Andere Länder, andere Gefühle

Fühlen sich Freude und Wut rund um den Globus gleich an? Anscheinend nicht. Die Gefühlskulturen der Menschen sind so verschieden wie ihre Sprachen.

Eine Frau hält ein Mädchen hoch. Beide haben lockige Haare und lachen ausgelassen in die Kamera
Offenes Lachen: Je nach Kultur werden Gefühle mehr oder weniger stark gezeigt. © plainpicture

Manche Emotionen wispern leise im Hintergrund, andere überfallen uns mit solcher Macht, dass wir ihnen in Freudensprüngen oder Wutausbrüchen Ausdruck verschaffen müssen. Sind solche Regungen angeboren oder erlernt? Erleben Menschen sie in allen Kulturen gleich? Lange haben Psychologen und Ethnologen vor allem nach Universalien gesucht. Der Psychologe Paul Ekman kam in den 1960er Jahren mit der Überzeugung von seinen Reisen zurück, angeborene Basisemotionen gefunden zu haben, und untermauerte seine Theorie…

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von seinen Reisen zurück, angeborene Basisemotionen gefunden zu haben, und untermauerte seine Theorie seither in zahlreichen Studien.

Inzwischen aber betonen viele Forscher die Vielfalt des emotionalen Erlebens: Begriffe wie Furcht oder Ärger sind ein Sammelsurium von ganz unterschiedlichen Erfahrungen, meint etwa die Psychologin Lisa Feldman Barrett (siehe Heft 3/2018: „Wir sind aktive Konstrukteure unserer Gefühle“). Emotionen, wie die Wissenschaft sie definiert, setzen sich aus verschiedenen Aspekten zusammen: dem erlebten Gefühl, dem körperlichen Ausdruck, der kognitiven Bewertung – und auch der sprachlichen Mitteilung. All dies ist nicht unabhängig von der Kultur, in der ein Mensch lebt. Dieser kulturelle Kontext kann sich ganz erheblich von unserem westlichen Gefühlskosmos unterscheiden.

„Ich kam nach Daiden in der Madang-Provinz von Papua-Neuguinea, um mich mit Fragen des Landbesitzes zu befassen“, berichtet die Ethnologin Anita von Poser von der Freien Universität Berlin. „Dann merkte ich, dass die Menschen ständig über Nahrung redeten, wer wann was isst. Ich habe festgestellt, dass es dabei um etwas Tieferes geht, um Emotionen, um Wohlbefinden, um Moral und Empathie, es gab besondere Gerichte für besondere Personen und Situationen. Eine Frau aß aus Trauer über den Tod eines Kindes keinen Reis mehr, und erst als ihr erster Enkel geboren wurde, aß sie wieder davon. Ich fand eine regelrechte Kulinarik der Emotionen vor.“

Das Hauptnahrungsmittel in der Region, in der Anita von Poser forschte, ist Sago, ein Mehl, das aus dem Mark der Sagopalme gewonnen und zum Beispiel zu Fladenbrot verarbeitet wird. Alle Familien pflanzen Sagopalmen an, allerdings darf sich niemand vom eigenen Sago ernähren. Schalen mit Sago wandern von einem Haushalt zum anderen. „Zu schauen, dass alle zu essen haben, ist ein hoher moralischer Wert und hält die Gesellschaft zusammen“, erklärt die Forscherin. Entsprechend drehen sich zahlreiche, vor allem emotionale und moralische Begriffe ums Essen. Von einem geizigen, selbstsüchtigen Menschen heißt es, sein „Gesicht ist überzogen mit verdorbenem Sago“, gibt es Streit, sprechen die Menschen von „zerbrochenen Löffeln“.

Mancherorts kontrolliert man seine Emotionen. In anderen Zivilisationen lebt man sie offensiv aus

Mit Gefühlen, stellte die Forscherin fest, halten die Menschen in Daiden nicht hinter dem Berg. Vielmehr werden die Kinder früh angehalten, ihre Emotionen zum Ausdruck zu bringen und sich in andere einzufühlen. Es werde geradezu als verdächtig angesehen, wenn jemand Emotionen zu verbergen versuche. „Die Menschen haben die Vorstellung, dass Emotionen, die man zurückhält, immer stärker werden und dazu führen, dass man anderen Schaden zufügt. Und da man dort zugleich an Schadenszauber glaubt, durch den Menschen sogar sterben können, kommt es, wenn jemand seine Emotionen nicht zeigt, schnell zu Anschuldigungen, da habe jemand etwas zu verbergen, es sei etwas nicht ausgehandelt worden oder nicht rechtzeitig Frieden gestiftet worden. Das war für mich der faszinierendste Aspekt dieser Gesellschaft, dass man auch die negativen Emotionen, auch schlechte Laune zeigen darf und soll.“

Gabriel Scheidecker, auch er Ethnologe an der FU Berlin, hat bei seinen Forschungen im südlichen Madagaskar eine ganz andere Emotionskultur kennengelernt: „Bei den Bara sind die Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern oder anderen älteren Menschen sehr hierarchisch, es gilt als Zeichen von Respekt, seine Emotionen ihnen gegenüber zu kontrollieren, das lernen die Kinder sehr früh.“ Was den Forscher besonders überraschte: Furcht wird als eine zentrale moralische Emotion angesehen, die die Kinder früh lernen sollen – auch durch körperliche Bestrafung –, um sich normgerecht zu verhalten, und das heißt vor allem: sich den Älteren gehorsam unterzuordnen.

„Diese furchtsame Unterordnung gibt es auch noch im Erwachsenenalter. Allerdings ist sie dann auf Ahnengeister gerichtet: Wenn man sich falsch verhält, so glauben die Menschen, erzürnt man Ahnengeister, die dafür strafen. Wenn man ein Tabu verletzt, könnte man auf der Stelle tot umfallen.“ So nimmt es nicht wunder, dass Scheidecker bei den Bara zahlreiche Begriffe für unterdrückte Wut fand, darunter allein zehn Bauchmetaphern, die etwa vom „schmutzigen Bauch“ sprachen. „Wut gibt es wahrscheinlich überall“, konstatiert Scheidecker, „aber wie diese ausdifferenziert wird, hängt stark von der Kultur ab und davon, wie die Beziehungen strukturiert sind.“

Von Ärger und Scham

Michael Boiger, der am Center for Social and Cultural Psychology der Universität Löwen in Belgien forscht, hat die japanische mit der US-amerikanischen Emotionskultur verglichen. Besonders bei Ärger und Scham fand er Unterschiede: In den USA werde Ärger häufiger intensiv erlebt, in Japan Scham. Zudem wurden die Emotionen anders gerahmt: „Amerikaner sagen, die schlimmsten Schamsituationen sind die, in denen andere mir deutlich machen, dass mit mir etwas nicht richtig ist. Die ­Japaner sagen, am schlimmsten ist es, sich selbst öffentlich bloßzustellen, das Gesicht zu verlieren.“ Andere Studien zeigen: Amerikaner empfinden Emotionen als aus dem Individuum kommend, Japaner als etwas, das aus der Beziehung zu anderen entsteht.

Das emotionale Erleben von Menschen nun ausschließlich aus ihrer Herkunftskultur ableiten zu wollen – Asiaten sind kollektivistisch, Amerikaner individualistisch – greift allerdings zu kurz. „Das funktioniert natürlich nicht, das übersieht die ganz erhebliche Vielfalt innerhalb der Kulturen“, sagt Boiger. Zudem stehen die Kulturen nicht wie Bauklötze nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. „In Japan gibt es eine Strömung, individualistischer sein zu wollen, bei uns, mehr Empathie zu zeigen“, konstatiert er. „Beide haben idealisierte Vorstellungen davon, wie es in der anderen Kultur zugeht.“

Emotionen kommen nicht einfach über uns, sie folgen einer kulturellen Logik

Der Eindruck, dass Emotionen einfach über uns kommen, täuscht, meint Boiger: „Ich habe in meiner Forschung immer wieder bestätigt gefunden, dass Emotionen einer kulturellen Logik folgen. Man sieht, dass in einer Kultur diejenigen Emotionen im Vordergrund stehen, die nützlich sind, um die jeweiligen kulturellen Ideale zu erreichen, um ein typischer Mensch seiner Kultur zu sein.“ In einer individualistischen Kultur wie in den USA ist Ärger hilfreicher, um Ziele zu erreichen, als in Japan, wo die gesellschaftliche Harmonie im Vordergrund steht. „Wenn sich jeder um die Bedürfnisse der anderen kümmert, ist ja auch für jeden gesorgt, Ärger ist da nicht sehr hilfreich.“

