„Es ist ein fragiles Geschehen“

Fiona Kazarovytska und Roland Imhoff forschten über kollektiven Narzissmus und unser Verhältnis zur NS-Vergangenheit.

Ein Denkmal in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald in der Dämmerung
© Otto Stadler/Getty Images

Frau Kazarovytska, Herr Imhoff, was bedeutet es aus psychologischer Sicht, einen „Schlussstrich“ unter bedeutende historische Ereignisse ziehen zu wollen?

Kazarovytska: Wir meinen damit den Wunsch, sich nicht mehr mit einem bestimmten Teil der Geschichte des eigenen Landes auseinandersetzen zu müssen. Häufig handelt es sich dabei um Ereignisse, die ein negatives Licht auf die eigene Gruppe werfen. Es geht also insbesondere um Geschehnisse, die mit der Täterschaft der Gruppe zu tun haben, in diesem Fall der…

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geht also insbesondere um Geschehnisse, die mit der Täterschaft der Gruppe zu tun haben, in diesem Fall der nationalsozialistischen Deut­schen.

Das Phänomen findet sich natürlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, wenn etwa der Wunsch besteht, sich nicht mit der Kolonialvergangenheit des eigenen Landes beschäftigen zu müssen. Auch hier geht es um Täterschaft.

Wir verstehen den Wunsch nach einem Schlussstrich hier als Ausdruck von historischer Defensivität, ein positives Bild von Deutschland soll aufrechterhalten werden. Zugleich sollen aversive Gefühle von Schuld und Scham herunterreguliert und gedämpft werden. Wenn ein Schlussstrich gezogen wird, wie auch immer das aussehen mag, dann muss man sich nicht länger schuldig fühlen.

Es gibt kollektive und individuelle Narzisstinnen und Narzissten. Worin ähneln sie sich?

Imhoff: Die Idee des kollektiven Narzissmus stützt sich auf Modelle des individuellen Narzissmus. Die Denkfigur des vulnerablen Narzissmus zum Beispiel geht davon aus, dass hinter einem vordergründig hohem Selbstwert eine gewisse Fragilität und auch Kränkbarkeit liegt. Kollektiver Narzissmus beschreibt etwas Ähnliches, bezogen auf eine Gruppe, eine soziale Identität. Hier wird die Großartigkeit der eigenen Gruppe behauptet, aber dieses positive Bild ist fragil und behaftet mit dem Gefühl, sich stark mit einer einzigen Gruppe zu identifizieren. Das ist das Interessante daran: Möglicherweise sind andere Gruppen ihnen gleichgültig. Aber sie denken, dass diese Gruppe, die ihnen wichtig ist, generell zu wenig Anerkennung bekommt und viel mehr Wert­schätzung und Bewunderung verdient hätte, als sie tatsächlich erhält. Das führt dazu, dass ihre Schwelle, eine Kränkung wahrzunehmen, eher niedrig ist und dass sich sehr schnell ein Gefühl einstellt, zu kurz zu kommen.

Das heißt: Dass Bewunderung ausbleibt, wird als Kränkung erlebt. Aber selbst wenn beispielsweise Deutschland viel mehr weltweite Anerkennung erhielte, würde es auch nicht ausreichen. Und darin sind sie Personen ähnlich, die persönlich das Gefühl haben, dauerhaft zu wenig Anerkennung, Beifall und Bewunderung zu bekommen. Es ist nie genug. Die Ähnlichkeit liegt darin, dass einerseits das Gefühl von Großartigkeit da ist, das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, aber andererseits sich die Personen nie ganz sicher sind. Es kann schnell einbrechen, es ist ein fragiles Geschehen.

Hat sich Ihre Vermutung bestätigt, dass kollektive Narzisstinnen und Narzissten besonders häufig den Wunsch nach einem historischen Schlussstrich äußerten?

Kazarovytska: Ja. Der Zusammenhang lag aus unserer Sicht nahe und er hat sich in drei Studien mit insgesamt über 1300 Teilnehmenden bestätigt. Kollektiver Narzissmus hing signifikant mit dem Wunsch nach einem historischen Schlussstrich zusammen, also mit dem Wunsch danach, dass die NS-Geschichte nicht mehr aufgearbeitet wird und man sich nicht mehr mit ihr beschäftigt.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 wünschen sich bis zu 60 Prozent der Deutschen einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Warum?

Imhoff: Erst einmal muss nicht jede Form der Abwendung von der Vergangenheit defensiv sein. Es könnte ja schlicht so sein, dass es einem wichtiger erscheint, sich mit dem Klimawandel zu beschäftigen, der unsere Lebensgrundlage bedroht. Das wäre plausibel, wenn man annimmt, dass die menschliche Aufmerksamkeit eine Art Nullsummenspiel ist und einfach nicht für all diese schweren Themen gleichzeitig ausreicht. Manche Menschen haben vielleicht auch das Gefühl, dass der Schlussstrich notwendig ist, damit das Täter-Opfer-Gefüge durch Augenhöhe „ersetzt“ werden kann und es nur so zu einer echten Versöhnung kommt.

Das alles haben wir in einer anderen Studienreihe abgefragt, aber unsere Ergebnisse waren dann doch ernüchternd: Diejenigen, die der Meinung waren, dass „die Juden sich nicht mehr beschweren“ sollten, waren leider dieselben, die den historischen Schlussstrich wünschten.

Bedeutet das auch, dass 60 Prozent der Deutschen zu kollektivem Narzissmus neigen, das wäre ja ein sehr hoher Anteil?

