In meiner Kindheit kämpfte ich an der Seite von Momo gegen die grauen Herren, die uns die Zeit stehlen wollten. Ich reiste mit Jim Knopf in die Drachenstadt Kummerland, wo er eine Prinzessin aus den Fängen der garstigen Frau Mahlzahn befreite. Neben Frodo Beutlin zog ich in das von grässlichen Orks bewohnte Mordor, um einen magischen Ring in einem Feuerberg zu versenken. Ich spürte eine trockene Kehle, als Otto Lidenbrock und sein Neffe Axel beinahe verdursteten – sie hatten sich auf dem Weg zum Mittelpunkt…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Lidenbrock und sein Neffe Axel beinahe verdursteten – sie hatten sich auf dem Weg zum Mittelpunkt der Erde in einem labyrinthartigen Tunnel verirrt. All diese Bücher lehrten mich, was George R. R. Martin einen Protagonisten in der Buchreihe Das Lied von Eis und Feuer sagen lässt: Ein Leser lebt tausend Leben, bevor er stirbt. Wer niemals liest, lebt nur eins.
Maryanne Wolf, Direktorin des Center for Reading and Language Research der Tufts University in Boston, schreibt in ihrem Buch Das lesende Gehirn: „Vielleicht werden wir nie in einem Heißluftballon fliegen, ein Rennen gegen einen Hasen gewinnen und mit Prinzen bis Mitternacht tanzen – aber durch diese Geschichten erfahren wir, wie es sich anfühlt.“ Beim Eintauchen in ein Buch treten wir aus uns heraus und fangen an, „das andere“ zu begreifen. Und trotzdem verzichten immer mehr Menschen auf diese mentalen Reisen.
Die amerikanische Organisation Common Sense Media wertete im Mai 2014 Umfragen aus den vergangenen 20 Jahren aus. Demnach gaben 1984 in den USA acht Prozent der 13-Jährigen und neun Prozent der 17-Jährigen an, in ihrer Freizeit nie oder fast nie in ein Buch zu schauen. 2014 hat sich dieser Anteil fast verdreifacht. Auch Eltern lesen ihren zwei- bis siebenjährigen Kindern weniger vor: 1999 waren es im Durchschnitt 45 Minuten am Tag, 2013 nur noch 30 Minuten. Der Rückgang steht in Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt und dem erhöhten Leistungsdruck in Schulen: Teenager erhalten mehr Hausaufgaben und verbringen ihre restliche Freizeit lieber im Internet als mit Büchern.
Die Forscher stehen angesichts dieses Wandels vor einer Reihe von Fragen: Leidet unser Gehirn, wenn wir weniger Bücher lesen? Werden wir abgestumpft und können uns schlechter in andere Menschen hineinversetzen? Sind wir weniger kreativ und intelligent? Und schließlich: Sind diese Ängste an den Haaren herbeigezogen? Neue Kulturtechniken wurden in der Geschichte selten mit offenen Armen empfangen.
Schon der griechische Philosoph Sokrates spürte ein Unbehagen, als sich abzeichnete, dass die mündliche Überlieferung durch eine Schriftkultur abgelöst wurde. Sokrates hielt die gesprochene Sprache für etwas Lebendiges, das bei der Suche nach Wahrheit, Güte und Tugend helfe – ganz im Gegensatz zum „toten Diskurs“ der geschriebenen Sprache. Über geschriebene Wörter sagte er: „Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets.“
Heute weiß man, dass das Lesen für das Gehirn mehr bedeutet, als die Augen über „tote“ Sätze fliegen zu lassen. Die Geschichten, die wir lesen, stimulieren das Gehirn; sie bereichern unsere Ausdrucksweise und unser Denken. Sokrates hat zwar recht: Bücher sind anders als gesprochene Sprache. Wir drücken uns im Alltag nicht so aus, wie wir es in Büchern lesen. Aber das ist kein Nachteil. Die Sprache in Büchern erfordere von uns eine hohe kognitive Flexibilität, erklärt Maryanne Wolf. Sie bereichert die syntaktischen, semantischen, morphologischen und pragmatischen Aspekte der Sprachentwicklung.
