Frau Professorin O’Connor, in Ihrem Buch The Grieving Brain – das trauernde Gehirn – machen Sie eine feine sprachliche Unterscheidung. Sie schreiben, die Trauer und das Trauern seien nicht dasselbe. Wo bitte liegt der Unterschied?
Trauer ist dieses überwältigend schmerzhafte Gefühl, das uns überfällt, wenn wir einen nahen Menschen verloren haben. Sie bezeichnet eine Erfahrung im Moment. Auf der anderen Seite steht das Trauern. Das ist die Art und Weise, in der sich die Trauer mit der Zeit verändert.
Können…
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Seite steht das Trauern. Das ist die Art und Weise, in der sich die Trauer mit der Zeit verändert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Frau hat nach 40 Jahren Ehe ihren Mann verloren. Die Trauer rollt danach über sie hinweg wie eine Welle. Immer wieder und wieder. Hundertmal zieht ihr das den Boden unter den Füßen weg. Doch beim hundertsten Mal merkt sie auf einmal: „Es fühlt sich immer noch schrecklich an, aber auch schon vertraut.“ Sie hat gelernt, sich selbst zu trösten oder jemanden anzurufen, der ihr Halt gibt. Das Gefühl der Trauer selbst hat sich kaum verändert. Aber ihre Beziehung dazu wandelt sich. Anfangs habe ich diese Unterscheidung übrigens nur aus wissenschaftlichen Gründen gemacht. Dann ist mir aber in vielen Gesprächen aufgefallen, dass sie auch Betroffenen hilft.
Inwiefern?
Viele Menschen glauben ja, dass die Trauer irgendwann aufhört. Dass wir sie sozusagen loswerden. Aber im wirklichen Leben geschieht das nur selten. Die Trauer holt uns immer wieder ein. Monate, Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte später. Einfach weil uns irgendetwas an den Menschen erinnert, den wir verloren haben. Viele zweifeln dann an sich selbst. Meine Antwort lautet: „Nein, mit dir ist alles in Ordnung.“ Die Trauer wird bleiben. Vielleicht für immer. Der Wandel liegt im Trauern, im Umgang mit diesen Gefühlen.
Vor mehr als 100 Jahren hat Sigmund Freud in seinem Essay Trauer und Melancholie sinngemäß geschrieben: Auf den ersten Blick sieht die Trauer aus wie eine Depression. Stimmt das? Ist Trauer eine Form von Depression?
Depression und Trauer sehen in der Tat ähnlich aus, sie sind aber nicht dasselbe. Denn bei einer Depression sind die negativen Gefühle meist viel umfassender. Ich bin nicht nur traurig, niedergeschlagen und antriebslos. Ich habe vielleicht auch Schuldgefühle für etwas, das ich in der Vergangenheit getan oder versäumt habe. Ich mache mir womöglich Sorgen darüber, wie ich meinen Kolleginnen und Kollegen begegnen soll oder meinen Nachbarn. Ich habe das Gefühl, im Leben insgesamt versagt oder zu wenig aus mir gemacht zu haben und so weiter. Aber bei der Trauer – da bin ich einfach traurig, weil mein geliebter Mensch nicht mehr bei mir ist.
Dennoch verschreiben Medizinerinnen und Mediziner bisweilen Antidepressiva an Trauernde.
Zu den Medikamenten kann ich wenig sagen. Aber es stimmt: Manche Trauernde waren schon depressiv, bevor sie einen wichtigen Menschen verloren haben. Man kann also trauern und zugleich depressiv sein. Und dann gibt es natürlich noch das, was wir in der Fachsprache als „komplizierte Trauer“ oder als „andauernde Trauerstörung“ bezeichnen.
Was ist damit gemeint?
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Der Verlust eines Partners, eines Kindes, der eigenen Eltern – das ist für viele die schlimmste Erfahrung, die sie je gemacht haben. Trauer kann unglaublich wehtun. Und dennoch lernen die meisten Menschen mit der Zeit zwei Dinge: Sie lernen, mit diesem Schmerz zu leben und dabei manchmal auch Freude und Liebe zu erfahren. Und sie lernen, ihr Leben ohne diesen geliebten Menschen neu zu organisieren.
Das Leben neu organisieren. Das klingt erst einmal banal.
