F ast die Hälfte der Menschen im Alter zwischen 18 und 34 sind „Jungfrauen“, sie hatten noch nie in ihrem Leben Sex. In der Gesamtbevölkerung sind unter den Ledigen 70 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen ohne Beziehung. Sie haben sich anderen Formen der Sexualität – etwa via Internet oder unter dem Einsatz von Puppen und Robotern – sowie der Selbstverwirklichung zugewandt.
Nein, dieses Szenario ist keine Vision einer bizarren Zukunft, sondern es sind Fakten aus der heutigen Realität Japans, erhoben…
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es sind Fakten aus der heutigen Realität Japans, erhoben 2015 vom Japanischen Institut für Bevölkerungs- und Sozialstudien. Die Forscher dort konstatieren seit 1987 ein abnehmendes Interesse an Beziehung, Sex und Eheleben bei jungen Menschen – mit erheblichen demografischen und sozialen Folgen. Zwar nicht schamlos, aber gewissermaßen unverschämt findet es Premierminister Shinzo Abe, dass Menschen im besten reproduktionsfähigen Alter seine Aufforderung, sich wieder vermehrt zu vermehren, einfach ignorieren.
Japan mag ein Spezialfall sein, aber auch in den USA, in Australien und in europäischen Staaten geht der Trend in Richtung späterer und seltenerer Sex. Laut dem britischen National Survey of Sexual Attitudes and Lifestyles hatten Befragte im Alter zwischen 16 und 44 im Jahr 2001 im Durchschnitt noch mehr als sechsmal pro Monat Sex – im Jahr 2012 kam die nachwachsende Generation in dieser Altersgruppe nur noch auf weniger als fünfmal. Auch im traditionell freizügigen Schweden kam eine landesweite Studie zu dem Ergebnis, dass das Sexleben dort heute karger ist als vor zwanzig Jahren. Laut einer niederländischen Studie stieg das mittlere Alter, in dem Heranwachsende zum ersten Mal Geschlechtsverkehr haben, von 17,1 Jahren im Jahr 2012 auf 18,6 Jahre im Jahr 2017.
In Deutschland sind die Befunde zwar nicht ganz so eindeutig, doch die Tendenz geht in die gleiche Richtung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat seit 1980 insgesamt achtmal die Einstellungen und das Verhalten junger Menschen zur Sexualität untersucht. Nach den Studienergebnissen nahm die Zahl derjenigen Jugendlichen, die bereits mit 14 Jahren Sex hatten, bis kurz nach der Jahrtausendwende zu. Danach aber gingen die Werte von ursprünglich 10 bis 12 Prozent bei beiden Geschlechtern auf zuletzt 6 Prozent bei den Mädchen und 3 Prozent bei den Jungen zurück. Betrachtet man die 14- bis 17-Jährigen gemeinsam, zeichnet sich die gleiche erst ansteigende und dann zurückschwappende Welle ab: 1980 hatten 25 Prozent der Mädchen und 15 Prozent der Jungen dieser Altersgruppe Sex, 2005 waren es 39 und 33 Prozent, 2014 nurmehr 34 und 28 Prozent.
In den USA fand die Psychologin Jean Twenge von der San Diego State University heraus, dass in den 1960ern Geborene nur zu 6 Prozent angaben, zwischen 18 und 24 Jahren keinen Sex praktiziert zu haben, während es bei den in den 1990ern Geborenen 15 Prozent waren. Junge Menschen in Deutschland zwischen 18 und 25 Jahren, die in der Studie Jugendsexualität erstmals ebenfalls befragt wurden, gaben immerhin zu 36 Prozent an, nur zeitweise oder gelegentlich sexuell aktiv zu sein, 7 Prozent waren gänzlich abstinent – die Angaben von Frauen und Männern unterschieden sich hier kaum. Als entscheidend erwies sich in der deutschen Erhebung, ob sich die Befragten in einer festen Partnerschaft befanden, denn vor allem dort wurde Sexualität ausgelebt. Singles hingegen hatten selten Sex. Als Gründe, nicht in einer Beziehung zu leben, gaben die allermeisten an, noch nicht den Richtigen, die Richtige gefunden zu haben. Treue galt in allen Altersstufen als hoher Wert.
