Lebensstil, Sterbensstil

Der Psychologe und Psychotherapeut Werner Gross beleuchtet das Leben und Sterben der bekanntesten Psychotherapeuten in seinem aktuellen Buch.

Gehört zu einem guten Leben ein guter Tod? Was ist das überhaupt: gut sterben? Eine Frage der Philosophie. Der römische Kaiser und Stoiker Mark Aurel meinte in seinen Selbstbetrachtungen: „Auch das Sterben ist ja eine von den Aufgaben unseres Lebens. Genug also, wenn du auch sie glücklich lösest, sobald sie dir vorgelegt wird.“

Aber ist die Frage, ob man so stirbt, wie man gelebt hat, nicht auch – und erst recht – eine der Psychologie? Das meint gleich zu Beginn seines Buches der Psychologe und Psychotherapeut Werner Gross. Er ist seit 50 Jahren auch publizistisch tätig und hat zahlreiche Bücher geschrieben: über Sucht, Körpertherapien, Sekten – und über die seelischen Kosten des beruflichen Aufstiegs.

Die liberale französische Rabbinerin Delphine Horvilleur – oft auch Sterbebegleiterin – gab jüngst in ihrem Buch Mit den Toten leben zu bedenken: „Ich weiß nicht, wie der Tod auf die Lebenden wirkt, die mit ihm konfrontiert sind oder ihn begleiten. Ich bin außerstande zu sagen, welchen Einfluss er auf mich hat, da ich nicht weiß, wer ich heute wäre, wenn ich mich bewusst von ihm ferngehalten hätte.“

Im Schatten des Todes

Gross macht das Gegenteil. Er beugt sich in biografischen Porträts wissend über Sigmund Freud und Alfred Adler, Wilhelm Reich, Jacob Levy Moreno, Fritz Perls und Carl Gustav Jung, über Karlfried Graf Dürckheim und den Begründer der positiven Psychotherapie, den 2010 verstorbenen Nossrat Pesesch­kian. Das ist didaktisch gut, da lehrbuchhaft stringent aufgebaut. Bei jedem der Männer umreißt Gross komprimiert Herkunft, Ausbildung, Theo­riebildung und Theoriesysteme.

Wäre es nicht auch interessant gewesen, Psychologinnen mit aufzunehmen? Etwa Melanie Klein, Anna Freud oder auch die erst vom Stalinismus kujonierte, dann von den Nazis ermordete Sabina Spielrein, der im C.-G.-Jung-Kapitel nur eine knappe Seite reserviert ist?

Gross schreibt gut lesbar, man merkt auf jeder Seite den erfahrenen Autor. Aufschlussreich entfaltet sich ein Panorama der Psychologie der Moderne im Schlagschatten von Krankheit, Sterben und Tod – nicht selten tatsächlich der Widerschein des Lebens. Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, war ein vielerorts gefragter und rastlos durch viele Städte und Länder sausender Vortragender, dem Bewegung psychologisch lebenslang wichtig war. 1937 wurde er bei einem Spaziergang auf der Straße jäh durch einen schweren Herzinfarkt gefällt – und war auf der Stelle tot.

Seine Sterblichkeit annehmen

Der 1893 geborene Fritz Perls, der seit den frühen 1960er Jahren die Gestalttherapie erweitern wollte zu einer „Psychotechnik“ und dies in einem Kibbuz in Kanada lebensweltlich anzuwenden dachte, musste 1970 erfahren, dass er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt sei. Im Fokus seines Lebens standen Freiheit und Selbstbestimmung. Postoperativ im Kranken­haus immer schwächer werdend, erwehrte er sich bis zuletzt der ihm oktroyierten Vorschriften. Er gedachte in Würde zu sterben.

Jacob Levy Moreno, Begründer des Psychodramas, wollte – eingeschränkt durch mehrere Schlaganfälle – bis zuletzt Regie führen, die Kontrolle behalten, wie Gross das durch längere Auszüge aus Interviews vor Augen führt. Auch indem er sich zusätzlich durch ein striktes Fasten bewusst schwächte. Dem Tod stellte er sich nicht entgegen und nahm eine „Todesweisheitsposition“ ein, die dem Aphoristiker Elias Canetti etwa und dessen Positionierung zum Tode vollkommen zuwiderlief. Hatte dieser den Tod immer wieder verflucht und als Lebensfeind gezeichnet, so nahm Moreno seine Sterblichkeit be­wusst an.

Carl Gustav Jung erschien der Tod als Neugierpforte zu einem Abenteuer. Graf Dürckheim starb, wie er es sich selbst gewünscht hatte: bei klarem Bewusstsein und den Tod akzeptierend. Freuds Weg zum Tod, beginnend mit einer schweren Krebserkrankung, war über fünfzehn Jahre leid- und schmerzvoll. Und verstärkte seinen Pessimismus und die sich eindunkelnde Sicht auf die Welt. Klug streut Gross zwischen die acht Porträts „Interludien“ ein, gehaltvolle Miniaturen über Alter, Sterbephasen, Todesarten, Trauer.

Werner Gross: Wie man lebt, so stirbt man. Vom Leben und Sterben großer Psychotherapeuten. Springer, Berlin 2022, 190 S., € 19,99

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