Ist es aber nicht. Wenn wir wieder über das Beispiel der Frau sprechen, die nach 40 Jahren ihren Ehemann verliert: Er hat sich vielleicht immer um die Finanzen der Familie gekümmert. Jetzt muss sie all das allein hinkriegen. Sie muss entscheiden, mit welchen Freunden sie sich trifft. Welchen Sport sie treiben will. Wie sie jetzt allein ihren Ruhestand bestreitet und so weiter. Das sind schwierige Lernprozesse, die mit darüber entscheiden, wie das Trauern sich entwickelt.
Sie sagen also: Der Trauerprozess besteht aus zwei Aufgaben: mit den Gefühlen zurechtkommen und mit dem Leben klarkommen, die Rückkehr in den Alltag schaffen. Und beides ist schwer.
Richtig. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten sehen wir an unseren Daten, dass dieser Lernprozess den allermeisten Menschen gelingt, ohne dass sie dafür professionelle Hilfe benötigen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wer trauert, braucht Hilfe. Die soziale Unterstützung aus dem Umfeld ist unglaublich wichtig. Aber man braucht meist keine Therapie.
Und was ist bei der „anhaltenden Trauerstörung“, die Sie erwähnt haben, anders?
Wie gesagt: Die meisten Menschen durchlaufen beim Trauern einen Lernprozess. Bei einer kleinen Gruppe von Menschen geschieht das aber nicht. Der Umgang mit der Trauer verändert sich nicht. Die Rückkehr in den Alltag misslingt. Sie gehen zum Beispiel nicht mehr zum Gymnastiktreff und meiden die alten Freundinnen und Freunde, weil sie das alles zu sehr an den verstorbenen Partner erinnert. Die Sehnsucht bleibt überwältigend. Sie grübeln die ganze Zeit über ihren Verlust und haben das Gefühl, ein Stück ihrer Identität verloren zu haben.
Wie häufig passiert das?
Bei weniger als zehn Prozent der Trauernden. Ich habe dafür ein Gleichnis, mit dem man sich das gut vorstellen kann. Wenn ich mir ein Bein breche, wächst der Knochen in der Regel von allein wieder zusammen. Das ist ein ganz normaler Heilungsprozess. Und natürlich werde ich Dinge tun, um diesen Prozess zu unterstützen. Ich lasse mir zum Beispiel einen Gipsverband anlegen oder gehe eine Weile an Krücken. Aber manchmal gibt es auch Komplikationen. Vielleicht entzündet sich das gebrochene Bein. Oder es kommt zu einem Sekundärbruch.
Dann empfiehlt es sich, noch mal in die Klinik zu gehen und die Sache von Fachleuten richten zu lassen. Wenn ich das auf die Trauer übertrage: Trauern ist ein natürlicher Heilungsprozess. So reagieren wir auf Verlust. Der überwiegende Teil der Bevölkerung ist da sehr resilient. Die meisten von uns finden ihren Weg zurück ins Leben. Aber bei manchen verlaufen die Dinge komplizierter.
Woher weiß ich, ob ich normal trauere oder kompliziert? Ob ich also therapeutische Hilfe brauche oder nicht?
In den ersten Monaten sieht man zwischen normaler und komplizierter Trauer keinerlei Unterschied. Allen geht es schlecht. Erst nach einem halben Jahr, nach einem Jahr laufen die Entwicklungen auseinander.
Und dann braucht man eine Therapie?
Es gibt spezielle Therapieprogramme für eine anhaltende Trauerstörung. So ein Verfahren kann auch Menschen helfen, die schon seit mehr als zehn Jahren in ihrer Trauer festhängen. Man lernt dabei unter anderem, besser mit diesen Wellen der Trauer umzugehen und aus seinem Vermeidungsverhalten herauszukommen.
Lassen Sie uns über Ihre eigene Forschung sprechen. Sie haben trauernde Frauen in einen Hirnscanner gelegt.
Wir haben in einer unserer Studien zwei Gruppen von Betroffenen eingeladen. Alle hatten in den vergangenen fünf Jahren entweder die Mutter oder eine Schwester an den Brustkrebs verloren. Der Trauerprozess lief bei der einen Gruppe „normal“ ab, bei der anderen Gruppe jedoch „kompliziert“. Während die Frauen in der Röhre lagen, haben wir ihnen unter anderem Fotos gezeigt. Auch Bilder des Menschen, den sie verloren hatten.