Empfinden denn nun alle Menschen dieselben Emotionen? „Ich bin davon überzeugt, dass Emotionen kulturell unterschiedlich erlebt werden“, sagt Wolfgang Friedlmeier, Entwicklungspsychologe mit dem Spezialgebiet Kulturvergleich an der Grand Valley State University in Michigan, USA, „weil wir uns unserer Emotionen bewusst werden und auf sie reagieren können, weil der Ausdruck von Emotionen von Geburt an reguliert wird und der Ausdruck auf das Erleben zurückwirkt und weil es einfach ethnozentrisch wäre, eine solche Gleichförmigkeit anzunehmen.“

In Amerika glaube man, dass die Unterdrückung von Emotionen negative Folgen habe. Demnach müssten alle Mitglieder von Kulturen, die mehr auf Emotionskontrolle setzen, unter solchen Folgen leiden. „Wenn man diese Länder besucht, wird schnell klar, dass dem nicht so ist“, so Friedlmeier. Er vergleicht Emotionen mit Sprachen: „Alle Menschen haben die Sprechfähigkeit für alle Sprachen, aber die erworbene Sprache hängt von der kulturellen Umwelt ab. Kinder haben alle Ausdrucksmuster zur Verfügung, aber wie sie Emotionen ausdrücken und erleben, hängt vom kulturellen Kontext ab.“

In einer fremden Emotionskultur

Was theoretisch klingt, rückt deutlich näher, wenn es um Einwanderung, Migration und Flucht, um all die Konstellationen geht, die dazu führen, dass Menschen, deren emotionales Empfinden in einer Kultur geprägt wurde, in einer anderen leben. Der Sozialpsychologe und Philosoph Pradeep Chakkarath betreut an der Ruhr-Universität Bochum geflüchtete Studierende aus Syrien. Und er sieht, wie sehr sie mit den ungewohnten Anforderungen, die an sie gestellt werden, zu kämpfen haben: „Menschen, die auf Interdependenz erzogen wurden, zeigen sehr große Unsicherheiten, wenn von ihnen erwartet wird, hier an der Universität ständig Individualität zu zeigen, eigene Ideen zu haben, sich abzuheben, auffällig zu werden. Das ist eine Riesenanstrengung und setzt sie stark unter Stress. Manche finden es toll, dass sie den Konformitätsdruck ihrer Kultur los sind, aber das ist eine Minderheit, die anderen haben Schuldgefühle, weil sie etwas für sie Wesentliches aufgeben. Und wenn sie dann etwa Referate mit einer persönlichen Handschrift halten sollen, fühlt sich das für sie an wie Schauspielerei.“

Thi-Minh-Tam Ta ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die „Spezialambulanz für Vietnamesische MigrantInnen“ an der Charité in Berlin. Etwa 25 000 Vietnamesen und deren Nachkommen leben in Berlin, sie gelten als unauffällige und nach den üblichen Kriterien sehr gut integrierte Migrantengruppe. Sie kamen entweder Ende der 1970er Jahre als Flüchtlinge – „Boatpeople“ – nach Westdeutschland oder in den 1980ern als Vertragsarbeiter in die DDR, wo sie nach deren Zusammenbruch plötzlich ohne legalen Status dastanden. Wer wieder Arbeit fand, durfte bleiben, und Arbeit fanden sie häufig, indem sie sich mit kleinen Geschäften oder Restaurants selbständig machten. Das bedeutete für die meisten sehr lange Arbeitstage und wenig Zeit für die Familie.

„Ich höre immer wieder, dass psychische Störungen bei Migranten aus Asien seltener seien“, berichtet Thi-Minh-Tam Ta. „Tatsächlich nahm vor der Gründung unserer Ambulanz kaum ein Vietnamese psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung in Anspruch.“ Das habe aber weniger an deren stabiler Psyche gelegen als daran, dass es keine passenden Angebote gab. „Die Menschen wissen nicht, dass es eine Krankheit sein kann, wenn man ständig traurig und antriebslos ist. Sie denken, man muss sich zusammenreißen, dann geht es schon. Begriffe wie Burnout oder Depression waren den meisten Patientinnen und Patienten völlig fremd.“

Kulturelle Zweisprachigkeit 

Thi-Minh-Tam Ta erlebt in ihrer Sprechstunde Menschen, die versuchen, alles Vietnamesische hinter sich zu lassen, die Brücken abbrechen und deutscher sein wollen als die Deutschen. Und andere, die sich in ihrer Community einigeln und kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben. „Beide fühlen sich nirgendwo zugehörig“, erklärt die Ärztin, „in Deutschland nicht und in Vietnam auch nicht.“ Sie versucht dann, sie dazu zu bewegen, dies als Teil ihres Lebens anzunehmen: „Die Menschen sind unsicher, auch weil sie erleben, dass in Deutschland andere Gefühlsregeln und Emotionsrepertoires als angemessen gelten. Ich versuche ihnen zu erklären, woher ihre Unsicherheit stammt und dass diese nicht verschwinden wird, weil sie nun einmal in beiden Kulturen leben.“

Dass es in der Integrationsdebatte oft heißt, die Migranten müssten sich in erster Linie an die deutsche Kultur anpassen, sieht sie kritisch: „Einige Menschen verlieren dann ihren Halt und ihr Selbstbewusstsein. Ich denke, sie können viel zur deutschen Gesellschaft beitragen, wenn sie in ihren kulturell geprägten Verhaltens- und Erlebensweisen sicher sind und sich mit ihrer Herkunft wohlfühlen.“ Eine solche kulturelle und emotionale Zweisprachigkeit habe auch Vorteile: „Ich versuche den Menschen zu zeigen, dass es schön ist, wenn man zwischen den Kulturen und ihren emotionalen Repertoires wechseln kann“, erklärt Ta. Das sei auch Teil der Therapie.

So seien etwa Achtsamkeit und Empathie in der deutschen Kultur gerade angesagt. „Das lernen die Kinder in Vietnam schon sehr früh. Ich merke selbst, dass ich mich immer zuerst frage, wie es den anderen geht, ob sie auch glücklich sind, ich bin so erzogen.“ Umgekehrt habe sie in den zwölf Jahren, die sie in Deutschland lebt, gelernt, stärker auf die eigenen Emotionen zu achten, öffentlich einen eigenen Standpunkt zu vertreten, Kritik auszusprechen. Ihr Fazit: „Es ist gut, von beiden Kulturen das Beste zu nutzen, das ist eine Art gelungene Integration. Wenn die Patienten das verstehen und erleben können, haben wir viel erreicht.“

Wie es aussehen kann, wenn unterschiedliche Emotionskulturen zusammenstoßen, erklärt Birgitt Röttger-Rössler, die an der FU Berlin den Sonderforschungsbereich Affective Societies leitet. Sie berichtet von vietnamesischen Kindern, die ihren Eltern vorwerfen, sie nie in den Arm zu nehmen, wie es die deutschen Eltern tun. Dass sie ihnen nie sagen, dass sie sie lieben, dass sie immer nur funktionieren und gut in der Schule sein sollen. Eltern und Kinder stehen hier vor der Aufgabe, eine Art hybride Emotionskultur zu entwickeln.

Die Hybris westlicher Theorien

Ohne ein tieferes, auf Forschung gestütztes Verständnis der unterschiedlichen Emotionskulturen besteht die Gefahr, dass Menschen, die nicht nach „westlichen“ Vorstellungen leben und empfinden, diskriminiert werden. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF etwa betreibt eine Kampagne namens Care for Child Development, die dazu beitragen soll, die Erziehungspraktiken zu verbessern. Dahinter steht die Idee, Menschen in Entwicklungsländern blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil sie in früher Kindheit nicht die richtige Unterstützung bekommen. Zugrunde gelegt wird dabei die auf den britischen Psychiater John Bowlby zurückgehende Bindungstheorie.

„Hier wird versucht, die Norm der westlichen Mittelschicht auf die ganze Welt zu übertragen“ kritisiert Gabriel Scheidecker. „Das ist schwierig, denn zum einen werden die Eltern, vor allem die Mütter dafür verantwortlich gemacht, wenn Kinder ihr Potenzial nicht entfalten.“ Zum anderen sei diese Bindungstheorie nicht in allen Kulturen anwendbar. „Es wird übersehen, dass Mütter nicht überall die Spielgefährtinnen ihrer Kinder sind, sondern dass es da ganz viele andere Konzepte gibt.“ Die Forscher plädieren daher dafür, solche Programme erst durchzuführen, wenn die Erziehungspraktiken einer Kultur ausreichend verstanden seien und man sich mit Mitgliedern der Gemeinschaft, einschließlich der Kinder, beraten habe.

