Die kleine Trauer

Sehnsucht nach dem Vertrauten: Vor Heimweh ist niemand gefeit. Doch es wird oft unterschätzt. Warum es ein ernstzunehmendes Problem darstellt.

Es ist seltsam mit dem Heimweh. Nehmen wir Fatiha B. Drei Jahre lang wuchs sie in Marokko auf dem Lande auf. Dann siedelte sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester um in die Großstadt Westberlin. Gezwungenermaßen. „Heimweh nach Marokko habe ich aber nicht“, sagt die 44-Jährige und sinniert: „Na ja, vielleicht nach den Gerüchen und Düften.“ Weitaus mehr Heimweh hat sie aber nach Berlin, seit sie berufsbedingt in die Niederlande ziehen musste. „Weil ich mich in Deutschland als vollkommener Mensch…

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in die Niederlande ziehen musste. „Weil ich mich in Deutschland als vollkommener Mensch gefühlt habe“, sagt sie, „weil ich mich da auskenne, weil ich da erwachsen geworden bin.“

Was Heimweh bedeutet, darüber diskutieren Experten seit Jahren. Die britische Psychologin Margaret Stroebe betrachtet Heimweh „primär als ein Trennungsphänomen und eine Art Miniatur-trauer“. Es ist ein schmerzender Zustand, der die Gedanken fesselt, die Stimmung drückt, auch auf den Magen schlägt und das Immunsystem schwächeln lässt. Heimweh macht manche Betroffene ängstlich und zurückhaltend, schlimmstenfalls verursacht es Gefühle der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Betroffene fürchten, am neuen Ort niemals glücklich zu werden, und sie verspüren den Drang: Ich muss ­wieder heim!

Die Symptome resultieren aus einer vorübergehend oder dauerhaft zerbrochenen Bindung an die Heimat – häufig gepaart mit Problemen, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Meist ist nicht klar, was überwiegt oder was sich gegenseitig bedingt oder befördert. Zuweilen lösen Anpassungsprobleme Heimweh erst aus oder verstärken es. Es kann aber auch sein, dass ein Mensch bestens integriert ist und sich dennoch nach seinem alten Zuhause sehnt. Wobei das „Zuhause“ ein Land sein kann. Oder eine Stadt oder ein Dorf. Vor allem aber: Familie, Freunde, Kollegen, Bekannte. Lebensweisen, an die man gewohnt ist. Und alles, was sich innerlich damit verbindet.

Heimweh ist ein viel feinstofflicheres Gefühl als nur die Sehnsucht nach der Heimat, beschreibt es die Berliner Psychologin Christina Lisperoglou, selbst Tochter einer Migrantin. In seiner milden, ­gesunden Form dient es einem guten Zweck: gewachsene ­­Bindungen zu pflegen und gedanklich Kontakt zu halten mit geliebten Menschen und Dingen. Das gilt für einen Zehnjährigen, der zum ersten Mal ­allein in die Sommerfreizeit fährt – im Wissen, dass er in ein paar Tagen zurück sein wird. Oder für eine ­junge Frau, die jahrelang im Ausland studiert. Oder für einen Mann, der aus Syrien geflüchtet ist und womöglich nicht wieder zurückkehren kann.

Allerdings „unterscheidet sich das Heimweh eines Kindes im Ferienlager vom Heimweh eines erwachsenen Flüchtlings“, weiß Stroebe. Das Erste ist ein singuläres, begrenztes Phänomen. Das Zweite nicht. Denn die Psyche erwachsener Migranten muss die Identitäten der angestammten Heimat und die Kultur des neuen Wohnortes in Einklang bringen. Dieser Prozess zieht sich bisweilen durch das ganze Leben. „Heimweh ist da nur ein Faktor von vielen“, erklärt Iris Graef-Calliess, leitende Ärztin im Zentrum Transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Wahrendorff bei Hannover. „In der Psychotherapie mit Migranten gehen wir auch auf den Aspekt Heimweh ein“, sagt Iris Graef-Calliess, „viele können das zunächst gar nicht in Worte fassen.“ Andere unterdrücken das Heimweh mehr oder minder (un)bewusst, um sich besser in ihre neue Gesellschaft zu integrieren. Je stärker der Wille, „sich zu assimilieren“, wie die Psychiaterin auch beobachtet, „umso größer mitunter die Abwehrhaltung gegen das Heimweh“. Dann schwelt es im Unbewussten. Maximal fünf bis zehn Prozent der Menschen, schätzt Margaret Stroebe, „erwischt es so massiv, dass sie nur noch grübeln“. Viele werden in der Folge depressiv oder entwickeln körperliche Schmerzen. Unter Umständen kann das Heimweh so drastisch werden, dass Betroffene, so sie können, in ihr Heimatland zurückkehren. Überraschenderweise, fügt Stroebe an, „kann starkes Heimweh nach einer Rückkehr sogar die Integration in das angestammte Land behindern“. In diesen Fällen ­wurde die Heimat dermaßen vergöttert, dass die Realität nur noch enttäuschend ist.

