Kein Gefühl für Gefühle

Sie können nicht ausdrücken, was sie für andere empfinden, und sind unfähig, engen Freuden ihre Emo­tionen mitzuteilen: Alexithymie ist sehr belastend, hat aber durchaus auch Vorteile

Er sei eben „etwas anders“, schon als Teenager habe er die großen Gefühle seiner Altersgenossen nicht verstanden, sagt Peter S. Bis auf das Teamgefühl im Sportverein. Ansatzweise. Aber sonst? Da „ist einfach so wenig“, sagt der ehemalige Tierarzt. „Ich fühle nur im Kopf, bis zum Halsansatz.“ Kein wallendes Blut, keine Wut im Bauch, kein rasender Puls, kein Hals, der sich zusammenschnürt und so weiter. Alles nur wie „eine Art Nervosität“. Und weiter: „Ich sehe die Gefühle wie in einem Spiegel.“

Beginnen wir…

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Art Nervosität“. Und weiter: „Ich sehe die Gefühle wie in einem Spiegel.“

Beginnen wir mit dem Guten an diesem Phänomen, das Psychologen Alexithymie nennen, was aus dem Griechischen kommt und „Gefühlsblindheit“ bedeutet. Gefühle sind ja bekanntlich nicht nur positiv. Im Gegenteil: Ärger, Zorn, Angst, Schuld und so weiter quälen viele Menschen oft länger, als ihnen lieb ist, zum Beispiel nach Konflikten in Partnerschaften oder im Job. Herr S. bezeichnet sich „in dieser Beziehung schon als entspannter im Vergleich zu anderen Menschen“. Konflikte würden ihn nicht so stark belasten, sagt er, „das ist schon ein großer Vorteil, man ist einfach weniger gefangen in seinen Gefühlen“.

Sabine Aust sieht auch, „dass Alexithymie durchaus wünschenswerte Aspekte haben kann“. Die Psychologin vom Berliner Universitätsklinikum Charité und ihre Kollegen haben sich in ihren Studien jahrelang wissenschaftlich mit der Gefühlsblindheit beschäftigt und mit Hunderten Betroffenen gesprochen. Aust ist es wichtig, mit einem Vorurteil aufzuräumen. „Die Alexithymie an sich ist keine Störung in einem psychiatrischen Sinne“, sagt sie, „sondern ein Persönlichkeitsmerkmal.“ Wie sich die Gefühlsblindheit auswirkt, hängt ab von der sozialen Umwelt der Betroffenen. Sie kann aber zusammen mit psychiatrischen Störungen oder Auffälligkeiten vorkommen – etwa einer Depression oder Angststörung oder einem Trauma.

Entdeckt hat die Alexithymie der amerikanische Psychiater Peter Sifneos. In den 1970er Jahren behandelte er unter anderem Patienten mit chronischen Schmerzen, die nur seelisch zu erklären waren. Da fiel dem Mediziner auf, dass diese Patienten oft Probleme hatten, Gefühle sprachlich auszudrücken oder zu beschreiben.

Das emotionale Analphabetentum ist allerdings nur ein Merkmal der Alexithymie. Ein zweites ist die Unfähigkeit, nicht oder kaum fühlen zu können. Und als drittes Merkmal beschreiben die Experten die Neigung der Betroffenen, sich sachlich eher Dingen in der Außenwelt zuzuwenden. Im Klartext: Weil sie oft nicht wissen, welche Gefühle sie haben, gehen sie der Innenschau lieber aus dem Weg und lassen die Dinge ohne emotionale Reflexion gerne einfach so geschehen. Sie können nicht ausdrücken, was sie für andere empfinden, unterhalten sich lieber darüber, womit sie sich täglich beschäftigen, können selbst engen Freunden ihre Emotionen nicht mitteilen. Sie haben eine eher begrenzte Vorstellungskraft und neigen dazu, Gefühle durch Handlungen auszudrücken und Konflikte durch Handlungen zu entschärfen.