Der gelikte Leib
Die lockeren Zeiten der 68er mit körperlicher Freizügigkeit in vielerlei Hinsicht sind ganz offensichtlich vorbei. Jugendliche nackt am See, Barbusige im Park, Frauen ohne BH – all das sind Erscheinungen von gestern. Was steckt hinter der Zurückhaltung? Wie stehen junge Menschen heute zu ihrem Körper, wie leben sie ihre Körperlichkeit?
Einen großen Teil ihrer Zeit investieren Jugendliche, und nicht nur sie, heute in die digitale Welt. Sichtbar sein ist die Losung. Auf Instagram, WhatsApp und Co wird gechattet, gepostet, geteilt und kommentiert, inszeniert und kaschiert, gelikt und dislikt – oft genug, leider, auch gehatet. Die Medienpädagogin Iren Schulz bezeichnet Selfies als den Maßstab dieser Sichtbarkeit, Likes als deren Währung. Jugendlichen genüge es nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten, so die Dozentin für Pädagogik der Kindheit an der Universität Erfurt, mediale Vorlagen und Schönheitsideale zu rezipieren, sie wollten sie auch reproduzieren, um in Beziehung mit anderen zu treten und sich zu integrieren.
Wer heute beispielsweise die Sendung Germany’s Next Topmodel anschaut, sieht nicht nur fern, sondern kann sich über Facebook, Twitter und Instagram mit den Kandidatinnen „anfreunden“ und ihr Verhalten kommentieren, scheinbar sind sie ganz nah. Von solchen „Freundinnen“ inspiriert, werden dann auch Handlungsimpulse quasi als Gebrauchsanweisung für die eigene Selbstinszenierung genutzt. Insofern spielten Medien, so Iren Schulz, nicht mehr nur eine ergänzende, sondern eine konstitutive Rolle für die Beziehungen von Jugendlichen – und dies wirkt sich auf den Begriff vom und den Anspruch an den Körper aus.
Bente Knoll vom Büro für nachhaltige Kompetenz in Wien hat genderspezifische Unterschiede bei der Nutzung von Onlinemedien bei Jugendlichen untersucht. Sie stellte fest, dass in Selbstpräsentationen auf Fotos und Videos, die online gestellt wurden, Jugendliche häufig Posen, Perspektiven und Kleidung zeigen, die in irritierender Weise Rollenklischees erfüllen. Mädchen und junge Frauen zeigten sich oft lasziv und mit Kussmund oder in freizügiger Bekleidung. Jungen präsentierten sich seltener nackt, sondern eher in Trainingspose und stellten ihr „Mannsein“ auf diese Weise bildlich unter Beweis.
Einen Schritt weiter im Onlineflirt geht „Sexting“, entstanden aus „Sex“ und „Texting“. Iren Schulz beschreibt Sexting als das Erstellen, Bearbeiten, Versenden und Teilen erotischer Fotos, wobei Jungen empirisch belegt eher Empfänger solcher Bilder seien und auch aktiv danach fragten. Mädchen seien eher die Versenderinnen. Somit bleibe für Mädchen das größere Risiko, auf beschämende Weise bloßgestellt zu werden, wenn Jungen solche Fotos weiterverbreiten.
All das Posten und Liken ist jedoch kein realer Körperkontakt. Ersetzt Sexting vielleicht Petting? Touchscreens statt Berührungen? Wahrscheinlich trifft das auf die meisten jungen Menschen nicht zu. Der Onlineflirt ist häufig ein Vorspiel zu echten, auch körperlichen Begegnungen, die später folgen. Manchmal jedoch scheinen die digitalen Medien direkte Formen der Annäherung und des Gesprächs tatsächlich zu ersetzen. Untersuchungen zum „Stubenhockerphänomen“ zeigen, dass heutige Jugendliche und junge Erwachsene weniger Zeit mit Freunden, mit Ausgehen, überhaupt außerhalb ihrer eigenen vier Wände verbringen als die Generation ihrer Eltern.