Wen packt die Sehnsucht nach zu Hause?

Häufig mindert Heimweh die Leistungen von Studierenden: Sie können nicht mehr konzentriert lernen und schwänzen Vorlesungen. Studenten mit Heimweh, belegen Untersuchungen, verlassen ihre Universität dreimal so häufig wie Kommilitonen, die dieses Problem nicht haben. Manche Menschen, die unter Heimweh leiden, passen sich nicht so schnell und nicht so gut an die neue Umgebung an.

Wer am häufigsten und stärksten betroffen ist, das versucht die psychologische Wissenschaft seit längerem zu durchleuchten. Denn seltsam ist schon, dass Heimweh einige Studenten plagt, obwohl ihr Heimatort nur drei Autostunden von der Universität entfernt liegt, und manche ihrer Kommilitonen aus fernen Ländern weitgehend immunisiert gegen das Gefühl erscheinen.

Derlei Unterschiede begründen sich zuallererst durch die Persönlichkeit der Menschen. Generell werden vor allem jene heimwehkrank, die emotional wenig stabil und sehr ängstlich sind. Nach innen ­gekehrte und wenig durchsetzungsstarke und unsichere Typen gelten ebenfalls als anfälliger. Ein weiterer Risikofaktor: mangelndes Selbstbewusstsein.

Umgekehrt leiden risikobereite, nach außen gekehrte und emotional stabile Menschen seltener ­daran. Unschöne Erlebnisse fernab von zu Hause ­erhöhen die Heimwehgefahr unter Kindern und Jugendlichen genauso wie mangelnde Trennungserfahrung und Überbehütung. Geschützt dagegen scheinen Kinder, wenn sie gute Beziehungen zu Gleichaltrigen und vor allem ein positives Konzept von sich selbst haben. Junge Erwachsene, die ­beispielsweise zum Studieren ihre Heimat verlassen, erwischt es besonders heftig, wenn sie in ihrer Heimat stark vernetzt sind und einen Partner oder eine Partnerin zurücklassen. Strittig ist, ob neue Freunde und Bekannte am Studienort die alten Verbindungen kompensieren und das Risiko für ­heftiges Heimweh senken. Und ganz wichtig: Wer seine Heimat nicht freiwillig, sondern zwangsweise verlässt, ohne das Gefühl eigener Kontrolle, „der hat ein besonders hohes Risiko, an Heimweh zu ­leiden“, wie Chris Thurber von der Phillips Exeter Academy in New Hampshire (USA) in einer seiner Untersuchungen ermittelt hat.

Margaret Stroebes jüngste Analyse weltweiter Studien belegt, dass Frauen insgesamt kaum häufiger vom Heimweh überfallen werden als Männer. Zeigen Frauen allerdings einschlägige Symptome, dann scheinen sie entschlossener dagegen vorzugehen als ihre männlichen Leidensgenossen, indem sie verstärkt nach sozialer und psychologischer Unterstützung suchen.

„Je älter ein Mensch wird, desto besser kann er in der Regel mit Heimweh umgehen“, sagt Chris Thurber. Je jünger ein Kind, umso anfälliger ist es für Trennungsschmerz. Hinzu kommt, dass Kinder Zeiträume weitaus unsicherer einschätzen können als Erwachsene. Und, trübe Aussichten: Wer als Kind oft Heimweh hatte, den ereilt es im späteren Leben üblicherweise ausgeprägter und häufiger als andere.

