Leiden Sie unter einem der folgenden Symptome: Stress, Unwohlsein, Angstzustände, innere Erregung, Erschöpfung, Libidoverlust, Gedächtnislücken, Reizbarkeit, Schlafstörungen, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Überforderung und Niedergeschlagenheit? Sind Sie morgens nach dem Aufwachen meistens unmotiviert und antriebslos, schleppen sich durch den Tag und warten nur noch darauf, dass er endet? Vielleicht machen sich auch diffuse Ängste oder Panikattacken bemerkbar, ohne dass Sie wissen, warum? Und gelingt es…
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sich auch diffuse Ängste oder Panikattacken bemerkbar, ohne dass Sie wissen, warum? Und gelingt es Ihnen nicht, das Karussell Ihrer negativen Gedanken anzuhalten, das Sie an die Grenzen Ihrer Belastbarkeit bringt?
Alle diese Beschreibungen gehören zu Symptomen, die normalerweise der Diagnose „klinische Depression“ zugeordnet werden. Wenn Sie diese Diagnose im Rahmen der konventionellen Medizin bekommen und dort Hilfe suchen, erhalten Sie wahrscheinlich ein Rezept für ein Antidepressivum aus der Klasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Die vorherrschende Theorie besagt, dass ein Mangel des Botenstoffs Serotonin eine Depression auslösen kann und dass diese Medikamente den Stoffwechsel des Neurotransmitters Serotonin positiv beeinflussen. Allerdings gibt es heftige Diskussionen darüber, ob es diesen Zusammenhang zwischen niedrigem Serotoninspiegel und Depression gibt. „Ich habe die ersten Jahre meiner beruflichen Laufbahn der Vollzeiterforschung des Serotoninmetabolismus im Gehirn gewidmet, aber keine Forschungsarbeit zu Gesicht bekommen, die überzeugend belegen konnte, dass psychiatrische Störungen gleich welcher Art, einschließlich der Depression, von einem Serotoninmangel im Gehirn herrühren“, stellt der Psychiater David Burns fest, der in den 1970er Jahren Serotoninforschungsprojekte durchführte.
Die Cochrane Collaboration, ein in London ansässiges Netzwerk, dem über 31 000 Wissenschaftler aus mehr als 140 Ländern angehören, führt die weltweit gründlichsten unabhängigen Analysen zur Erforschung des Gesundheitswesens durch. Gestützt auf Daten des British Medical Journal, des Journal of the American Medical Association und der Centers for Disease Control, die sich mit Krankheitskontrolle und Prävention befassen, stellte man dort fest, dass verschreibungspflichtige Medikamente an dritter Stelle der häufigsten Todesursachen stehen, hinter Herz- und Krebserkrankungen. Und was psychotrope Substanzen angeht, so fallen die Schlussfolgerungen der Cochrane Collaboration noch erschreckender aus. Mit den Worten von Peter Gøtzsche, Direktor des Nordic Cochrane Centre Kopenhagen und Wissenschaftsforscher: „Unsere Bürger wären erheblich besser beraten, wenn wir alle psychotropen Substanzen vom Markt nähmen, da die Ärzte unfähig sind, damit umzugehen. Es ist unvermeidbar, dass ihre leichte Verfügbarkeit mehr Schaden anrichtet als Gutes bewirkt.“
Im Verlauf meiner schulmedizinischen Ausbildung habe ich gelernt, dass Antidepressiva für Depressive genauso unerlässlich sind wie eine Brille für Fehlsichtige. Doch ich kann diese Auffassung nicht länger teilen. Denn die Symptome mentaler Erkrankungen sind weder ein ausschließlich psychologisches noch ein rein neurochemisches Problem. Vielmehr ist eine Depression ein Symptom, ein Anzeichen dafür, dass an irgendeiner Stelle im Körper eine Unausgewogenheit oder ein Problem entsteht, das in Angriff genommen werden sollte.
