Gehirn: Nur nicht aufgeben!

Erstaunlich wandlungsfähig: Auch mit schweren Handicaps wie einer Schizophrenie können wir uns arrangieren – der Plastizität unseres Gehirns sei Dank.

Die Grafik zeigt einen leuchtenden Kopf mit seinem wandlungsfähigen Gehirn und seinen Verbindungen
Wir können lernen, uns auch mit einer fast vollständigen Lähmung des Körpers zu arrangieren und wieder Freude am Leben zu finden. ​ © Yuichiro Chino/Getty Images

Ist er wütend? Oder traurig? Oder skeptisch? Die meisten Menschen spüren es, wenn sie einen Gesichtsausdruck als negativ einzuschätzen haben. Doch Schizophreniepatienten haben damit große Probleme. Sie schaffen es meistens nicht, eine emotional kritische, negative Mimik zu erkennen. Weswegen sie auf andere Menschen bisweilen ignorant und rücksichtslos wirken – und das ist weit mehr als nur ein Kommunikationsproblem, sondern birgt sehr viel Konfliktpotenzial. Also trainierten Sergio Ruiz und Ranganatha…

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Sergio Ruiz und Ranganatha Sitaram von der Universität Tübingen mit solchen Patienten, wie sie die Durchblutung einer bestimmten Hirnregion verbessern konnten, nämlich der anterioren Insula („vordere Insel“). Denn dieses Areal brauchen wir, um negative Gesichtsausdrücke zu erkennen.

Die beiden Forscher bedienten sich dabei der Technik des Neurofeedbacks: Per Kernspintomograf wird die Hirndurchblutung erfasst, und ein Computer verwandelt die entsprechenden Signale in ein Symbol, das der Patient auf einem Monitor sehen kann. Konkret: Er sieht ein farbiges Thermometer, das nach oben rot anschlägt, wenn die Durchblutung in seiner Inselregion zunimmt. Diesen Zustand gilt es zu erreichen. Wie die Probanden das schaffen– also woran sie denken und was sie sich vorstellen, um das Blut zum gewünschten Hirnareal zu bringen –, bleibt ihnen überlassen. Wie sich herausstellte, lernten die meisten Teilnehmer bei diesem Training nach etwa zehn Übungsstunden, das symbolische Thermometer zum Anschlag zu bringen, sprich: den Blutstrom in ihrem Hirn umzulenken.

Selbst Schizophrenie ist nicht unabänderlich

Vor und nach dem Training wurde geprüft, wie die Patienten positiv und negativ gestimmte Gesichter „lesen“ konnten. Und tatsächlich: Sie schnitten bei dieser Übung nach dem Training besser ab als vorher, der Wiedererweckung der Insula sei Dank. Doch es gab noch ein anderes, weniger erfreuliches Ergebnis: Die Patienten vermochten keine positive Mimik mehr zu identifizieren. Sie konnten jetzt zwar erkennen, ob jemand zornig war, aber nicht mehr, ob er sich freute. Vermutlich hatte der Erregungsanstieg in ihren emotional negativen Hirnarealen gleichzeitig eine Hemmung emotional positiver Regionen bewirkt.

„Das war natürlich ernüchternd“, berichtet Niels Birbaumer, der seit 1993 in Tübingen erforscht, wie das Gehirn Kontrolle über sich selbst bekommen kann. Doch andererseits zeigten die Ergebnisse seiner Mitarbeiter auch, dass die Symptome einer Schizophrenie kein unabänderliches Schicksal sein müssen. Denn im Gehirn „geht immer noch was“, es besitzt prinzipiell immer die Möglichkeit, sich selbst aus dem Sumpf seiner Probleme und Erkrankungen zu ziehen, mögen diese auch noch so schwerwiegend sein. Und diese Fähigkeit verdankt es seiner einzigartigen Plastizität.