Sie haben also gezielt akute Trauer ausgelöst?
Genau. Und dabei konnten wir sehen, dass komplizierte Trauer im Gehirn tatsächlich anders verarbeitet wird als normale Trauer. Beim Blick auf das Foto der Verstorbenen beobachteten wir bei den Frauen in beiden Gruppen eine Gehirnaktivität, die Schmerz signalisiert. Doch es gab auch Unterschiede, vor allem in einem bestimmten Hirnareal, dem Nucleus accumbens. Hier zeigte sich eine erhöhte Aktivität – aber nur bei den Frauen, die kompliziert trauerten.
Der Nucleus accumbens gehört zu unserem Belohnungszentrum. Er ist unter anderem dann aktiv, wenn wir etwas unbedingt haben wollen. Was schließen Sie daraus?
Dass Trauer auch aus der Perspektive des Gehirns überhaupt nicht wie eine Depression funktioniert. Trauer bedeutet Sehnsucht. Das Gefühl, den verlorenen Menschen unbedingt sehen, hören, riechen und im Arm halten zu wollen. Aber dieser Mensch kommt nicht mehr zurück. Die Sehnsucht bleibt unerfüllt. Und sie scheint bei Menschen, die kompliziert trauern, auch nach Monaten oder Jahren nicht schwächer zu werden.
Nun muss man dazu sagen: An Ihrer Hirnstudie haben lediglich 23 Frauen teilgenommen. Wie gesichert ist diese Erkenntnis?
Ich habe lange mit Bangen darauf gewartet, dass jemand unseren Versuch nachstellt und bestätigt. Und das ist inzwischen auch geschehen. In den Jahren 2021 and 2022 sind zwei Studien erschienen von unterschiedlichen Teams, die gezeigt haben, dass Sehnsucht und Verlust tatsächlich mit dieser Hirnregion zusammenhängen. Und dann gibt es noch ein paar sehr interessante Ergebnisse aus der Tierforschung.
Sie sprechen von den Studien über das Liebesleben der Präriewühlmäuse?
Genau. Präriewühlmäuse sind kleine Nagetiere, bei denen die Paare einander ein Leben lang treu bleiben und sehr viel Zeit miteinander verbringen. Das Team meiner Kollegin Zoe Donaldson von der University of Colorado Boulder hat gerade eine Studie veröffentlicht, in der man solche Paare voneinander getrennt hat – manche Paare für eine kurze Zeit, andere für eine längere Zeit. Am Anfang verhalten die Tiere sich noch, als seien sie sicher: Meine Partnermaus kommt eines Tages zurück. Aber irgendwann wird ihnen klar: Sie kommt vermutlich nie wieder. Im Gehirn dieser Tiere kann man dabei eine Reihe von Dingen ablesen. Wenn man sich die Zellen in ihrem Nucleus accumbens ansieht…
…also wieder dem „Haben wollen“-Zentrum im Gehirn…
…und welche Gene in diesen Zellen aktiviert sind, dann entdeckt man dort ein bestimmtes Muster, wenn diese enge Bindung zu einem Partnertier besteht.
Es gibt sozusagen einen Echtheitsstempel der Liebe im Gehirn dieser Tiere. Ein Wasserzeichen für diese enge Bindung.
Und jetzt kann man sich natürlich fragen: Ändert sich dieses Muster, wenn man die Tiere voneinander trennt? Bei einer Langzeittrennung ist das tatsächlich der Fall. Das Muster verblasst immer mehr. Das Gehirn ähnelt dann eher dem eines ungebundenen Tieres.
Das geht in dieselbe Richtung wie Ihre Forschung: Trauern heißt Sehnsucht haben. Es braucht Zeit, bis diese Sehnsucht allmählich verblasst. Sigmund Freud hat diesen langsamen und schmerzhaften Heilungsprozess des Trauerns als einen „Kampf“ beschrieben: zwischen dem Wunsch, die Liebe zu der verstorbenen Person festzuhalten, und dem Wissen, dass sie nie mehr wiederkommt. Freud schreibt: „Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält.“
Ich würde dennoch von Freud abweichen. Freud hat geglaubt, dass wir uns aus der Beziehung zu dem verstorbenen Menschen ablösen müssen. Dieser Meinung bin ich nicht. Diese Bindung wird immer bestehen, auch über den Tod hinaus. Wir sprechen weiter mit diesem Menschen, wir fragen ihn um Rat und so weiter. Freud hätte das für schädlich gehalten. Diese Ansicht haben wir heute nicht mehr.