Was hilft gegen das Heimweh? Psychologen haben diverse Programme für Therapie und Vor-beugung entwickelt, wenngleich „nur vier dieser Programme empirisch überprüft wurden“, wie Stroebe bemängelt. Intervention ist vor allem dann angesagt, wenn die Betroffenen ihren Alltag nur noch bedingt meistern können.

Chris Thurber hat sich dabei auf Kinder, Jugendliche und Studenten fokussiert, beispielsweise auf Jungs, die an einer längeren Sommerfreizeit teilnahmen. Der Psychologe rekrutierte dafür 75 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Sie wurden, wie auch ihre Eltern, schon im Vorfeld umfassend über Heimweh informiert und wie man es am besten bekämpft. „Es geht darum, den Kindern das Gefühl der Fremdheit so gut wie möglich zu nehmen und ihnen eine positive Einstellung zu vermitteln“, erklärt Thurber. Zum Therapieprogramm gehörte, den Jungen zu sagen, wie normal Heimweh ist, dass es jeden treffen kann und dass es häufig schon nach einer Nacht besser sein wird. Zudem wurde ihnen vermittelt, dass sie jederzeit mit ihren Betreuern darüber sprechen könnte. Die Betreuer wiederum wurden darin geschult, wie sie mit heimwehkranken Kindern umgehen sollten: zum Beispiel mit jedem Kind den Kalender durchgehen, um das Zeitgefühl zu strukturieren und jeden Tag mit Aktivitäten zu verbinden, auf die man sich freuen kann. Um das Heimweh zu lindern, wurden die Betreuer angehalten, die Kinder vor allem körperlich zu beschäftigen und ihre soziale Bindung untereinander zu fördern, sie zu zerstreuen und ihnen Kontrolle über ihre Gefühle zurückzugeben. Auch die Eltern wurden miteinbezogen. Sie sollten ihren Kindern vor der Freizeit Vertrauen und Optimismus einflößen und ihnen sagen, dass sie eine tolle Zeit vor sich haben. Vor allem sollten sie ihnen nicht in Aussicht stellen, dass sie sie jederzeit abholen könnte. „Diese vermeintlichen Rettungsaktionen“, sagt Thurber, „hebeln das Selbstbewusstsein der Kinder und ihre Widerstandskraft aus.“ Hilfreich ist auch, Kinder vor einer längeren Freizeit einmal bei einem Freund übernachten zu lassen.

Fast alle Jungs in Thurbers Studie bekamen mindestens einen Tag lang während der Freizeit Heimweh. Wer allerdings am Präventionsprogramm teilnahm, ging besser damit besser um und hatte es deutlich schneller und nachhaltiger überwunden – im Vergleich zu Kindern in einer Kontrollgruppe.

Für Erwachsene sind die bisher getesteten Strategien weder so umfangreich noch in ihren Ergebnissen so eindeutig. Die meisten Empfehlungen beschränken sich darauf, dass die Menschen am neuen Ort an sich „arbeiten“ und, wenn es am schlimmsten ist, den Kontakt nach Hause so weit wie möglich meiden sollen. Moderne Medien wie Skype, Facebook und so weiter sind da eher kontraproduktiv als hilfreich. „Körperliche Aktivität scheint am neuen Ort besonders wichtig zu sein“, erklärt Margaret Stroebe, noch wichtiger als geistige. Darüber hinaus sollten sich Heimwehkranke neue Leute suchen, mit denen man auf einer Wellenlänge liegt. Das alles ist schwer genug für Menschen, die sich ja aufgrund des Heimwehs zurückziehen und antriebsarm sind. Dafür braucht es Courage, Energie, Überwindung – und die richtige Unterstützung von Arbeitgebern, Studentenwerken, Betreuern jeder Art. Wenn die Betroffenen aus anderen Ländern und Kulturen stammen, wie Flüchtlinge, dann gilt das erst recht. Wer in der Fremde nur mit Leuten von zu Hause rumhängt, „bekämpft sein Heimweh nicht nachhaltig und verstärkt es schlimmstenfalls“, sagt Thurber: „Die gute Mischung aus alter und neuer Umgebung macht es.“

Quellen

  • Elke Regina Maurer: Der Geschmack des Heimwehs. Centaurus 2011

  • Margaret Stroebe, Henk Schut, Maaike Nauta: Homesickness: A systematic review of the scientific literature. Review of General Psychology, 19  2), 2015, 157–171. http://dx.doi.org/10.1037/gpr0000037

  • Christopher Thurber, Edward Walton: Homesickness and adjustment in university students. Journal of American College Health, 60  5), 2012, 415–419

„Virtuelle Standleitung nach Hause“

Wilfried Schumann ist Psychologe des Psychologischen Beratungsservice der Universität und des Studentenwerks Oldenburg. Mit der Bekämpfung von Heimweh kennt er sich aus

Herr Schumann, ist Heimweh ein Thema an den psychologischen Beratungsstellen deutscher Universitäten?