Das plastische Gehirn: Die Alternative zur Kakerlake

Schon der englische Philosoph John Locke bezeichnete den menschlichen Verstand als „Tabula rasa“, als blankgewischte Tafel, auf die prinzipiell alles aufgeschrieben werden könne, und in bestimmter Hinsicht gibt ihm die moderne Forschung darin recht. „Das Gehirn ist offen für alles, sofern es nur einen erwünschten Effekt bringt“, erklärt Birbaumer. Denn für das Überleben muss man flexibel sein, auf sich verändernde Konsequenzen und Effekte reagieren. Charles Darwin sprach vom survival of the fittest, und er meinte damit nicht unbedingt den Starken, sondern den Anpassungsfähigen. Kakerlaken – es gibt sie schon seit 200 Millionen Jahren! –verdanken ihr Überleben der extremen Widerstandsfähigkeit ihres Körpers, sie überstehen sogar Pestizide und den nuklearen Fallout einer Atombombenexplosion. Für den körperlich weit verwundbareren Menschen hingegen hat die Evolution eine andere Methode gefunden, um ihm den Fortbestand zu sichern, nämlich die herausragende Plastizität seines Gehirns.

Aus diesem Grunde kann er, mit Ausdauer, selbst im fortgeschrittenen Alter noch Fremdsprachen oder ein Musikinstrument erlernen. Es kommt nur darauf an, wie und wie fleißig er trainiert. In einer berühmten, oft zitierten Beobachtungsstudie entdeckten Eleanor Maguire und Katherine Woollett vom University College in London, dass die Taxifahrer der englischen Metropole während ihrer Ausbildung einen überdurchschnittlich großen Hippocampus ausbilden. Jene Kandidaten hingegen, die beim Taxilehrgang scheitern, zeigen keine Veränderung an diesem Hirnareal, das beim Raumempfinden und Erinnern eine zentrale Rolle spielt. Was laut Maguire natürlich schon die Frage aufwirft, „was in den Gehirnen der erfolgreichen Absolventen schon vor dem Lehrgang anders war als bei denen, die durchgefallen sind. Hatte ihr Hippocampus ein größeres Potenzial zum Wachstum, waren sie genetisch anders prädisponiert, hatten sie vielleicht einfach nur mehr Motivation?“ Alles Fragen, die einstweilen offenbleiben. Eindeutig ist hingegen die Erkenntnis, dass unser Gehirn nicht nur im Kindes-, sondern auch im Erwachsenenalter enorm lernfähig und formbar ist.

Musik erleichtern Demenzpatienten das Lernen

Dies gilt auch für das geschädigte Hirn. An der Universität Boston wurden 13 Alzheimerpatienten und 14 gesunde Senioren aufgefordert, 40 ihnen unbekannte Kinderlieder zu lernen. Dazu durften sie die Texte nicht nur mehrmals durchlesen, sie erhielten parallel dazu auch noch unterschiedliche Unterstützung: 20 der Lieder wurden ihnen vorgesprochen, die anderen 20 wurden ihnen vorgesungen. Der kognitive Input über den Informationskanal Lesen wurde also einmal mit gesprochenen und einmal mit gesungenen Wahrnehmungssignalen angereichert.

Im Ergebnis zeigten die gesunden Probanden in ihren Lernleistungen keine Unterschiede, was die Wiedergabe der Texte anging. Egal also, ob sie die gelesenen Worte mit ihrem gesprochenen oder gesungenen Klang assoziieren konnten, die Ergebnisse waren gleich gut. Den Demenzpatienten hingegen fiel das Lernen mit musikalischer Unterstützung erheblich leichter. Was einerseits die klinische Erfahrung bestätigt, dass die „musikalischen Hirnareale“ im degenerativen Alzheimerprozess relativ lange erhalten bleiben. Und andererseits, dass es sinnvoll ist, Demenzkranke mit Denk- und Lernaufgaben zu konfrontieren, in denen neue Assoziationen von ihnen gefordert werden. Dies fördert offenbar die plastischen Umbauprozesse im Gehirn.

Verhaltenstraining statt Ritalin

Auch Ängste, Zwangsstörungen und Depressionen lassen sich kontrollieren, indem man das plastische Potenzial des Gehirns nutzt. In Tübingen und andernorts erzielte man mithilfe von Neurofeedback beachtliche Erfolge in der Therapie kindlicher Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS). Die jungen Patienten lernten dabei spielerisch – sie sollten beispielsweise ein Flugzeug auf dem Computermonitor in eine bestimmte Richtung dirigieren – die Neuronen in ihrem Frontalhirn zu aktivieren, mit der Folge, dass sie sich am Ende deutlich besser konzentrieren konnten.