Pradeep Chakkarath sieht nicht nur solche Programme kritisch: Der Anspruch, Wissenschaft sei nur Wissenschaft, wenn sie allgemeine Gesetzmäßigkeiten zutage fördere, habe dazu geführt, dass sich die Psychologie so lange so stark mit der Suche nach universellen Emotionen befasst habe, statt sich der Vielfalt zu stellen. „Der Kolonialismus ist vorbei, aber die Wissenschaft ist in großen Teilen kolonialistisch geblieben“, so Chakkarath.

Er habe versucht, die Leselisten für Studierende der Psychologie und der Sozialwissenschaften um Titel nichtwestlicher Autoren zu erweitern (siehe unten: Zum Weiterlesen) – ohne dass dies von vielen Kollegen aufgegriffen worden wäre. „Es gibt jede Menge afrikanische, indische, japanische, chinesische Theoretiker, die natürlich bestimmte Dinge aus ihren kulturellen Blickwinkeln sehen. Trotzdem halten wir daran fest, dass es reicht, die westlichen Theorien zu kennen, um über alle Gesellschaften etwas sagen zu können.“

Es müsse westliche Forscher interessieren, dass es etwa in der wissenschaftlichen Sanskritliteratur die in der westlichen Forschung übliche strenge Unterscheidung zwischen Emotion und Kognition nicht gibt. „Wenn wir uns ansehen würden, wie und mit welchen begrifflichen Werkzeugen andere Menschen, die auch nicht dumm sind, die Welt betrachten, könnten wir unsere für selbstverständlich gehaltenen Annahmen hinterfragen. Und an der Universalität wären wir dann auch viel näher dran als mit der westlichen Suche nach allgemeinen Gesetzen.“

Wären die Menschen zu verschieden, könnten sie gar nicht miteinander reden. Das ist glücklicherweise nicht der Fall. Dennoch ist es wichtig, sich bewusstzumachen, dass Menschen anders denken oder empfinden können, als man es gewohnt ist. „Unsere Fähigkeit zu fühlen mag bei allen gleich angelegt sein, aber wie wir damit umgehen, sie umformen, kodifizieren, transformieren, trainieren, das müssen wir berücksichtigen, gerade in einer Welt, in der Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen zusammenkommen“, sagt Anita von Poser. Michael Boiger plädiert für eine Haltung, die er „kulturell informiertes Nichtwissen“ nennt: „Ich bin jetzt viel eher bereit, Dinge auch erst mal nicht zu verstehen, und gehe offener und neugieriger auf Menschen zu.“

Sind Gefühle also universell oder kulturbedingt? Die Forschung neigt derzeit zu einem entschiedenen Sowohl-als-auch: Biologisch sind sich die Menschen sehr ähnlich, doch wie sie emotionale Reaktionen deuten, ist kulturell geprägt. Mit diesen Deutungen von frühester Kindheit an konfrontiert, lernen Menschen die kulturell erwünschten von den unerwünschten Emotionen zu unterscheiden, lernen ihre Emotionen zu steuern – was wiederum auf das eigene Erleben zurückwirkt. Erst die Kultur macht also die Welt der Emotionen richtig bunt.

Zum Weiterlesen

M. H. Bond (Hg.): The Oxford Handbook of Chinese Psychology. Oxford University Press, Oxford 2010

P. Chakkarath: Grundzüge indischer Psychologie. Buddhistische und hinduistische Beiträge. In: G. Benetka, H. Werbik (Hg.): Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie. Traditionen in Europa, Indien und China (S. 247–268). Psychosozial, Gießen 2018

R. Díaz-Guerrero: Psychology of the Mexican. Culture and personality. University of Texas Press, Austin 1977

A. Haque: Psychology from Islamic perspective: Contributions of early muslim scholars and challenges to contemporary muslim psychologists. Journal of Religion and Health, 43, 2004, 357–377

K. R. Rao, A. C. Paranjipe: Psychology in the Indian tradition. Springer, New York 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2018: Der Ex-Faktor