Wie soll man da jemanden kennenlernen? Die Folgen des Stubenhockertums sind oft nachhaltig: Wer in jungen Jahren keine sexuellen Erfahrungen macht, läuft Gefahr, dass er auch später keine machen wird. Eine Studie an der University of California, basierend auf der Befragung von 2469 Männern und 5120 Frauen im Alter zwischen 25 und 45, kam vor zehn Jahren zu dem Ergebnis: „Wenn ein Mann oder eine Frau im Alter von 25 Jahren keinen Geschlechtsverkehr hatte, besteht die begründete Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie auch im Alter von 45 noch Jungfrau sein wird.“
Duschen in Unterwäsche
Dass die medienerfahrenen Jugendlichen unsicher werden, wenn sie direkt mit ihrer Körperlichkeit konfrontiert sind, zeigt eine nichtrepräsentative Befragung des Deutschen Sportlehrerverbandes von 2018 unter Sportlehrern an Schulen in Niedersachsen. Es ging darum, wie es um das Körperbewusstsein und die Schamhaftigkeit rund um den Sportunterricht aktuell steht. Der Umgang mit dem eigenen Körper, so die Lehrkräfte, werde bei vielen Jugendlichen als Herausforderung gesehen. Ab der Jahrgangsstufe neun, also mit etwa 15 Jahren, werde dem Körper immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Viele Jugendliche nutzten nicht nur den Sportunterricht zum Bodystyling, sondern gingen auch ins Fitnessstudio, um an ihrem Körper zu arbeiten. Auf dem Laufband und an den Geräten würden dann Fettpolster in Muskeln verwandelt.
In den Umkleidekabinen und Duschräumen vor und nach dem Sportunterricht gehe es allerdings erstaunlich schamhaft zu, so die Sportpädagogen. Beim Duschen trügen die meisten Unterwäsche oder Badebekleidung, oft werde aus Scham gar nicht geduscht. Die Körperscham sei heute deutlich ausgeprägter als ein bis zwei Schülergenerationen zuvor. Auch diejenigen, die sonst auf „dicke Hose“ machten, seien im Umkleideraum eher kleinlaut.
Diese Entwicklung zeichnete sich bereits zur Jahrtausendwende ab, als in einer empirischen Untersuchung an der Universität Heidelberg 60 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren zu ihrer Körperscham befragt wurden. Schon damals war „Nacktheit“ deutlich stärker von Schamreaktionen betroffen als Situationen mit sexuell gefärbtem Inhalt. Die Erklärung der Wissenschaftler: Die ständige Präsenz von Sexualität und der öffentliche Diskurs darüber löse die sexuelle Scham sukzessive auf. Anders sei dies bei der Scham, seinen unbekleideten Körper zu zeigen: Hier „scheint es so zu sein, dass die Körperscham insbesondere in Interaktionen von mittlerer sozialer Distanz ausgelöst wird“, so die Autoren um Joachim Rosenkranz. Vor dem Intimpartner, aber auch vor völlig fremden Personen schäme man sich hingegen weniger.
Der Körper als Imperativ
Man schämt sich also weniger der eigenen Sexualität (etwa indem man unverblümt Pornos anschaut) als der vermeintlichen Unzulänglichkeit des eigenen Körpers. Haben Filme, Bilder und die Ergebnisse von Photoshop, die alle vorgeblich perfekte Körper zeigen, Gefühle der Minderwertigkeit bei Jugendlichen befördert? Sehr wahrscheinlich. Nora Gaupp und Christian Lüders vom Deutschen Jugendinstitut in München haben 2016 in ihrem Beitrag „Mach was aus dir!“ die Selbstinszenierung Jugendlicher untersucht und Selbstoptimierung als generellen, alle Lebensbereiche durchziehenden Imperativ bei ihnen ausgemacht. Ein „unternehmerisches Selbst“ übernehme das Regiment des eigenen Lebens, mit „Selfbranding“ werde versucht, aus dem Ich eine Marke in den sozialen Medien zu machen. Um diese hochgesteckten Ziele zu erreichen, sind Anstrengungen am Körper in der realen Welt unabdingbar. Hierzu zählen Ernährung und Sport. Bereits 14-Jährige sprächen darüber, welche Sportart die Muskeln vorteilhaft stählt und wie man sich gesund ernährt.
