„Städten geht ein Versprechen voraus“

Lärm, Dichte und Hektik: Städte bedeuten Stress. Dennoch zieht es Menschen zunehmend in Metropolen. Der Psychologe Mazda Adli erklärt, warum. ​

Herr Adli, viele Städter klagen besonders über den Verkehr. In Ihrem Buch Stress and the City berichten Sie von einer US-Studie. Danach ist mancher Autofahrer in Boston so gestresst wie ein Kampfjetpilot im Einsatz. Das ist eine enorme Belastung. Was stresst uns in der Stadt so?

Da gibt es einige Ursachen. In den großen Städten dieser Welt macht uns der Verkehr jeden Tag aufs Neue deutlich, was die Dichte in der Stadt bedeutet. Den Verkehr nennen die meisten Menschen als Erstes, wenn sie gefragt werden, was…

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in der Stadt bedeutet. Den Verkehr nennen die meisten Menschen als Erstes, wenn sie gefragt werden, was sie in der Stadt am anstrengendsten finden. Mobilität ist für viele ein sensibler Punkt. Wenn wir unser Auto durch den morgendlichen Berufsverkehr steuern, müssen wir auf Schritt und Tritt den wenigen Raum mit den anderen Verkehrsteilnehmern aushandeln und viel Geduld mitbringen. Verkehrschaos, Staus, Gedränge im öffentlichen Nahverkehr – das kostet alle Beteiligten Kraft. Lärm und Luftverschmutzung scheinen uns weniger zu schaffen zu machen als die Frage: Wer bekommt Vorrang und den meisten Platz auf den Verkehrswegen? Mit diesem Problem kämpfen alle Städte auf der Welt. Das Zusammenleben in der Stadt ist eben nicht nur einfach. Und das führt uns zum Kern dessen, was uns in der Stadt am meisten Stress bereitet. Ich verfolge mit meinen Kollegen die Hypothese, dass es vor allem der soziale Stress ist, der uns in der Stadt belastet.

Was verstehen Sie genau unter sozialem Stress?

Sozialer Stress ist das, was aus dem Zusammenleben von Menschen erwächst. Immer wenn Menschen zusammenkommen und sich organisieren müssen, wird es auch zur sozialen Herausforderung. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto größer ist das Risiko, dass Einzelne dabei auch unter Druck geraten. Wir vermuten, dass der soziale Stadtstress, der gesundheitsrelevant ist, aus einer Gleichzeitigkeit von hoher sozialer Dichte und sozialer Ausschlusserfahrung entsteht. Das passiert, wenn viele Menschen auf engstem Raum zusammenkommen, man sich aber der Masse nicht zugehörig oder sich ausgeschlossen fühlt. Kommt beides zusammen, entsteht ein Stress, der die Gesundheit belasten kann.

Wenn ich morgens in der überfüllten U-Bahn fahre – wäre das ein Beispiel?

Dafür, dass belastender sozialer Stress entsteht, müssten noch zwei entscheidende Faktoren hinzukommen: die Unkontrollierbarkeit und die Unvorhersehbarkeit des Stresses.

Wir können auch sagen: Der Stress entsteht vor allem dann, wenn Sie das Gefühl haben, diese anstrengende Situation nicht abschalten zu können, wenn Sie sich ihr ausgeliefert fühlen. Aus der U-Bahn steigen Sie nach einigen Stationen wieder aus, die Situation ist also nicht unkontrollierbar. Sie ist auch nicht unvorhersehbar. Wenn Sie regelmäßig mit der U-Bahn fahren, wissen Sie, was da in etwa zur Rushhour auf Sie zukommt.

Es macht auch einen Unterschied, schreiben Sie im Buch, wie ich die Stressquelle bewerte: ob ich etwa die Nachbarn gut leiden kann, deren Musik ich unfreiwillig mithöre – oder diese gar nicht kenne. Warum ist das etwas anderes?

Lärm kann nicht nur akustischen, sondern auch sozialen Stress verursachen, wenn er ungebremst durch unsere Wände dringt und wir uns dagegen nicht wehren können. Dann wird das zu territorialem Stress: Der eigene Rückzugsraum ist dann plötzlich nicht mehr sicher. Etwas ganz anderes ist es, wenn man sich die Lärmquelle gut erklären kann oder dazu sogar eine positive Haltung findet. Wenn man etwa seine Nachbarn mag und sich sagt: „Ach, die feiern heute Geburtstag!“ Wenn man die Geräusche mit Sympathien ausgleichen kann, sind sie weit weniger störend.

Beruhigend bei Lärm oder anderen Stressoren wirkt auch, wenn wir bedenken, dass es sich um eine Unannehmlichkeit handelt, die zeitlich begrenzt ist. Oder wenn wir der Störquelle einen Sinn zuordnen können. Denken Sie an eine Straßenbaustelle. Zu wissen, dass das Gehämmer und der Staub in vier Wochen vorbei sein werden und die Straße dadurch schöner wird, macht es besser. Es heißt nicht, dass uns der Presslufthammer dann gar nicht mehr nervt, aber der Lärm ist dann besser zu ertragen.