Psychische Symptome sind nur die Spitze des Eisberges
Bei vielen Patienten, die heute durch die Psychopharmakamühle geschleust werden, sind Überdiagnosen, Fehldiagnosen oder Fehlbehandlungen an der Tagesordnung. In Wirklichkeit leiden sie unter brain fog, einem „Gehirnnebel“, der infolge von Stoffwechselveränderungen, Schlafstörungen, innerer Erregung und Angstzuständen auftritt, und zwar aus Gründen, die mit den chemischen Prozessen im Gehirn wenig zu tun haben. Die meisten mentalen Erkrankungen sind Lebensstilfaktoren und physiologischen Problemen geschuldet, die nicht erkannt wurden und sich auf einer Ebene entwickeln, die weit vom Gehirn entfernt ist, beispielsweise im Darm und in der Schilddrüse. Richtig: Ihr Stimmungstief und das anhaltende Gefühl des Unwohlseins sind möglicherweise auf ein Ungleichgewicht zurückzuführen, das nur indirekt mit den chemischen Vorgängen im Gehirn in Verbindung steht. Was Sie zum Frühstück zu sich nehmen (denken Sie an Vollkorntoast, frisch gepressten Orangensaft, Milch, Mehrkornmüsli) und wie Sie mit einem hohen Cholesterinspiegel und den Kopfschmerzen am Nachmittag umgehen, könnte durchaus mit den Ursachen und Symptomen Ihrer Depression zusammenhängen.
Im Gegensatz zu den meisten Psychiatern stelle ich bei depressiven Symptomen deshalb kein Rezept mehr aus. Ganz im Gegenteil: Ich kläre die medizinische und persönliche Vorgeschichte von allen Patienten ab, ich ordne außerdem Laboruntersuchungen an, um mir einen Eindruck vom biologischen Gesamtbild meiner Patientinnen und Patienten zu verschaffen, ich nehme ihre früheren Erfahrungen zur Kenntnis, richte mein Augenmerk aber in gleichem Maß auf die gegenwärtige Entwicklung, wobei die Aktivitäten auf der Zellebene und die potenzielle Beeinträchtigung des Immunsystems im Vordergrund stehen.
Die medizinische Literatur betont seit mehr als 20 Jahren die Rolle, die Entzündungsprozesse bei mentalen Erkrankungen spielen. Ich pflege genau hinzuhören und stelle Fragen zur Lebensweise meiner Patientinnen, ein Einflussfaktor, der in der konventionellen Medizin kleingeredet und vernachlässigt wurde. Ich denke über das ganzheitliche Bild nach, ziehe Zuckerkonsum und andere Ernährungsgewohnheiten in Betracht, das Zusammenspiel zwischen dem Darm und den Mikroorganismen, die ihn besiedeln, den Hormonspiegel, beispielsweise von Schilddrüsenhormonen und Kortisol, genetische Varianten in der DNA, die das Risiko erhöhen, Depressionssymptome zu entwickeln.
Alle meine Patientinnen haben ähnliche Ziele: Sie möchten körperlich vital und emotional ausgeglichen sein, und diese Ziele erreichen sie meiner Erfahrung nach durch grundlegende Lebensstilveränderungen, welche die Selbstheilungsmechanismen des Körpers stärken. Wohlbefinden zu erreichen bedeutet, dem Körper die richtigen Informationen zukommen zu lassen und ihn vor aggressiven Übergriffen zu schützen. Dabei geht es nicht nur um die mentale Gesundheit, die eine Manifestation aller physischen Erfahrungen ist und die Einschätzung des Geistes hinsichtlich der eigenen psychischen Sicherheit und Stärke beinhaltet. Es geht auch um die Erkenntnis, dass Symptome lediglich die Spitze eines riesigen Eisbergs mit all seinen Ecken und Kanten darstellen, die unter der Oberfläche lauern.
Wenn Sie Symptome bemerken –, beispielweise Konzentrationsschwäche, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Blähungen, die Neigung zu Weinerlichkeit, chronische Müdigkeit oder Angstzustände – hinterfragen Sie Ihren Zustand. Fragen Sie nach dem „Warum“ und versuchen Sie, Verbindungen herzustellen. Die äußeren körperlichen Symptome sagen etwas über das innere Gleichgewicht aus. Treten Sie einen Schritt zurück und nehmen Sie die Komplexität Ihres Organismus zur Kenntnis. Behandeln Sie Ihren Körper nicht wie eine Maschine. Wir sind wesentlich mehr als Knöpfe und Hebel, die es zu betätigen gilt, um zu funktionieren.
Dr. Kelly Brogan ist Psychiaterin, Neurologin und Medizinerin in eigener Praxis in New York. Ihr Buch Die Wahrheit über weibliche Depression. Warum sie nicht im Kopf entsteht und ohne Medikamente heilbar ist (Koautorin: Kristin Loberg übersetzt aus dem Amerikanischen von Ursula Bischoff) erscheint dieser Tage im Beltz-Verlag, Weinheim.