Apropos „alte Schule trifft neue Forschung“: Wenn von einem schmerzhaften Verlust die Rede ist, denken ja viele an die fünf Phasen der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross. Diese besagen: Am Anfang wollen wir den Tod nicht wahrhaben, dann werden wir zornig, verlegen uns aufs Verhandeln, fallen in die Niedergeschlagenheit, um den Verlust schließlich zu akzeptieren. Wie aktuell ist dieses Modell?
Elisabeth Kübler-Ross hat ihre letzten Jahre ja in Arizona zugebracht, weshalb ich sie noch persönlich kennenlernen durfte. Dafür bin ich sehr dankbar und ich habe den größten Respekt vor ihrer Arbeit. Sie hat die Trauer sehr präzise beschrieben. Ja, Wut kann tatsächlich ein Teil davon sein. Aber nicht jeder empfindet Wut. Trauert dieser Mensch also falsch? Natürlich nicht!
Die Phase der Leugnung ist auch nicht irgendwann vorbei und überstanden. Sie kommt und geht immer wieder in den Wochen oder Monaten nach dem Verlust. Das heißt: Im wirklichen Leben durchlaufen nur wenige Menschen genau die stufenartige Entwicklung, wie sie Elisabeth Kübler-Ross dargestellt hat. Deshalb meine Antwort: Man kann das Phasenmodell als Beschreibung ganz gut nutzen. Aber als Fahrplan, als eine Art Vorschrift fürs Trauern passt es in der Regel nicht zu dem, was wir Menschen erleben.
Sie selbst haben in einer Studie untersucht, ob sich Heimweh oder das Ende einer Liebesbeziehung mit der Trauer vergleichen lässt, die man beim Tod eines geliebten Menschen empfindet. Einfach gefragt: Sind Liebeskummer und Trauer dasselbe?
Wie intensiv so eine Erfahrung ist, das unterscheidet sich natürlich von Mensch zu Mensch und von Fall zu Fall. Wenn wir das im Hinterkopf behalten, kann man sagen: Die Sehnsucht ist in der Regel am größten, wenn jemand gestorben ist. Bei einer Trennung ist sie etwas schwächer. Beim Heimweh noch einmal ein bisschen schwächer. Dennoch verwenden Menschen genau dieselben Formulierungen, um all diese Erfahrungen zu beschreiben. Sie sagen zum Beispiel: „Ich habe das Gefühl, dass alles perfekt war, als diese Person noch bei mir war oder ich an diesem Ort gelebt habe.“ Das haben wir in unserer Studie gezeigt. Deshalb würde ich schon sagen: Ja, diese Situationen sind einander durchaus ähnlich.
Reden wir noch über eine Ihrer neuesten Studien. Da haben Sie und Ihr Team erforscht, ob und wie einem die Trauer buchstäblich das Herz brechen kann.
Wir wissen aus älteren Studien: Wenn wir gerade jemanden verloren haben, steigt unser Herzinfarktrisiko. Darüber wollten wir gerne mehr wissen. Also haben wir Trauernde ins Labor gebeten und eine Art emotionales Belastungs-EKG mit ihnen gemacht. Wir haben mit ihnen über ihr Gefühl von Trauer und Einsamkeit gesprochen und ihren Blutdruck gemessen. Und dabei konnte man sehen: Der Blutdruck geht in diesen Gesprächen so sehr nach oben, als sei man gerade beim Sport. Und der Effekt war besonders ausgeprägt bei denen, die unter den stärksten Trauersymptomen litten.
Was schließen Sie daraus?
Dass wir Trauernde dazu ermutigen sollten, sich mal gezielt beim Hausarzt durchchecken zu lassen. Wir sind in der Trauer so sehr bei dem Menschen, den wir verloren haben, dass wir dazu neigen, unsere eigene Gesundheit aus den Augen zu verlieren.
Zum Abschluss eine persönliche Frage. Sie forschen über Trauer, scheinen dabei aber ein außergewöhnlich lebendiger und fröhlicher Mensch zu sein. Haben Sie selbst nie Trauer erfahren?