Auf derlei Punkten basieren verschiedene Tests, mit denen sich eine Alexithymie ermitteln lässt. Peter S. hat die meist benutzte Toronto Alexithymia Scale (TAS) im Internet gefunden (www.alexithymie.com/en/test-alex.html). Nachdem er Aussagen zustimmen konnte wie „Wenn ich nach meinen Gefühlen gefragt werde, weiß ich oft keine Antwort“, „Wenn andere Menschen gekränkt oder aufgebracht sind, habe ich Schwierigkeiten, mir ihre Gefühle vorzustellen“ oder „Meine Gefühle für andere Menschen zu beschreiben, finde ich oft schwierig“, ermittelte er seinen Wert. Der liegt „hoch“, sagt er, „sehr hoch“. Abhängig von den Testergebnissen unterscheiden die Fachleute zwischen schweren, mittleren und leichten Ausprägungen. Eine Person mit schwacher Alexithymie kann Gefühle noch relativ gut wahrnehmen und ausdrücken. Menschen mit mittlerer Alexithymie nehmen Gefühle zwar wahr, können sie aber schlecht beschreiben oder umgekehrt. Hochgradig Alexithyme zeigen in allen Facetten Defizite.

Zehn Prozent der Bevölkerung gelten als gefühlsblind. Männer wie Frauen sind gleichermaßen betroffen

Gefühlsblindheit kommt häufig vor. Aufgrund von Erhebungen in mehreren Ländern gehen Forscher davon aus, dass zehn Prozent der Bevölkerung alexithym sind. Das gilt auch für Deutschland, wie eine Studie der Universitäten Düsseldorf und Gießen gezeigt hat. „Es sind ganz normale Menschen“, sagt Sabine Aust, „nicht nur Nerds, die sich allein in ihrem Büro verkriechen und vor sich hin arbeiten.“ Und keineswegs sind überwiegend Männer betroffen, sondern beide Geschlechter in etwa gleichermaßen.

Die Psychologin und ihre Kollegen von der Charité haben in einer Studie mögliche Ursachen der Alexithymie beleuchtet und zunächst 120 mehr oder minder betroffene Alexithymiker für ihre Studien interviewt. Diese hatten keine sonstige psychiatrische Störung oder Krankheit – das ist wichtig, denn die meisten bisherigen Verhaltensstudien schlossen Menschen mit solchen Begleiterkrankungen ein.

Es stellte sich heraus: Vorwiegend emotionale Vernachlässigung ist eine der möglichen Ursachen der Alexithymie. „Viele sind aufgewachsen in unterkühlten Elternhäusern, wo es wenig Wärme gab“, sagt Aust. Das kam auch in diversen anderen Studien heraus, als Forscherteams bei Alexithymikern mit seelischen Problemen oder Störungen nach Ursachen fahndeten. Als sie Kind waren, wurden diese Betroffenen nicht nach ihren Gefühlen gefragt. Sie erhielten über viele Jahre hinweg nur bedingt Zuneigung.

Peter S. kam erst vor ein paar Jahren den Ursachen seiner Gefühlsblindheit auf die Spur. Da konnte er sich im Zuge einer Therapie plötzlich daran erinnern, was jahrzehntelang in den Tiefen des Unbewussten verschollen war: dass ihn sein Vater in seiner Kindheit bis zum zehnten Lebensjahr missbraucht hat. Vermutlich im Zuge einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression „habe ich wohl eine Überlebensstrategie entwickelt – es war besser, kaum noch was oder nichts zu fühlen“. Eine Art „neutraler Modus“, wie er anfügt. Als Dauerzustand.