Der Stress ist also in der Stadt höher – und das Stadtleben verändert sogar das Gehirn, sagen Sie. Zum Guten oder zum Schlechten?

Das kann man so nicht beantworten. Aber neue Studien zeigen, dass das Stadtleben in der Struktur und der Funktion des Gehirns Spuren hinterlässt. Es betrifft besonders Menschen, die in einer Stadt aufgewachsen sind.

Dabei scheinen die ersten 15 Jahre ausschlaggebend zu sein. Der Lebensraum prägt sich offenbar in dieser Zeit besonders in unser Gehirn ein – und auch in unsere Psyche. Wir wissen heute, dass das Gehirn von Stadtbewohnern empfindlicher auf Stress reagiert. Das ergab unter anderem eine wegweisende Studie aus dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Das wundert mich. Ich hätte vermutet, Stadtbewohner seien eher abgestumpft – weil sie sich mit der Zeit an den Stress gewöhnen.

Dass das Gehirn empfindlicher auf Stress reagiert, bedeutet eher: Es hat bessere Antennen für die Stressoren. Mit diesem Bild der Antennen wird es vielleicht plausibler: In einer Stadt ist das Gehirn einer höheren Dichte von Stressoren ausgesetzt, daher sind die stressverarbeitenden Hirnregionen der Bewohner besonders empfänglich. In der Natur ist es so: Wenn eine Struktur oder ein Muskel gebraucht wird, werden sie größer, differenzieren sich aus. Was das Gehirn betrifft, so gehen wir heute von Folgendem aus: Wenn Stresskanäle in einer Stadtkindheit dauerstimuliert werden, werden sie mit der Zeit empfindlicher.

Warum ist es ein Vorteil, wenn ich als Stadtkind sensibler auf Stress reagiere?

Weil ich dann geschickter mit der höheren Ereignisdichte der Stadt umgehen kann. Allein wenn Sie sich nur durch die Stadt bewegen, müssen Sie häufig anderen ausweichen, im Verkehr ist eine höhere Dichte, wir müssen mit mehr Menschen umgehen, diese sind sehr unterschiedlich: Kinder, Geschäftsleute, Geh- und Sehbehinderte, Straßenmusiker und Senioren, Touristen, Banker und Obdachlose – auf sie alle treffen wir in der Stadt. Daher ist es sinnvoll, wenn unser Gehirn auf solche Herausforderungen, den Stress, angemessen reagieren kann.

Dann haben also alle Glück, die in der Stadt aufgewachsen sind?

Nein. Es zeigt erst mal nur, dass wir mehr Stress ausgesetzt sind. Für viele mag das heißen, dass sie vielleicht anpassungsfähiger sind. Wenn die größere Stressexposition aber mit anderen Risikofaktoren einhergeht, sozialen oder genetischen Veranlagungen, die bestimmte Krankheiten begünstigen, kann es zum Problem werden.

Es ist ja nicht jeder Stress schlecht. Wir brauchen und suchen auch die Anregung.

Stimmt. Menschen brauchen Anregungen, unser Gehirn mag Neues, und es mag Stimulation. Die Stadt kann belasten, aber auch stimulieren, uns wachmachen und unsere individuelle Entwicklung befördern. Wenn wir eine Herausforderung vor uns haben, von der wir glauben, sie bewältigen zu können, so stimuliert diese Art von Stress uns, die Energiereserven und die geistige Leistungsfähigkeit werden mobilisiert. Akuter Stress, der voraussehbar ist und dem man nicht auf Dauer ausgeliefert ist, schadet uns nicht. Es ist der chronische Stress, der uns krank macht, vor allem wenn wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Er geht oft mit einem anhaltenden Gefühl von Angst, Überforderung oder Bedrohung einher. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Ängste oder Depressionen können unter anderem die Folge sein.

Sie schreiben: Stadtbewohner tragen ein höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken. Gleichzeitig gilt: Auf dem Land ist die Suizidrate höher. Wie geht das zusammen?

Stadtbewohner haben tatsächlich ein etwa anderthalbfach höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken. Das hat mehrere Gründe. Depression ist eine typische Stressfolgeerkrankung, und Stadtleben bedeutet nun mal mehr Stress, für manche dann auch mehr chronischen sozialen Stress. Die andererseits höhere Suizidrate in ländlichen Regionen liegt vor allem an der schwierigeren psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung auf dem Land. Depressiv Erkrankte werden dort seltener entdeckt und adäquat behandelt. Selbst für so ein hochentwickeltes Land wie Deutschland gilt das. Wir haben schon in den ländlichen Regionen kurz vor Berlin große Schwierigkeiten, Patienten in eine Psychotherapie zu bringen.