Heimweh ist sicher kein Massenphänomen, aber gerade am Studienanfang sehen wir wöchentlich mehrfach junge Leute, die mit klassischer Heimwehproblematik zu tun haben. Oft tauchen die Studierenden unter Tränen auf – und sind manchmal wirklich überrascht, was da mit ihnen passiert. Andere hatten schon vorher Sorge, ob sie den Start am neuen Ort problemlos hinbekommen. Ich vermute auch, dass es hier eine gewisse Dunkelziffer gibt. Denn nicht wenige kommen, wenn sie Heimweh haben, erst gar nicht zu uns, sondern lösen das Problem, indem sie jedes Wochenende nach Hause pendeln und ihr Studium eher wie einen Montagejob betrachten. Sie lassen Heimweh auf diese Weise erst gar nicht zustande kommen. Wieder andere bleiben während des Studiums ganz zu Hause wohnen, das ist gar nicht so selten heute. Möglicherweise hat auch hier das Vermeiden von Heimweh einen Anteil bei der Entscheidung, im gewohnten Umfeld zu bleiben.

Die Studierenden sehen also gar nicht die Chance, die ein anderes Umfeld bieten könnte?

Richtig. Das ist etwas, das ich sehr bedauere, weil diese Studierenden eine Chance für die persönliche Autonomieentwicklung verpassen. Eigenständigkeit und das Entdecken neuer Horizonte kann eine sehr bereichernde Erfahrung sein. Und die Fähigkeit, sich auf neue Situationen einzulassen, wird heute von jungen Menschen auch immer mehr gefordert.

Wird Heimweh inzwischen nicht automatisch durch moderne Kommunikationsmittel gelindert? Wenn man will, kann man den ganzen Tag nach Hause skypen ...

Das ist genau das Problem. Natürlich ­helfen diese Mittel, die Verbindung zur heimischen Welt zu erhalten. Das kann sich für manche Studierende tatsächlich vorteilhaft auswirken. Aber ich behaupte mal, dass es für eine größere Anzahl Studierender doch eher eine Falle ist, denn sie sollen ja an ihrem Studienort Fuß fassen, haben aber eine virtuelle Standleitung nach Hause. Das macht es oft schwieriger, am neuen Ort anzukommen, sich einzulassen und sich ­intensiv mit der neuen Situation zu ­konfrontieren.

Wie helfen Sie Studierenden, die das Heimweh plagt?

Wir beruhigen die Studierenden und versuchen klarzumachen, dass es ganz normal ist, dass gravierende Veränderungen in unserem Leben häufig mit Krisen einhergehen. Weiter fragen wir sie nach ihren Motiven, an diesen Studienort zu gehen. Wir fragen auch nach, ob sie vielleicht ein falsches Studium gewählt haben und unzufrieden damit sind. Wir wollen sie ja nicht in einer Situation festhalten, die für sie nicht akzeptabel ist. Wenn sie aber eigentlich mit ihrer Wahl zufrieden sind, die Umsetzung ihrer Pläne jedoch wegen des Heimwehs gefährdet ist, oder wenn sie sich mit der neuen Situation sozial überfordert sehen, dann sprechen wir mit ihnen sehr ­pragmatisch darüber, wie sie am Studienort besser mit anderen in Kontakt kommen.

Sie wollen die Studierenden motivieren, aktiv ­gegen ihre Einsamkeitsgefühle vorzugehen?

Ja, wir wollen Mut machen. Das können wir auch meist schon mit wenigen Beratungsstunden auf den Weg bringen. Deshalb sollten Studierende keine Scheu haben, mit dieser Problematik zu uns zu kommen.

Interview: Klaus Wilhelm

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2016: Viel zu tun