Seit langem wissen Psychologen, dass derartiger Stress in der frühen Kindheit das seelische und emotionale Befinden erheblich beeinflusst und – damit verbunden – die Entwicklung und Reifung bestimmter Hirnregionen bremst, die das Gefühlsleben verarbeiten. Dazu gehören das limbische System und auch der Hippocampus. Wer in seiner Kindheit selten ausgeprägte Emotionen erlebt, bildet weniger Nervenverbindungen in jenen Regionen des Gehirns. Solche Synapsen werden durch Lernprozesse und Erfahrungen angelegt und gefestigt. Folgerichtig „erkennen wir schwächer ausgebildete Nervennetzwerke von Gefühlen im Gehirn von Alexithymikern“, sagt Aust, die selbst Studien mit einem „funktionellen Kernspintomografen“ abgeschlossen hat. Mit dieser Maschine lässt sich über allerlei technische Tricks verfolgen und auf bunten Bildern darstellen, was wo im Gehirn passiert, wenn jemand denkt, fühlt oder handelt. Für ihre Studie hatten die Berliner Forscher 25 Personen mit schwacher und 25 mit starker Alexithymie ins Labor gebeten. Die Forscher ermittelten vor dem Start der Scannerversuche, wie groß die frühkindliche Belastung der Probandinnen und Probanden war.

Zunächst einmal zeigten die Versuchsteilnehmer eine geringere Aktivität als üblich in einer Hirnregion namens Insula. Die Insula verarbeitet körperliche Signale, die für das Empfinden eines Gefühls wichtig sind. Zudem arbeitet das Großhirn im Bereich des Temporalpols weniger – die Region am Ende des Schläfenlappens, welche die emotionalen Zustände bewertet und wichtig für das emotionale Gedächtnis ist. „Das gesamte emotionale Netzwerk im Gehirn ist heruntergefahren“, resümiert Aust.

Entsprechend brauchen Alexithymiker aus der Umwelt mehr Informationen und emotionale Inhalte als andere Menschen, um überhaupt etwas zu fühlen. Einfaches Beispiel: Angst, Freude, Ärger, Wut, Stolz und so weiter – alle diese Emotionen drücken sich in der Mimik des Gesichtes aus. Zeigt man nun Menschen Fotos mit emotionalen Gesichtsausdrücken, aktiviert das Gehirn seine Emotionszentren. Normalerweise funktioniert das sehr schnell, binnen Tausendstelsekunden. Bei Alexithymikern, so das Ergebnis einer weiteren Hirnscannerstudie, startet die Aktivierung des limbischen Systems genauso zügig wie bei anderen Menschen – aber nur, sofern die gezeigten Gesichter ganz klar sichtbar sind. Sind die Bilder unscharf oder auf den Kopf gestellt, stehen also weniger Reize für die Wahrnehmung der Emotionen zur Verfügung, reagieren die emotionalen Hirnzentren von Alexithymikern deutlich langsamer.

Das hatten die Forscher auch erwartet, eben weil diese Zentren durch den mangelnden Input in der Kindheit nicht vollends ausgebildet sind. Folgerichtig „machen die Probanden auch mehr Fehler“, sagt Aust, „können also nicht genau sagen, ob es sich beim abgebildeten Gefühl zum Beispiel um Angst oder Wut handelt“. Gesichter aber sind im täglichen Leben oftmals nicht eindeutig zu erkennen. Insofern kann sich die Psychologin schon vorstellen, „dass es zu Problemen kommen kann, wenn man so ganz feine Veränderungen in der Mimik nicht richtig einordnet oder wahrnimmt“. Zum Beispiel in einem Beruf, in dem das besonders wichtig ist.