Ich hatte schon eine Zeitlang in meinem Feld gearbeitet, als mein Vater gestorben ist, und ich kann nicht behaupten, dass mich die Trauer deshalb verschont hätte. Mir war nur klar, dass all der Schmerz normal ist, durch den ich gehe.
Ihr Kollege George Bonanno hat einmal gesagt, dass man auch mal zu unschönen Mitteln greifen dürfe, um Zeiten der Trauer zu überstehen. Er hat in seinen Studien die merkwürdigsten Strategien gesehen: Jemand hat seinen Partner verloren und sich mit dem Gedanken getröstet: „Unsere Ehe war ohnehin im Eimer.“ Andere haben ihre Trauer verdrängt und sind zum Tanzen gegangen oder ins Kino, als sei nichts geschehen. Bonanno nennt das coping ugly – klarkommen auf eine hässliche Art. All diese Strategien können seiner Meinung nach in Ordnung sein.
Dazu kann ich Ihnen eine persönliche Geschichte erzählen. Ich war dabei, als meine Mutter gestorben ist. Es war mitten in der Nacht. Am Morgen bin ich dann ins Restaurant unserer Kleinstadt gegangen, um zu frühstücken. Und die Wirtin meinte: „Mary-Frances, es tut mir so leid, kann ich dir irgendwas bringen?“ Und ich habe geantwortet: „Kann ich ein Bier kriegen?“ Das war um 8 Uhr morgens. Ich erzähle das nur, weil ich das für eine sehr menschliche und angemessene Reaktion halte. Natürlich habe ich daraus keine Gewohnheit gemacht – das wäre problematisch. Aber es ist genau das, was George Bonanno meint: Manchmal ist es okay, mit einem Bier zum Frühstück durch die nächsten Stunden zu kommen.
Wie hilft Ihnen Ihr Fachwissen dabei, Ihre eigene Sterblichkeit zu akzeptieren?
Ich denke sehr viel über meine Sterblichkeit nach. Fast jeden Tag, würde ich sagen. Irgendwann wird der Moment kommen, in dem mir klarwird: Von dem hier erholst du dich nicht mehr. Und ich hoffe, dass mir dann all meine Beschäftigung mit Tod und Trauer helfen wird. Andererseits: Man steckt da natürlich nicht drin. Wissen Sie, meine Mutter hatte eine schreckliche Angst vor dem Sterben. Mein Vater dagegen hatte keine Angst davor. Ich habe also zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen aus nächster Nähe mitbekommen. Und von daher weiß ich ziemlich genau, welche Version ich für mich lieber hätte.
Mary-Frances O’Connor ist Psychologin, forscht und lehrt an der University of Arizona, wo sie das Grief, Loss, and Social Stress Lab leitet. Ihr lebendig geschriebenes Buch The Grieving Brain. The Surprising Science of How We Learn from Love and Loss erschien 2022.
Medizin gegen die Melancholie
Helfen Antidepressiva gegen die Trauer? Das hat die Psychiaterin Katherine Shear von der Columbia University in einer Studie untersucht. Sie rekrutierte dafür knapp 400 Menschen, bei denen sich die Trauersymptome über einen längeren Zeitraum nicht gebessert hatten. Ein Teil der Betroffenen bekam eine spezielle Psychotherapie, der Hälfte davon gab man dazu ein Antidepressivum, der anderen Hälfte ein Placebo. Die Psychotherapie schlug gut an. Ob man zusätzlich ein Antidepressivum nahm oder ein Placebo, machte für den Trauerprozess aber keinen Unterschied. Folgenlos blieben die Tabletten dennoch nicht: Im Gegensatz zur Placebogruppe gingen nämlich die depressiven Symptome wie etwa Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Antriebslosigkeit messbar zurück. Fazit: Gegen die Trauer selbst hilft ein Antidepressivum offenbar nicht. Wohl aber könnte ein solches Medikament sinnvoll sein, wenn man zusätzlich zur Trauer noch mit einer Depression zu kämpfen hat.
Quelle: M. Katherine Shear u.a.: Optimizing treatment of complicated grief: A randomized clinical trial. JAMA Psychiatry, 73/7, 2016, 685–694
Noch mehr zum Thema Trauer finden Sie in unserem Psychologie Heute Compact 64: Trauer und Verlust.