Dieses verhaltenstherapeutische Vorgehen hat gegenüber Medikamenten wie Ritalin den Vorteil, dass dabei das Gehirn nicht pharmazeutisch manipuliert wird, sondern selbst die Zügel in die Hand nimmt. Was nicht nur das Risiko für Nebenwirkungen senkt, sondern auch die Nachhaltigkeit der Therapieeffekte erhöht. Die in Tübingen behandelten ADHS-Kinder besaßen meistens noch zwei Jahre später eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit. „Und wenn sich der therapeutische Effekt abschwächt“, betont Birbaumer, „kann man ja problemlos weitere Neurofeedbacksitzungen nachschieben.“

Locked-in: Die Befreiung der Eingeschlossenen

Sofern es den Betroffenen gelingt, die Plastizität und damit die Selbstkorrekturressourcen ihres Gehirns für sich zu nutzen, lässt sich selbst bei schweren Hirnerkrankungen wie Schlaganfall, Epilepsie oder Parkinson erreichen, dass die Lebensqualität steigt oder zumindest erhalten bleibt. Sogar dann, wenn das Stadium des „Locked-in“ erreicht ist. Dieses (fast) komplette Eingeschlossensein im eigenen Körper steht oft am Ende von zentralnervösen Erkrankungen wie etwa einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einem fortschreitenden Nervenleiden, das mit zunehmendem Muskelschwund einhergeht. (Der berühmteste ALS-Patient ist der Physiker Stephen Hawking, bei dem die Krankheit allerdings glücklicherweise nur langsam fortschreitet.)

Der Zustand des Locked-in tritt weitaus häufiger auf, als oft vermutet wird. Laut jüngeren Erhebungen handelt es sich bei jedem dritten angeblichen Wachkomapatienten – der aufgrund einer massiv geschädigten Großhirnrinde vermeintlich ohne bewusste Wahrnehmung ist – in Wahrheit um einen Locked-in-Patienten. Dessen Großhirnrinde ist zwar annähernd oder sogar voll funktions- und aufnahmefähig, aber seine Muskeln bekommen kein Nervensignal mehr, sodass er zur Bewegungslosigkeit verdammt ist. Er kann nicht mehr laufen, greifen, essen und trinken, und auch Sprechen, Mimik und Gestik funktionieren nicht mehr. Ein vollständig gelähmter Locked-in-Patient kann nicht einmal mehr die Augen bewegen, um sich mit seiner Umwelt zu verständigen. Eigentlich der ultimative Nichts-geht-mehr-Zustand, der zudem noch bei vollem Bewusstsein erlebt wird – doch auch er ist keineswegs endgültig.

So kann ein Locked-in-Patient trainieren, über eine Kontrolle seiner eigenen Hirnaktivitäten ganze Wörter und Sätze zu bilden. Etwa dadurch, dass er mittels seiner Gedanken oder Gefühle bestimmte Hirnwellen erzeugt oder bestimmte Hirnareale durchblutet, wenn er gewünschte Buchstaben oder Silben ausdrücken will. Die entsprechenden Signale werden von einem brain-machine interface, einer Gehirn-Maschine-Schnittstelle registriert und vom Computer in einen gesprochenen oder geschriebenen Satz übersetzt. „Mit einigen unserer Patienten konnten wir auf diese Weise durchaus Gespräche führen“, berichtet Birbaumer. „Manche konnten sogar Briefe verfassen.“

Psychopathie: Das Gehirn Angst lehren

Während Locked-in-Patienten den Zugriff auf ihren Körper verloren haben, fehlt Psychopathen die Angst vor den Folgen ihres Tuns. Diesen beiden so unterschiedlichen Patientengruppen ist aber gemeinsam, dass ihr Zustand in der öffentlichen Diskussion oft als unwiderruflich dargestellt wird. Gerade im Zusammenhang mit kriminellen und gewalttätigen Psychopathen hört man, abhängig vom Schweregrad des Verbrechens, nicht selten die Forderung, sie für immer wegzusperren, weil sie sich ohnehin nie ändern würden. Doch vor dem Hintergrund der Plastizität des Gehirns ist auch das ein Irrtum.

