sommer 2009 durch Berlin und fragte Obdachlose, Drogensüchtige und Unterstützer, ob sie Lust hätten zu singen. In wenigen Wochen schaffte der Chor den Sprung von der Straße auf die Bühne. Anfangs kamen die Leute nur zusammen, um zu singen. Inzwischen sind sie zu einer Gemeinschaft geworden, in der sie sich so sehr gestärkt und gefestigt haben, dass nach Aussagen des Chorleiters zwei Drittel wieder eine Wohnung und einen Job haben. Manche leben sogar wieder in einer Partnerschaft. Durch die Kraft der Gemeinschaft ist etwas gelungen, woran Sozialarbeiter, die Obdachlose zu Objekten ihrer Maßnahmen machen, gescheitert sind. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie durch stärkende Gemeinschaftserlebnisse neue Erfahrungen und damit auch neue Verschaltungen im Gehirn möglich werden, die wiederum kraftvolles Handeln ermöglichen. Um diese neue Dimension geht es.

Gerald Hüthers neues Buch Etwas mehr Hirn, bitte. Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten ist Anfang März bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

Wo Verbundenheit ist, da ist auch Glück

Eine aktuelle Studie belegt: Je stärker sich Menschen eines Landes in die Gemeinschaft eingebettet fühlen, desto höher sind Lebenszufriedenheit und Glücksniveau in diesem Land

„Happier together“ – gemeinsam glücklicher. So haben Jan Delhey und Georgi Dragolov – in Anlehnung an einen Evergreen der Turtles – ihre neue Studie überschrieben. In einem Vergleich von 27 EU-Staaten haben die beiden Sozialwissenschaftler von der Universität Magdeburg und der Jacobs University Bremen nachgewiesen: Je stärker sich die Bürger eines Landes in die Gemeinschaft eingebunden fühlen, desto höher sind Lebenszufriedenheit und das Glücksniveau in diesem Land. Für ihre Studie werteten die Forscher Daten des Cohesion Radar der Bertelsmann-Stiftung aus. Anhand von statistischen Daten wie etwa dem Umfang ehrenamtlicher Arbeit sowie repräsentativen Umfragen mit insgesamt rund 35 00 Teilnehmern wurden für jedes der 27 Länder ein nationaler Index des sozialen Zusammenhalts und zwei Indizes der Zufriedenheit und des psychischen Wohlbefindens der Bürger ermittelt.

In Dänemark, Finnland und Schweden fühlen sich die Menschen demnach am wohlsten und selbstbestimmtesten in ihrer Haut (etwa „Ich blicke optimistisch in meine Zukunft“ oder „Ich fühle mich frei, selbst zu entscheiden, wie ich mein Leben leben will“), und sie sind auch bei einem bilanzierenden Blick auf ihr Leben die zufriedensten Bürger in der EU. Und wie sich herausstellte, ist genau in diesen drei Ländern der ermittelte soziale Zusammenhalt ebenfalls der höchste in Europa. Umgekehrt ist es etwa in Griechenland, Bulgarien oder Ungarn um das psychische Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Bürger vergleichsweise schlecht bestellt – und tatsächlich ist auch der soziale Zusammenhalt in diesen Ländern gering. Deutschland landet hinsichtlich Zusammenhalt und Zufriedenheit jeweils im Mittelfeld, Österreich im obersten Viertel. All dies sind keine Zufallsbefunde, sondern sie bilden eine systematische Gesetzmäßigkeit ab: Europäer sind in der Tat glücklicher und psychisch gefestigter in Ländern mit einem hohen sozialen Zusammenhalt. Delhey und Dragolov berechneten, dass alle drei großen Dimensionen, an denen Forscher den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft festmachen, zum Wohlbefinden der Bürger beitragen, nämlich:

Soziale Beziehungen: Die Zufriedenheit ist größer in Ländern, in denen die Menschen belastbare „horizontale Verbindungen“ haben, also gute Freundschaften und soziale Netze, etwa in Vereinen oder Sportclubs. Dazu zählt auch, dass die Bürger ihren Mitmenschen grundsätzlich mit Vertrauen begegnen und Toleranz für andere Lebensentwürfe aufbringen.

Verbundenheit mit dem Ganzen: Diese „vertikale Verbindung“ beschreibt das Maß, in dem sich Menschen mit ihrem Land, seinen Werten und seinen Institutionen identifizieren, verbunden fühlen, ihnen vertrauen. Dazu zählt auch die Einschätzung, dass es in der eigenen Gesellschaft fair und gerecht zugeht. Die Deutschen belegen bei dieser vertikalen Verbundenheit übrigens einen der hinteren Ränge.

Gemeinwohl beschreibt das Ausmaß, in dem sich die Menschen eines Landes für andere und das Gemeinwesen an sich verantwortlich fühlen. Sie respektieren die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und beteiligen sich am politischen und sozialen Leben. In dieser Kategorie ist Österreich in Europa ganz vorn.

In wohlhabenden Ländern, also vor allem in den „alten“ EU-Staaten Westeuropas, ist der Zusammenhang zwischen sozialer Verbundenheit und Zufriedenheit in der Bevölkerung stärker als in den weniger reichen Ländern im Osten. Das könnte schlicht daran liegen, dass Zufriedenheit in den nicht so betuchten Gesellschaften zunächst einmal davon abhängt, dass grundlegende materielle Bedürfnisse befriedigt sind. Es könnte aber auch mit dem „postmaterialistischen“ Wertewandel zusammenhängen, der in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten zu beobachten sei, meinen Delhey und Dragolov. Innerhalb der Länder profitieren nach ihren Daten aber alle sozialen Gruppen vom Zusammenhalt ihres Gemeinwesens: einkommensstarke und einkommensschwache Bürger, Frauen und Männer, Alte und Junge. Fazit der beiden Forscher: „Soziale Faktoren sind der Schlüssel zu einem glücklichen und erfüllenden Leben.“

Thomas Saum-Aldehoff

Jan Delhey, Georgi Dragolov: Happier together. Social cohesion and subjective well-being in Europe. International Journal of Psychology, 2015. DOI: 10.1002/ijop.12149

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2015: Gemeinsam glücklich