Wenn der Schmerz nicht endet

Der Psychotherapeut Urs Münch über die Aufnahme der "anhaltenden Trauerstörung" in die ICD-11 - und über die Individualität der Trauer.

Die Collage zeigt zwei Frauengesichter als Erinnerung an eine Tote
Wie lange dauert eine "normale" Trauer? Ab wann brauchen Betroffene Hilfe? © Jeannine Jirak/photocase.de

Herr Münch, es gibt Modelle, nach denen Trauer in bestimmten Phasen verläuft: Sie besagen, dass nach einer Phase des Nichtwahrhaben-Wollens heftige Emotionen aufbrechen und irgendwann eine Zeit der Trennung und Neuorientierung beginnt. Was halten Sie davon?

Phasenmodelle sind leicht verständlich, geben Halt und Orientierung und werden deshalb oft verwendet. Es gibt jedoch keinen wissenschaftlichen Beleg für allgemeingültige Phasen, die auf alle übertragbar sind. Diese Modelle können sogar ein Problem sein, vor allem für diejenigen, die anders reagieren. Sie bekommen dann das Gefühl vermittelt, nicht in Ordnung zu sein. Nicht wenige Menschen trauern kaum oder gar nicht. Lange wurde das als pathologisch abgetan: „Das ist doch nicht normal. Du musst trauern.“ Studien zeigen jedoch, dass die Menschen damit gut klarkommen. Das andere Extrem sind Trauernde, bei denen der Schmerz auch nach Jahren oder sogar Jahrzehnten nicht abklingen will.

Was gibt bei Trauer Orientierung, wenn Phasenmodelle problematisch sind?

Ich favorisiere das duale Prozessmodell der Trauerverarbeitung von Stroebe und Schut. Demnach ist Trauer ein dynamischer Prozess. Trauernde verlieren Sicherheit, Rückhalt und Ansprache und geraten in Stress. Gleichzeitig müssen sie ihren Alltag bewältigen. Sie pendeln zwischen zwei Zuständen: dem „verlustorientierten“ und dem „wiederherstellungsorientierten“. Sie schauen sich Fotos an, denken nochmal an die letzten Stunden mit dem Verstorbenen, gehen zum Friedhof, spüren Schmerz, Verzweiflung, Wut. Gleichzeitig müssen sie sich mit finanziellen Problemen auseinandersetzen, mit dem Alleinsein zurechtkommen, gewinnen aber auch neue Freiheiten, erfahren unerwartete Unterstützung und merken, dass es auch noch andere Dinge neben der Trauer gibt. Entscheidend ist, dass Menschen zwischen diesen beiden Zuständen flexibel hin und her pendeln und nicht irgendwo festhängen.

Woran erkennen Sie, dass Trauer pathologisch wird?

Das ist frühestens sechs Monate nach einem schweren Verlust überhaupt zu erkennen. Entscheidend sind für mich zwei Fragen: Wie hoch ist der Leidesdruck? Und kriegt jemand sein Leben einigermaßen auf die Reihe? Ich stelle ganz praktische Fragen: Wie geht es mit dem Haushalt? Wie läuft es mit der Arbeit? Schaffen Sie es, Freunde zu treffen? Bekommen Sie Unterstützung? Können Sie sie annehmen? Gibt es auch mal Momente, in denen die Trauer nicht so belastend ist? Wenn jemand sich dauerhaft rausgeworfen fühlt aus dem Alltag, an Arbeit nicht mehr zu denken ist, wenn jemand es nicht mehr schafft, sein Leben trotz des Verlustes zu gestalten, sprechen wir von einer anhaltenden Trauerstörung. Dann ist dringend Unterstützung angesagt.

Das vollständige Interview mit Urs Münch lesen Sie in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Trauer und Verlust: Was wir verlieren – Wie wir trauern – Was uns tröstet

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 64: Trauer und Verlust
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