Charakteristisch für die Psychopathie ist das Schweigen unterschiedlicher Regionen des Gehirns in bestimmten Situationen, in denen dort eigentlich Tumult herrschen sollte. Dies betrifft etwa die Amygdala, die Insula und den präfrontalen Kortex. Diese Hirnregionen haben im Wesentlichen eines gemeinsam: Sie sind an unseren Ängsten beteiligt. Schon im Kindesalter gieren psychopathisch veranlagte Personen daher einerseits heftig nach Belohnungen, lassen sich aber andererseits nicht durch Strafen beeindrucken. Während sich andere Menschen auf unangenehme, quälende Reize so konditionieren lassen, dass sie fortan ein ausgeprägtes Angst- und Vermeidungsverhalten zeigen, bleibt diese Konditionierung beim Psychopathen aus. Er macht weiter, völlig unberührt von den negativen Konsequenzen seines Tuns.

Die ermutigende Nachricht lautet nun: Gerade die Angstfunktionskreise im Gehirn sind extrem plastisch. Daher kann der psychopathische Patient durchaus lernen, sie mithilfe des Neurofeedbacks zu aktivieren. Er braucht zwar dazu mit 12 bis 16 Sitzungen deutlich länger als ein gesunder Mensch, der das bereits in zwei bis drei Trainingseinheiten schafft – aber am Ende vermag auch ein angeblich unbelehrbarer Psychopath seine Gehirnfunktionen zu dirigieren.

Bewährung im Alltag trainieren

Oft kann man dann im Hirnscan eine Vergrößerung seiner Amygdala beobachten und – was noch viel wichtiger ist– eine Änderung seines Verhaltens. Wissenschaftler konfrontierten psychopathische Patienten mit Bildern, auf denen grausame Szenen wie etwa verhungerte Kinder oder entstellte Kriegsopfer zu sehen waren. Vor dem Neurofeedback steckten sie all das relativ locker weg – nach der Behandlung hingegen reagierten sie deutlich sensibler, was sich unter anderem auch durch Veränderungen ihres Hautwiderstandes zeigte, also dadurch, dass sie beim Anblick der Bilder mehr schwitzten.

Allerdings muss man Einschränkungen machen, was sich bei einem Psychopathen mithilfe der Plastizität und des Selbststeuerungspotenzials des Gehirns tatsächlich erreichen lässt. So ist es zwar ein Fortschritt, wenn er lernt, seine Angst- und Empathiezentren zu reaktivieren, doch das muss ihm dann auch immer gelingen – und gelingen wollen. Dahin kann man letzten Endes nur kommen, indem man den therapierten Psychopathen wieder sukzessive in den Alltag „hineintrainiert“, wo er sich bewähren muss. Doch dabei wird immer ein gewisses Risiko bleiben, dass er rückfällig wird – und dies ist natürlich angesichts der Konsequenzen für die Opfer nur schwer zu akzeptieren.

Wie man überhaupt die Plastizität des Gehirns nicht unter-, aber auch nicht überschätzen sollte. „Wer niemals Klavier spielen konnte, wird nicht plötzlich ein Klaviervirtuose werden, nur weil er die dazugehörenden Areale im Gehirn aktiviert hat“, warnt Birbaumer.

Literatur

  • Niels Birbaumer, Jörg Zittlau: Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst. Neuste Erkenntnisse aus der Hirnforschung. Ullstein, Berlin 2014

  • E. A. Maguire u. .: London taxi drivers and bus drivers: A structural MRI and neuropsychological analysis. Hippocampus, 16/12, 2006. DOI: 10.1002/hipo.20233

  • S. Ruiz u. a.: Acquired self-control of insula cortex modulates emotion recognition and brain network connectivity in schizophrenia. Human Brain Mapping, 34/1, 2013. DOI: 10.1002/hbm.21427

  • N. F. Simmons-Stern: Music as a memory enhancer in patients with Alzheimer’s disease. Neuropsychologia, 48/10, 2010. DOI: 10.1016/j.neuropsychologia.2010.04.033

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2014: Richtig entscheiden