Schriftsteller vermitteln Werte
Wolf beruft sich unter anderem auf Studien der Forscherin Victoria Purcell-Gates von der University of British Columbia, Kanada. Purcell-Gates teilte in einem Experiment Kinder in zwei Gruppen ein, je nachdem, ob sie viel lasen oder wenig. Sie bat ihre jungen Probanden, ein persönliches Ereignis, etwa eine Geburtstagsfeier, nachzuerzählen. Außerdem sollten sie so tun, als würden sie einer Puppe eine Geschichte vorlesen. Die Kinder, die viel lasen, nutzten eine spezielle, literarische Sprache und bildeten anspruchsvolle syntaktische Formen, lange Sätze und Relativsätze. Sie waren besser darin, verbale und geschriebene Berichte anderer Menschen zu verstehen. Das Lesen bietet folglich eine einzigartige Grundlage für ein besseres Verständnis der Welt, schlussfolgert Wolf.
Auch der klassische Satz „Lesen bildet“ hat sich als korrekt erwiesen. „Beim Lesen nehmen wir einen enormen Anteil von Wissen auf, ohne dass wir es merken – einfach weil wir lesen“, sagt Sascha Schroeder vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er erforscht mit der Gruppe „REaD“ Schriftspracherwerb und Leseentwicklung. „Lesen wir seltene Wörter wie Burgfried oder Zwinger, nehmen wir das in unser Gedächtnis auf. Diese Begriffe und ihre Bedeutung erweitern fortan unser Verständnis von Burgen und dem Burgleben.“
Die Geschichten in Büchern haben zudem Einfluss auf unser Weltbild. Markus Appel, Medienpsychologe an der Universität Koblenz-Landau, sagt: „Das Bild, das wir beispielsweise von einer Stadt wie Miami haben, ist geprägt von fiktiver Literatur und von Filmen. Das ist interessant, weil Roman- und Drehbuchautoren die Freiheit haben, Dinge zu erfinden– aber trotzdem unser Weltbild verändern.“ Durch Geschichten nehmen wir oft mehr auf als durch Auflistungen von Fakten. „Fakten lernen ist entwicklungsgeschichtlich etwas Neues“, sagt Appel. „Der Prozess ist nicht intuitiv. Viele erfolgreiche Lehrer oder Redner verpacken Wissen in spannende Geschichten.“ Schriftsteller vermitteln deshalb auch Werte. „Behandelt eine fiktive Kurzgeschichte zum Beispiel das Thema Organspende auf eine Weise, die uns berührt, ändern wir unsere Einstellung dazu.” Dan Johnson von der Universität Washington etwa las in einem Experiment eine Kurzgeschichte vor, in der es um Mitgefühl ging. Ein Assistent des Forschers ließ nach der Lesung wie zufällig sechs Stifte fallen. Menschen, die sich zuvor mit der Geschichte emotional identifiziert hatten, neigten eher dazu, die Stifte aufzuheben.
In einer anderen Studie forderte ein Team um Ulrike Stadler-Altmann von der Universität Koblenz-Landau 24 Probanden auf, auf einem Bildschirm Kurzgeschichten zu lesen. Einige enthielten negative Emotionen, andere waren neutral. Die eine Hälfte der Geschichten wurde vorab als Tatsachenberichte gekennzeichnet, die andere als Fiktion. Die Forscher beobachteten die Vorgänge im Gehirn während der Lektüre mittels fMRT. Bei Menschen, die eine faktische Geschichte lasen, waren der prämotorische Kortex und das Kleinhirn besonders rege. Diese Regionen sind stärker aktiv, wenn wir Handlungen mit einigem Abstand beobachten. Bei fiktiven Geschichten hingegen reagierte das Gehirn, wie wenn wir Gefühle verarbeiten oder über andere Menschen nachdenken: Wir sind von vornherein bereit, uns in andere Charaktere hineinzuversetzen.
Zum gleichen Schluss kommt Raymond Mar, Psychologe an der kanadischen York University. Er fasste für die Fachzeitschrift Annual Review of Psychology 86 Studien zusammen, in denen das „lesende Gehirn“ per fMRT untersucht wurde. Mar schreibt, dass es in unseren neuronalen Netzwerken eine Überlappung gibt zwischen dem Bereich, mit dem wir Geschichten begreifen, und dem, den wir bei Interaktionen mit anderen Menschen nutzen. Die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen – ihre Sehnsüchte, ihren Frust, ihre versteckten Motive –, bezeichnen Psychologen als theory of mind. Je mehr Geschichten Kinder lesen, desto stärker ist diese Fähigkeit ausgeprägt. So wie Meteorologen eine Computersimulation nutzen, um komplexe Vorgänge des Klimas zu verstehen, helfen Romane, Geschichten und Dramen, die Komplexität des Lebens zu begreifen.
Was das Internet ändert
Viele der Studien über das Lesen stammen aus den vergangenen 10 bis 20 Jahren. Damit fallen sie in die Zeit des digitalen Medienwandels. Allerdings wird oft übersehen, dass die neuen Medien lediglich den gedruckten Text verdrängen, nicht das Lesen an sich. Im Internet hat das geschriebene Wort eine bedeutende Stellung behalten. „Ein großer Teil der Informationen im Internet basiert auf Texten“, sagt Sascha Schroeder. Kurznachrichten, Twitter, Blogs, Facebook, Onlineportale und Foren würden ohne Texte nicht funktionieren. „Wir lesen womöglich sogar mehr als früher – aber vielleicht anders.“
Wir lesen zum Beispiel schneller. 2006 fanden Analysten der Nielsen Norman Group in einer Studie heraus, dass wir Texte auf Webseiten regelrecht überfliegen. Wir scannen Onlinetexte so, dass sich ein F-Muster ergibt: Wir lesen die ersten Zeilen komplett, dann driften wir am linken Rand nach unten, im mittleren Textbereich steigen wir nochmal ein und lesen einige Zeilen zu Ende. Den Rest des Textes nehmen wir nur flüchtig wahr. 2013 wertete das Onlinemagazin Slate das Leseverhalten seiner Leser aus: Von 161 Lesern eines Textes stiegen 61 sofort aus, nachdem sie die Seite aufgerufen hatten. Weitere fünf Leser weigerten sich, zu scrollen. Nach der Hälfte des Textes waren noch 50 Leser übrig. Es wurden von Zeile zu Zeile weniger.
Viele Blogger und Leser bestätigen, dass sie neuerdings keine längeren Texte mehr lesen können: Die Bloggerin Lois Alter Mark schreibt: „Ich fange immer ein Buch an, werde nervös, lege es weg und fange ein neues an.“ Der Blogger und Pathologe Bruce Friedman erklärt in der Zeitschrift Atlantic: „Ich kann ‚Krieg und Frieden‘ nicht mehr lesen. Ich habe nicht mehr die Fähigkeiten dafür. Selbst ein Blogbeitrag mit mehr als drei oder vier Absätzen ist mir zu viel.“
Die Unkonzentriertheit wirkt sich auf das Lernverhalten aus. Larry Rosen von der California State University am Standort Dominguez Hills bat 263 Schüler, 15 Minuten in ihrer bevorzugten Lernumgebung eine Hausaufgabe zu erledigen. Bereits nach zwei Minuten ließen sich viele ablenken. Sie schrieben Kurznachrichten oder nutzten soziale Medien. Durchschnittlich widmeten sie nur 65 Prozent der Zeit ihren Aufgaben, obwohl sie wussten, dass sie beobachtet wurden. „Wir hatten angenommen, in dieser arrangierten Situation würden die Leute sich bemühen, uns zu beeindrucken“, sagte Rosen gegenüber NBC News. „Offen gesagt, war ich entsetzt, wie leicht sie sich ablenken ließen.“ Die ständigen Stimuli im Internet unterbrechen den Übergang von Informationen aus unserer sensorischen Wahrnehmung in das Arbeitsgedächtnis und von dort in das Langzeitgedächtnis. Rosen sieht das Ende des tiefen Lesens auf uns zukommen, falls wir nicht lernen, mit den Ablenkungen umzugehen.
Gedrucktes bleibt im Gedächtnis
Selbst E-Books, die Bücher imitieren, könnten einen Einfluss auf das Textverständnis haben. Die norwegische Forscherin Anne Mangen von der Universität Stavanger in Norwegen bat je 25 Studierende, eine Kurzgeschichte auf dem Lesegerät Kindle zu lesen oder als Taschenbuch. Anschließend sollten sie 14 Ereignisse im Buch chronologisch ordnen. Studierende, die das Taschenbuch gelesen hatten, schnitten besser ab als die Kindle-Leser. „Das haptische und aktive Feedback des Kindle unterstützt die mentale Rekonstruktion einer Geschichte nicht so wie ein gedrucktes Buch“, sagt Mangen. Wir können uns zum Beispiel erinnern, dass die Liebesszene vor dem Streit kam, weil sie links unten im vorderen Teil des Buches stand. Gedächtniskünstler nutzen diese Art des örtlichen Erinnerns, wenn sie lange Zahlenreihen auswendig lernen. Sie verteilen die Zahlen in den Räumen eines Hauses, das sie beim Lernprozess mental durchwandern. Beim Abruf der Zahlen gehen sie das Haus in ihren Gedanken erneut durch.