Kazarovytska: Nein, ich denke, so kann man das nicht betrachten. Es stimmt zwar, dass mit höheren Ausprägungen des kollektiven Narzissmus auch eine höhere Zustimmung zu der Schlussstrichforderung einhergeht, aber das bedeutet nicht, dass alle, die zum kollektiven Narzissmus tendieren, auch einen Schlussstrich ziehen wollen oder alle, die einen Schlussstrich ziehen wollen, auch hoch ausgeprägte kollektive Narzissten sind.

Sie haben auch nach der Bereitschaft gefragt, die kollektive deutsche Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu akzeptieren. Haben hier die kollektiven Narzisstinnen und Narzissten andere Angaben gemacht?

Imhoff: Ja. Diejenigen, die sehr deutlich den historischen Schlussstrich wünschten, gaben die geringste Bereitschaft an, eine kollektive Schuld zu akzeptieren. Diese Bereitschaft war aber bei allen Befragten generell nicht hoch, was wir auch plausibel finden: Die meisten Menschen verstehen unter Schuld etwas Individuelles, etwas, das man persönlich getan hat. Für die Taten der Vorfahren fühlen sich Menschen heute nicht persönlich schuldig.

Das Thema der kollektiven Schuld hat der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Schrift Schuld und Abwehr aufgegriffen. Er nahm an, dass viele Deutsche latent Schuldgefühle haben müssten. Er glaubte, dass einige wenige diese Schuld zugeben könnten und viele andere versuchten, dies nicht zu tun. Stattdessen seien die Opfer abgewertet und ihnen die Schuld zugeschoben worden. Wieder andere lehnten die Auseinandersetzung mit dem Thema ab, weil es schon so lange her sei: „Damit möchten wir nichts mehr zu tun haben.“

Aus psychologischer Sicht ist es auch wie gesagt nicht unbedingt plausibel, kollektive Schuld zu empfinden. Menschen sind nicht bereit, etwas zu schultern, das sie nicht getan haben. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen: Über die Frage nach der kollektiven Schuld ist mehr geforscht worden, als dass Menschen sie wirklich gefühlt hätten.

Gab es einen Zusammenhang mit der politischen Orientierung der Befragten?

Imhoff: Die meisten, die hohe Werte auf der Skala für kollektiven Narzissmus erzielten, waren konservativ bis rechts orientiert.

Was bedeutet das Ihrer Auffassung nach?

Kazarovytska: Der kollektive Narzissmus und eine konservativ bis rechte politische Orientierung hängen zwar beide mit dem Wunsch zusammen, sich nicht mehr mit der Tätergeschichte zu beschäftigen, aber aus unterschiedlichen Gründen. So mögen manche Menschen die Art nicht, wie die NS-Geschichte durch den Staat aufgearbeitet wurde, etwa in KZ-Gedenkstätten. Anderen gefällt nicht, dass die Aufarbeitung nie abgeschlossen ist. Und dann gibt es noch jene, die denken: Wir haben doch genug gemacht. Nun sind wir moralisch berechtigt, damit aufzuhören.

Welche Rolle spielt denn die Aufarbeitung der NS-Geschichte heute noch in der öffentlichen Diskussion und in den Debatten der Medien?

Kazarovytska: Aktuelle gesellschaftspolitische Dynamiken sind – nicht nur in Deutschland – stets von historischen Ereignissen mitgeprägt. Auch wenn nicht direkt darüber gesprochen wird, es schwingt häufig mit. In Deutschland ist das oft der Nationalsozialismus. So war es etwa, als im Jahr 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen und politisch immer wieder darauf Bezug genommen wurde, dass wir eine besondere historische Verantwortung haben, den Geflohenen zu helfen und sie aufzunehmen. Unsere Geschichte und auch unsere Sichtweise und Interpretation historischer Ereignisse beeinflussen uns und unser politisches Handeln.

Sehen Sie ein Problem darin, wenn sich so viele kollektiv narzisstische Menschen einen historischen Schlussstrich wünschen und dann gekränkt sind, dass es diesen nicht gibt?

Kazarovytska: Wenn wir uns nicht mit unserer Geschichte auseinandersetzen, besteht die Gefahr, dass diese verharmlost oder umgedeutet wird, und das finde ich problematisch. Das haben wir in der Pandemie erlebt, als die Regeln zur Eindämmung der Pandemie von manchen Menschen mit einem faschistischen Regime gleichgesetzt wurden oder die sogenannten Querdenker sich mit den Juden in Nazideutschland verglichen. Oder wir erleben es jetzt im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auf russischer Seite unter anderem durch die Behauptung gerechtfertigt wird, die Ukraine sei ein Nazistaat. Auf diese Weise wird Geschichte zu ideologischen Zwecken umgedeutet.

Imhoff: Wenn man einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit ziehen will, wenn man die Auseinandersetzung damit ablehnt und davon nichts hören will, dann verpasst man als Gesellschaft die Chance, sich darüber zu verständigen, wer man eigentlich sein will.

Fiona Kazarovytska ist ­Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz

Roland Imhoff ist Psychologe und Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Universität Mainz

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Fiona Kazarovytska, Roland Imhoff: Too great to be guilty? Individuals high in collective narcissism demand closure regarding the past to attenuate collective guilt. European Journal of Social Psychology, 52/4, 2022, 748–771. DOI: 10.1002/ejsp.2850

Stand: Mai 2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: DAS DOSSIER Psychologie Heute: Narzissmus