Von Magersucht bis Binge-Eating
Doch der Imperativ einer gesunden Lebensführung kann sich verselbständigen. Mädchen und Jungen bewerten eine Diskrepanz zwischen geschlechtsspezifischen, vermeintlich idealen Körpernormen und dem Selbstbild als negativ. Laut der Dr.-Sommer-Studie 2016, bei der im Auftrag der Zeitschrift Bravo 2492 Jugendliche im Alter zwischen 11 und 17 Jahren befragt wurden, hat bereits jedes zehnte elfjährige Mädchen eine Diät gemacht, mit 17 Jahren sind es 45 Prozent. 30 Prozent der Mädchen und 15 Prozent der Jungen zeigen subklinische Formen des Essverhaltens, zum Beispiel das Empfinden, zu dick zu sein und abnehmen zu müssen, obwohl medizinisch kein Übergewicht vorliegt. Nicht selten entstehen daraus klinisch manifeste Essstörungen wie Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating.
Rund ein Viertel der 16- bis 18-jährigen Jugendlichen (mehr Jungen als Mädchen) gehen ins Fitnessstudio, oft begleitet von Pulsuhren, Schrittzählern und anderen Wearables, die als permanente Antreiber agieren und das Potenzial besitzen, hohen Leistungsdruck zu erzeugen. Bei Jungen geht der Wunsch nach einem muskulösen, sportlichen Körper oft über die persönliche körperliche Grenze hinaus, mit Diäten und muskelaufbauenden Nahrungsergänzungsmitteln, die gesundheitlich auch Risiken bergen, wird nachgeholfen. Hier wie auch bei Mädchen, die sich als „zu dick“ empfinden, wird häufig eine Körperbildstörung nachgewiesen, die den eigenen Körper schmächtiger oder kräftiger erscheinen lässt, als er objektiv ist, so Janine Trunk von der Hochschule Döpfer in Köln.
Schönheits-OP mit 18
Zu dem sogenannten riskanten Schönheitsverhalten zählen auch plastisch-chirurgische Eingriffe – vier von zehn Mädchen und zwei von zehn Jungen würden laut Dr.-Sommer-Studie eine geschenkte Schönheitsoperation annehmen. Da wundert es nicht, dass die nächstältere Generation der 18- bis 30-Jährigen, die doch eigentlich für Schönheit und Straffheit im jungen Erwachsenenalter steht, zu den Altersgruppen gehört, die am häufigsten Veränderungen vornehmen lassen. Auch Tätowierungen zählen längst zum Körperkult, sie sind heute ein selbstverständlicher Teil der Jugend- und Alltagskultur, dienen der Abgrenzung oder als Hingucker, bergen aber auch Risiken.
Doch man findet daneben Stimmen und Selbstdarstellungen, die quer zur Inszenierung und Optimierung des eigenen Körpers stehen und mit Klischees brechen. Dies zeigt sich in Foren wie YoungGay, aber auch in der Heterowelt. 2018 wurde ein Lied auf YouTube hochgeladen, das Hamburger Schülerinnen einer Stadtteilschule mithilfe der Gruppierung Pinkstinks aufgenommen haben: Not Heidis Girl wendet sich gegen Rollenklischees und Beautystress bei Germany’s Next Topmodel. 850 000 Aufrufe verzeichnete der Clip.
Literatur
Bravo: Dr.-Sommer-Studie 2016. Bauer Media Group, Hamburg 2016
Heidrun Bode, Angelika Heßling: Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2015
Jean M. Twenge: Declines in sexual frequency among American adults, 1989–2014. Archives of Sexual Behavior, 46/8, 2017. DOI: 10.1007/s10508-017-0953-1
Iren Schulz: „Spieglein, Spieglein an der Wand …“ Die Bedeutung digitaler Medien im Jugendalter am Beispiel des Umgangs mit Schönheit, Körperlichkeit und Sexualität. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 46/2, 2015, 22–33
Bente Knoll: Ich im Netz. Selbstdarstellung von weiblichen und männlichen Jugendlichen in sozialen Netzwerken. Büro für nachhaltige Kompetenz, Wien 2013
Joachim Rosenkranz u. a.: Körperscham bei Jugendlichen – eine empirische Untersuchung. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 32/1, 2000, 25–33
Nora Gaupp, Christian Lüders: „Mach was aus dir!” Selbstinszenierung und Selbstoptimierung bei Jugendlichen – Freiheit oder Zwang? ProJugend 2/2016, 4–9