Ein weiterer Grund dafür, dass mehr Suizide in der Landbevölkerung vorkommen, ist die Verfügbarkeit der Mittel. Untersuchungen aus den USA zeigen: Suizide mit Pestiziden, aber auch mit Schusswaffen kommen häufiger in ländlichen Regionen vor. In einem Haus auf dem Land in Minnesota liegt eher mal eine Schusswaffe in der Schublade als in einer Zweizimmerwohnung in New York City.

Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Schon über die Hälfte der Weltbevölkerung wohnt dort. Was zieht die Menschen dorthin? Und wann tut die Stadt den Menschen gut?

Städte sind die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zentren, die Bildungszentren, die kulturellen und die politischen Zentren der Länder. Das zieht die Menschen an. Städten geht ein Versprechen voraus. Diese Vorteile, die uns in die Städte ziehen, bezeichnet man als urban advantage.

Den meisten von uns tut die Stadt gut, sie profitieren von ihrem vielfältigen kulturellen Angebot und der sozialen Vielfalt: Kino, Theater, Konzerte sind oft fußläufig zu erreichen, es gibt größere Wahlmöglichkeiten für Berufe und Ausbildungen, es herrscht mehr Freiheit für persönliche Entfaltung. In Deutschland ist das Förderangebot für Kinder in der Stadt im Durchschnitt viermal so hoch wie auf dem Land. Familien können meist dank kürzerer Wege ihren Alltag leichter organisieren.

Nicht gut in der Stadt geht es vor allem jenen, die in besonderer Weise sozialem Stress ausgesetzt sind und ihm nicht genug entgegensetzen können. Menschen, die keinen ausreichenden Zugang zu den Vorteilen der Stadt haben oder die ein höheres soziales Isolationsrisiko tragen. Das sind beispielsweise ältere Menschen, deren Aktionsradius im Alter immer kleiner wird. Ein Risiko tragen auch Menschen mit Migrationshintergrund, die ein besonderes Risiko für die Erfahrung von Ausschluss und Nichtzugehörigkeit haben. Wer sich dazu noch den Zugang zu den Vorteilen der Stadt wirtschaftlich nicht leisten kann, leidet dort viel eher.

Wie sieht eine Stadt aus, die sowohl Alteingesessenen wie auch Neuankömmlingen gleichermaßen gerecht wird?

Eine Stadt ist dann gut, wenn sie Menschen miteinander verbindet. Und wenn sie dazu Anlass gibt, miteinander in Kontakt zu kommen, auch wenn man sich nicht kennt. Eine Stadt, die das ermöglicht, integriert auch Menschen besser. Reichlich Anlass zu Begegnungen bietet die urbane Kultur. Um soziale Isolation, Abschottung oder Ghettoisierung zu verhindern, brauchen wir Städte, die Menschen dazu anregen, mehr Zeit vor ihrer Haustür zu verbringen statt dahinter.

Studien zeigen, dass Menschen sich wohlfühlen, wenn in einer Straße auch Fenster offenstehen, wenn aufgelockerte Fassaden vorherrschen, die eine Mischnutzung zeigen. Wenn eine Straße also Abwechslung bietet, wenn sich kleine Läden, große Geschäfte, Cafés, Bars, eine Bücherei und Wohnbauten abwechseln. Wir mögen Orte, an denen es öffentliches Leben gibt. Wir brauchen vor allem öffentliche Plätze, gestaltete Plätze, aber auch informelle Orte, über deren Nutzung die Bewohner selbst entscheiden können. Leider verschwinden diese Plätze zunehmend. Eine der großen Qualitäten einer „guten Stadt“, die Menschen zu Begegnungen mit anderen herausfordert, ist Unfertigkeit, also eine Stadt, in der nicht alles durchfunktionalisiert ist. Wo man auch mal selbst überlegen kann, wie man einen Platz benutzen möchte. Wo Bewohner sich mal drei Bänke zusammenschieben können. Wo man Boulekugeln auspacken und spielen kann. Oder sich einfach hinsetzt und sich ein bisschen vom Einkaufen ausruht. Gut sind Straßen in der Stadt, die nicht nur Transitzonen sind, sondern auch Verweilzonen für die Menschen. PH

Interview: Susie Reinhardt

Mazda Adli ist Psychiater und Psychotherapeut. Er ist Chefarzt der Fliedner-Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Charité. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Stress- und Depressionsforschung.Zum Interviewthema ist soeben Mazda Adlis Buch erschienen: Stress and the City. Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind. Bertelsmann, München 2017

Die Stadt kann belasten, aber auch stimulieren. Sie kann uns wachmachen und unsere Entwicklung fördern

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2017: Narzissten