Die optimale Lebensform

Leistungsgesellschaft: Weil Narzisstinnen und Narzissten oft so erfolgreich sind, werden sie nachgeahmt, sagt der Psychiater Giovanni Stanghellini.

Narzisstinnen und Narzissten schaffen ein öffentliches Bild von sich selbst. Weder kennen sie echte Nähe, noch wohltuende Distanz. © Artur Debat/Getty Images

Sind Narzisstinnen und die Narzissten die am besten in die heutige Zeit passenden Personen? Geht es nach dem italienischen Psychotherapeuten und Psychiater Giovanni Stanghellini, Professor an der Universität in Chiety, verkörpern sie mit ihren Werten die heutige Leistungsgesellschaft oder in seinen Worten den „Homo Oeconomicus“: Jederzeit nützlich sein, sich jederzeit optimieren, jederzeit auffallen. Das bedeutet jedoch für Narzisstinnen und Narzissten nicht nur Gutes: Denn ihre Devise laute zwar: „Ich kann“, aber damit gehe einher: „Ich kann, also muss ich“, schreibt Stanghellini in einem Forschungsessay. 

Die Eigenschaften narzisstischer Menschen hätten sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert. Früher seien sie eher wenig wahrgenommen worden, heutzutage aber gelten sie als wichtig, um erfolgreich zu sein. Sie besäßen das Potenzial, massenhaft nachgeahmt zu werden, schreibt Stanghellini. So sei Narzissmus heutzutage zu einer Art Ideal geworden und habe einen Wert in sich. Diese Lebensform biete eine Möglichkeit, eine Art „öffentliches Bild“ von sich selbst zu schaffen und zu pflegen, beispielsweise in den sozialen Medien, das von einem schwachen Selbstwertgefühl ablenke. Narzissmus diene also in der Leistungsgesellschaft als Selbstverteidigung.

Hohe Effizienz, keine Verschwendung

Was kennzeichnet den Homo Oeconomicus? Das Verhalten ist stets produktiv, immer zielgerichtet. Sein oder ihr Kapital ist er oder sie selbst, seine oder ihre Fähigkeiten, inklusive materieller Ressourcen. Der Homo Oeconomicus habe stets ein oder mehrere Projekte am Laufen, die mehr bringen müssten, als sie kosten. Wenn sie das nicht tun, würden sie obsolet. Freie Zeit oder Muße gibt es nicht, oder dient dem Ziel, schnell wieder aktiv zu werden.

Krankheitssymptome werden nicht als Implikation des eigenen verletzlichen Daseins gesehen, sondern müssten rasch behandelt werden, damit man weiter machen könne. Stets geht es um Optimierung, für Utopien sei kein Raum. Auf reale Veränderungen und Probleme reagierten Narzisstinnen und Narzissten in systematischer Weise, weil sie darin die Möglichkeit sähen, steuernd einzugreifen, zu dirigieren und zu modifizieren. Verschwendung werde in jeder Hinsicht abgelehnt, ob es nun um Zeit oder Geld gehe. Der eigene Körper sei für den Homo oeconomicus eine Art Visitenkarte, eine Art Material, dass es zu formen gelte, damit andere es sehen. Nur dafür ist die Person da: Von anderen gesehen zu werden. Stichwort Andere: Sie müssten für moderne Narzisstinnen und Narzissten nützlich sein, stets verfügbar, stets nah - aber ohne echte Intimität, weil das nicht produktiv ist, eine Verschwendung.

Diese Art von Narzissmus könne scheitern, schreibt Stanghellini, das bedeute dann aber auch: „Ich bin gescheitert“. Denn wenn ich mein Projekt bin und dieses Projekt nicht funktioniert, dann bin auch ich gescheitert, niemand sonst. Zwischen Tun und Sein werde nicht mehr unterschieden. Das führe im schlimmsten Fall zu einer „psychischen Insolvenz“ und zu völliger Negativität, ein Zustand, der schlimmer sei als eine Depression, meint der Psychotherapeut. 

Du musst, ich will, ich kann nicht 

Drei weitere ebenfalls häufige, aber nicht so gut angepasste Typen des modernen Menschen hält Stanghellini dagegen: Da ist der „Typus Melancholicus“. Dies seien ordnungsliebende und harmoniebedürftige Personen, die Ambiguität nicht gut aushalten und für die die Mitmenschen schnell bedrohlich werden, anstatt dass sie als Bereicherung wahrgenommen werden. Für sie lautet die Devise: „Du musst“. Versagen führe zu Schuldgefühlen, zu konkreten materiellen Verlusten, Hypochondrie. 

Borderline Personen hingegen sehnen sich nach Intensität, Exzess und Ungehorsam. Ihre Devise laute: „Ich will“. Sie seien besonders stark getrieben vom Wunsch nach Anerkennung. Wer mit ihnen Beziehungen eingehe, begebe sich in eine „sengende Hölle“ aus Begehren, Erwartungen, Ärger, Erniedrigung, Enttäuschung, Liebe, Hass, Rachewünschen, Verzweiflung. Ohne Anerkennung verlieren Borderline Personen sich selbst und wer sich ihnen nicht ganz hingibt und sich nicht in ihre Welt begibt, gibt sie damit automatisch auf, so die These des Psychiaters.

In dem Moment, wo sie das Gefühl haben, aufgegeben zu werden, erleben Borderlinerinnen und Borderliner eine Art Zusammenbruch. Und schließlich ist da noch der Homo Neuroticus, die oder der sich gerne innerhalb von Verboten und Pflichten bewegt, dabei aber weder Verantwortung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse übernimmt, noch dafür, dass sie bewusst unbefriedigt bleiben. Dieser Typus gehe keinerlei Risiken ein und bewege sich lieber innerhalb selbst auferlegter Grenzen, schreibt der Psychotherapeut. Seine Devise: „Ich kann nicht“.

Giovanni Stanghellini: Homo oeconomicus: A key for understanding late Modernity Narcissism? Psychopathology, 2022. DOI: 10.1159/000525678

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