Gestern war er doch noch da

Unsere Kolumnistin Mariana Leky über den Briefkasten um die Ecke - und eine große Leerstelle.

Die Illustration zeigt eine Frau, die an einem gelben Briefkasten steht, der bald verschwinden wird
Mit dem Briefkasten verschwand zugleich ein kleines Tor zur Welt – Australien vielleicht. © Elke Ehninger

Vorhin bat mich meine Mutter, einen Brief zum Briefkasten zu bringen. Als ich ankam, war der Briefkasten verschwunden – und nichts deutete darauf hin, dass er jemals da gewesen war. Ich weiß nicht, ob es einen Begriff für den Moment der Verwirrung gibt, wenn etwas seit Jahrzehnten fest Installiertes plötzlich weg ist; für diesen Moment, in dem man an der Wirklichkeit zweifelt und denkt: „Das kann doch nicht sein“, für diesen kurzen verstörenden Wackelkontakt mit der Realität.

Nachdem ich sekundenlang die…

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kurzen verstörenden Wackelkontakt mit der Realität.

Nachdem ich sekundenlang die Wirklichkeit im Verdacht hatte, nicht mehr zu stimmen, versuchte ich sicherheitshalber, lieber mir die Schuld zu geben: Vielleicht war ich falsch abgebogen, vielleicht war das gar nicht die Briefkastenstraßenecke. Aber das konnte ebenso wenig sein. Ich kenne den Weg zum Briefkasten im Schlaf, meine Familie bringt ihm seit mindestens fünfzig Jahren all ihre Briefe. Wir haben hier Geburts- und Todesanzeigen eingeworfen, Weihnachts- und Geburtstagspost, Bewerbungsschreiben, Gutachten, Rechnungen, Lösungsworte von Kreuzworträtseln, verzierte Liebesbriefe, Schlussmachbriefe, der Briefkasten war jahrzehntelang ein Tor zur Welt.

Ich stehe also verstört an der Stelle, an der nichts darauf hindeutet, dass hier immer der Briefkasten gewesen ist, und dann sehe ich Frau Blom nahen. Frau Blom ist um die achtzig und schickt von hier raus regelmäßig Briefe an ihre Tochter in Australien. Kurz stelle ich mir vor, wie Frau Blom mit ihrem Brief vor einem plötzlich verschwundenen Briefkasten steht, und das sieht so verloren aus, dass ich ihr entgegenlaufe, um sie zu warnen, als sei die Briefkastenleerstelle der Tatort eines blutigen Verbrechens. „Frau Blom“, sage ich, „der Briefkasten ist weg. Besser, Sie schauen sich das nicht an.“

Wackelkontakt zur Realität

„Das kann nicht sein“, sagt Frau Blom fassungslos, „gestern war er doch noch da“, und es rührt mich, dass Frau Blom und ich in der Tatsache, dass etwas gestern noch da war, ein stichhaltiges Argument sehen dafür, dass es auch heute noch da sein muss. Frau Blom sagt erst mal nichts mehr, weil man sprachlos ist, wenn man einen Wackelkontakt zur Realität hat.

Ein Postbote kommt uns entgegen. Er schiebt sein Lieferrad sehr langsam, als seien nur Mahnungen und falsche Lösungsworte darin. „He“, sage ich barsch, „wo ist unser Briefkasten?“ „Guten Morgen erst mal“, sagt der Postbote, „der wurde offenbar abgebaut.“ „Das geht doch nicht“, sage ich. „Offenbar schon“, antwortet der Postbote. „Sie haben keine Ahnung, was uns dieser Briefkasten bedeutet hat“, sage ich, und er sagt: „Jetzt seien Sie doch nicht so unfreundlich, ich habe ihn ja nicht persönlich weggetragen.“

Da hat er leider recht. Mir fällt auf, dass das Verschwinden des Briefkastens leichter hinzunehmen wäre, wenn jemand ihn aus einer persönlichen Notlage heraus hätte verschwinden lassen. Wenn jemand beispielsweise einen voreiligen Schlussmachbrief eingeworfen und dann voller Reue versucht hätte, ihn wieder herauszufischen, erfolglos und mit wachsender Verzweiflung, und dann spätnachts, vielleicht unter Zuhilfenahme seiner gesamten Familie den kompletten Briefkasten hätte verschwinden lassen. Das wäre eine nachvollziehbare Verzweiflungstat, nachvollziehbarer als ein schnöder Abbau ohne Not.

Das Eismeer – nur ohne Wrack

„Sie hätten uns informieren müssen“, sage ich, „Sie können uns den Kasten doch nicht einfach wegnehmen, ohne Erklärung, und dann so tun, als wäre er niemals da gewesen.“ „Aber so tue ich doch gar nicht“, sagt der Postbote. Er sieht aus, als habe er nicht nur im Lieferrad, sondern auch im Innern hauptsächlich Mahnungen und falsche Lösungsworte.

Wir schauen alle drei auf die kleine Hecke, vor der der Briefkasten gestanden hat, die Hecke, die so tut, als sei nichts gewesen, schon gar nicht ein Briefkasten, die all die Zeit, die der Briefkasten hier gestanden hat, einfach unterschlägt. „Ich erinnere mich an das Klappern der Briefkastenschlitzabdeckung“, sage ich. Wenn man ein wichtiges Dokument eingeworfen hatte, war das Klappern der Soundtrack zu dem erhebenden Gefühl, etwas erledigt zu haben, bestenfalls auch noch pünktlich.

„Haben Sie mal durch den Schlitz dieses Briefkastens geschaut, kurz vor seiner Leerung?“, findet jetzt Frau Blom ihre Sprache wieder. „Nein“, sagt der Postbote, „ich kannte diesen Briefkasten nicht. Ich bin neu hier. Ich kenne so gut wie niemanden.“ „Die Briefe darin sehen dann aus wie ein dunkles Meer, das im Sturm erstarrt ist“, erklärt Frau Blom, „ein bisschen wie Das Eismeer von Caspar David Friedrich. Nur ohne Wrack.“

Ein paar tröstende Worte

„Das wusste ich nicht“, sagt der Postbote, und nach ein paar Schweigeminuten sagt er: „Es befindet sich ein Briefkasten in der Gebbstraße. Ebenfalls mit Klappern und Eismeer.“ „Das ist zu weit für Frau Blom“, sage ich. Frau Blom ist nicht gut zu Fuß, die Gebbstraße ist für sie fast so weit weg wie Australien persönlich.

Das traurige Gesicht des Postboten hellt sich auf, denn es fällt ihm etwas Gutes ein. „Sie können mir Ihre Briefe auch mitgeben, wenn ich Ihnen die Post bringe“, sagt er zu Frau Blom. „Aber ich weiß doch nicht, wann Sie kommen.“ „Das kann ich Ihnen ungefähr sagen“, sagt der Postbote, und es ist ihm deutlich anzusehen, dass er sehr gern wenigstens einen Wackelkontakt hätte, zu Frau Blom, zu irgendwem. „Ich würde mich freuen“, platzt es aus ihm heraus, „ich würde mich auch ganz persönlich freuen, wenn mal jemand auf mich warten würde, und zwar nicht, um mich zu beschimpfen“, und es tut mir leid, dass ich so barsch zu dem Postboten war, „ich hab’s nämlich auch nicht leicht“, sagt er, und seine Stimme wackelt ein bisschen, und Frau Blom und ich trösten den Postboten, von dem wir gern getröstet worden wären, aber es ist eigentlich auch egal, wer wen tröstet, Hauptsache, es sind ein paar tröstliche Worte hier im Dunstkreis des abwesenden Briefkastens.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung