"Neurowissenschaften werden mythisch."

Amygdala, Hippocampus und co: Psychische Prozesse werden in der Hirnforschung bloß auf nervöse Zentren beschränkt, das stört Wolfgang Schmidbauer.

Früher haben Versuche, den Menschen sich selbst verständlicher zu machen, Fenster in die (Lebens-)Geschichte, die biologische und die kulturelle Evolution geöffnet. Die modische Neuromythologie schließt die Läden. In der Dunkelheit sehen wir flackernde Bilder. Wir deuten sie als inneren Zoo, dessen Protagonisten Namen tragen wie Stirnhirn, Mandelkern, Hippocampus und limbisches System. Jetzt sollen wir, was wir fühlen und tun, aus der Tätigkeit dieser „Zentren“ verstehen.

Was fasziniert daran, sich selbst und andere in ein neuroanatomisches Präparat zu verwandeln? Es scheint die Erwartung zu sein, dass durch den Rekurs auf die Tätigkeit eines „Zentrums“ im Gehirn eine Aussage Gültigkeit gewinnt, die ihr ohne diese Verbindung fehlen würde. Bisher haben wir nur psychologisch erforscht – jetzt haben wir es!

Mythos der Mandelkerne

Realiter haben die Neurowissenschaften erst Bruchteile der Gehirnfunktionen erfasst. Die Debatte über Zentren und übergreifende Funktionen ist nicht entschieden und scheint gegenwärtig in ein Sowohl-als-auch mit vielen offenen Fragen zu münden. Homunculi wie „der Hippocampus“ oder „die Mandelkerne“, „die Spiegelneuronen“, die Gefühle organisieren und Informationen weiterleiten, sind ein Mythos. Sie haben mit den realen Funktionen des Nervensystems nicht mehr zu tun als Zeus mit dem Gewitter oder Poseidon mit Ebbe und Flut.

Mythen erfüllen soziale Funktionen. Sie legitimieren Bräuche, Herrschaftsformen, Gebietsansprüche und sind ein wichtiger Teil der Ideologie einer Kultur. Also muss ich nach den Aufgaben des von vermenschlichten Zentren inszenierten Gehirnschauspiels fragen, auf dessen Bühne sich psychische Erfahrungen wie Wut, Angst, Trauer angeblich konkretisieren.

Familiendynamiken sind unwichtig

In der Neuromythologie verschiebt sich die Linie der Argumentation von der Deskription zur Manifestation, von der unmittelbaren Erlebnisorientierung zur mittelbaren. Es geht nicht mehr um frühere Beziehungen, aktuelle Kontakte, prägende Identifizierungen während der Kindheit und in der Adoleszenz. Das alles wird scheinbar entbehrlich gemacht durch die Beschreibung nervöser Zentren im Gehirn.

Harmlos ist dieses Vorgehen nicht. Parallel zu seiner wachsenden Dominanz in den Medien lässt sich beobachten, dass eine differenzierte Betrachtung der Ursachen von seelischen Störungen zurückgenommen wird. Gesellschaftliche Einflüsse und die Familiendynamik dürfen ignoriert werden.

Öffnet ein Menschenbild, in dem nicht ich, sondern mein Gehirn fühlt und denkt, den Weg zu einem „neuen Menschenbild“, zur Neuro-Philosophie? Die Autoren eines kritischen Memorandums verneinen das energisch. „Was ist gewonnen, wenn wir sagen, mein Mandelkern ist im Erregungszustand, statt ich fürchte mich? Das metaphorische Denken ist für die Wissenschaft unentbehrlich, aber es lassen sich damit keine sachlichen Zusammenhänge begründen. Es ist […] völlig in Ordnung, vom Fuß eines Berges zu sprechen, solange man nicht nach dessen Schuh sucht.“

Wolfgang Schmidbauer ist Psychologe und Psychoanalytiker in München in eigener Praxis und arbeitet als Autor.

Das Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“ findet sich auf unserer Website.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung
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