Bei digitalen Medien fällt diese Art des Erinnerns weg – alle Informationen kommen vom selben Ort, dem Bildschirm. Doch nicht alles, was auf dem Bildschirm geschieht, wirkt sich schlecht auf unser Gehirn aus. Stephanie Gottwald, eine Kollegin von Maryanne Wolf an der Tufts University, sagt: „Eine aktive Zeit am Bildschirm – etwa bei Videospielen – führt zu einer besseren Hand-Augen-Koordination.“ Sie glaubt, dass der digitale Wandel insgesamt mit positiven wie negativen Veränderungen einhergehe. „Ich vermute, wir werden bestimmte Fähigkeiten verlieren und neue erringen.“
Fiktive Literatur hat es freilich im Internet bislang schwer. Der britische Schriftsteller Neil Gaiman, der intensiv soziale Medien wie Twitter und Facebook nutzt, hofft daher, dass Menschen auch in Zukunft zum gedruckten Buch greifen. In einem Vortrag sagte er: „Fiktive Literatur kann dich irgendwohin mitnehmen, wo du noch nie warst. Wenn du diese Welt besucht hast, bist du nicht mehr mit der Welt zufrieden, in der du aufgewachsen bist. Unzufriedenheit ist etwas Gutes: Unzufriedene Menschen können die Welt verändern und verbessern.“ Solche Menschen bräuchte es in Zeiten, in denen E-Mails und Onlinetexte dominieren. Albert Einstein hatte diese Erkenntnis schon früher: „Möchtest du, dass deine Kinder intelligent sind, lese ihnen Märchen vor. Möchtest du, dass Kinder intelligenter werden, lese ihnen noch mehr Märchen vor.“
Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010
Ulrike Altmann u. .: Fact vs fiction – how paratextual information shapes our reading process. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 9/1, 2014, 22–29. DOI: 10.1093/scan/nss098
Raymond Mar: The neural bases of social cognition and story comprehension. Annual Review of Psychology, 62, 2011, 103–134. DOI: 10.1146/annurev-psych-120709-145406
Anne Mangen u. .: Mystery story reading in pocket print book and on Kindle: possible impact on chronological events memory. Vortrag bei der International Society for the Empirical Study of Literature and Media, Turin, 2014
Riechen, schmecken, fühlen
Geschichten bieten ein sinnliches Erlebnis. 2006 untersuchten spanische Forscher von der Universität Jaume I Castelló, was bildliche Wörter im Gehirn auslösen. Die Forscher blendeten ihren Probanden auf einem Bildschirm Wörter wie „Parfüm“ und „Kaffee“ ein. Die Vorgänge im Gehirn wurden mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) gemessen. Der Gehirnbereich, der bei der Wahrnehmung von Gerüchen aktiv ist, war beim Lesen dieser Wörter aktiviert. Bei den Wörtern „Stuhl“ und „Schlüssel“ reagierte er nicht. Forscher der Emory University testeten unsere Reaktion auf Metaphern wie „Er hatte ledrige Hände“. Dabei war der somatosensorische Cortex aktiv, der den Tastsinn verarbeitet. Der Satz „Er hatte kräftige Hände” hingegen löste dort nichts aus. Anscheinend „spürt“ das Gehirn Texturen, auch wenn wir sie uns nur vorstellen. Véronique Boulenger vom Laboratoire Dynamique Du Langage in Lyon fand heraus, dass Sätze wie „John fängt ein Objekt“ den motorischen Kortex, der unsere Körperbewegung koordiniert, ansprechen.
von Boris Hänssler
Julio González u. .: Reading cinnamon activates olfactory brain regions. Neuroimage, 32/2, 2006, 906–912. DOI: 10.1016/j.neuroimage. 2006.03.037