Ein 85-jähriger Patient litt stark unter dem Tod seiner Partnerin, die er seit seinem 17. Lebensjahr gekannt hatte. Sie sei „Geliebte, beste Freundin, Mutter meiner zwei Kinder, Helferin und Kollegin“ für ihn gewesen. Er weine häufig abrupt, was ihm in der Öffentlichkeit peinlich sei, aber er könne es nicht steuern. Immer wieder fühle er sich schuldig, wenn er daran denke, dass er seine Frau im Krankenhaus habe allein und voller Angst sterben lassen (obwohl es nicht seine Schuld war – Besuchsverbot während…
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allein und voller Angst sterben lassen (obwohl es nicht seine Schuld war – Besuchsverbot während der Coronapandemie).
Er tue sich schwer, wenn er alte Bekannte treffe, er fühle sich zu ihnen distanziert, in seinem Leiden nicht verstanden oder auch von deren Problemen überfordert. Den Großteil des Tages könne er sich nicht aufraffen, nichts mache Freude, ergebe Sinn, er wisse nicht, was in der Zukunft kommen solle.
Stolz auf das gemeinsame Leben
In der Therapie wurden dann Fragen behandelt wie: Auf welche Weise hat er Spuren im Leben seiner Frau hinterlassen – und umgekehrt? Gab es Interessen oder Umgangsformen, die er nicht ohne seine Frau entwickelt hätte? Gab es auch Verhaltensweisen, Eigenschaften oder Werte, die er in Abgrenzung zu ihr hatte? Und wie lebt seine Frau in ihm weiter? Es ging auch darum, den inneren Dialog mit der verstorbenen Frau einzugehen, die Nähe und Verbundenheit zu spüren, auch den Stolz auf das gemeinsame gelebte Leben – um dann auch wieder allein sein zu können. Die Töchter wurden bei Bedarf in die Therapie einbezogen.
Im Lauf der Zeit wurde es dem Patienten möglich, an die verstorbene Ehefrau und die Umstände des Todes zu denken, ohne dass intensive Gefühle von Schuld, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit ihn beherrschten. Er erlebte noch immer die Trauer und den Trennungsschmerz und konnte trotzdem positiv und handlungsfähig in die Zukunft blicken.
Eva-Marie Kessler ist Professorin für Gerontopsychologie an der Medical School Berlin und leitet in der dortigen Hochschulambulanz den Spezialbereich Psychotherapie-im-Alter. Sie ist seit 2022 Mitglied der Altersberichtskommission der Bundesregierung.