Peter S. hatte dieses Problem zum Glück nicht. Als Tierarzt war er „richtig erfolgreich“: „Die Tiere mochten mich.“ Emotionen spielten im professionellen Umgang seiner Praxis keine große Rolle. Wohl aber in der privaten Beziehungswelt. Für alle seiner Partnerinnen ist seine vermeintliche emotionale Gleichgültigkeit auf Dauer nicht zu ertragen gewesen. Die Konsequenz: Trennungen, immer wieder. PeterS. war davon irgendwann dermaßen gestresst, dass er in eine ernsthafte Lebenskrise stürzte und seinen Beruf aufgab. Diagnose: Burnout. „Im Grunde“, sagt er, „war ich all die Jahre schon depressiv und voller Angst.“ Doch ob die Alexithymie wirklich ein allgemeiner Risikofaktor für psychische Störungen oder Erkrankungen sein kann und ob sich dieses vermeintliche Risko mit steigenden Werten in den Alexithymietests erhöht, daran zweifelt Sabine Aust. Sie hat festgestellt, dass etliche ihrer Alexithymieprobanden mit starkem frühkindlichem Stress nicht an einem ernsthaften psychischen Leiden erkrankt sind. Offenbar entwickelten sie eine erhebliche Resilienz, also seelische Widerstandskraft und Stärke. „Womöglich kann die Alexithymie ein schützender Faktor, also ein Teil der Resilienz sein“, spekuliert die Psychologin nach ihrer jüngsten Studie. Sie hatte sich die Hirnaktivität im Hippocampus von Probanden genauer angesehen, die bei vergleichbarer frühkindlicher Belastung alexithym oder nicht alexithym geworden waren. Frühkindlicher Stress beeinflusst dieses ebenfalls zum emotionalen Netzwerk gehörende Hirnareal sehr stark. Darauf deuten etliche Studienergebnisse hin. Ergebnis: Die frühen Lebenserfahrungen modulieren die Aktivierung im Hippocampus bei Hoch-Alexithymen, aber nicht bei Schwach-Alexithymen, die ähnlich negative Erfahrungen in der Kindheit gemacht hatten. „Wir sehen trotz großem Stress in der Kindheit bei den Hoch-Alexithymen verstärkte neuronale Reaktionen auf positive emotionale Stimuli, was wir als etwas Gutes bewerten“, sagt Aust. Allerdings muss dieses Ergebnis erst noch von anderen Forscherteams bestätigt werden, um verlässlich zu sein.

Grundsätzlich beklagt Sabine Aust, dass die Alexithymie – zumindest bei den Betroffenen ohne psychische Folgen oder Begleiterkrankungen – zu negativ bewertet werde: „Wir leben in einem Zeitalter der Emotion und glauben, dass wir alle viel fühlen und das auch noch bestens ausdrücken müssen. Und dass jemand ohne diese Fähigkeiten immer ein größeres Risiko für seelische Erkrankungen haben muss.“ Peter S. sagt am Ende, seine Alexithymie habe ihn zwar nicht beeinträchtigt. Aber „einen hohen Preis gezahlt habe ich schon“. Trotz aller womöglich positiver Aspekte wünscht er sich mehr Emotion – und will es irgendwie lernen. Durch den Buddhismus, zu dem er gefunden hat. Und durch eine spezielle Gesprächsgruppe. „Ich will ja geliebt werden“, sagt er, „aber dafür muss ich erstmal wissen, was Liebe ist.“

„Erlebnistherapie wirkt am besten“

Hans-Jörgen Grabe ist Psychiater am Klinikum der Universität Greifswald. Er hat sich intensiv mit der Alexithymie beschäftigt – und behandelt sie auch. Falls nötigHerr Grabe, Alexithymie ist ja „nur“ ein Persönlichkeitsmerkmal und keine Störung oder Krankheit. Warum sollte man dann therapieren?

In manchen Fällen therapieren wir tatsächlich Persönlichkeitsmerkmale, die in ihrer Ausprägung so schwer werden, dass man sie als Störung bezeichnen kann. Wenn die „normale“ Persönlichkeit also einen Grenzbereich überschreitet. Die Alexithymie kann im Extremfall so stark werden, dass jemand überhaupt nicht mehr mit Gefühlen umgehen und diese gar nicht interpretieren kann. Und zwar in Situationen, in denen man normalerweise klar von seinen Gefühlen geleitet wird. Gerade in Liebesbeziehungen treten alexithyme Menschen oft in Fettnäpfchen, weil sie sich nicht in die Situation und den Partner einfühlen können. Und dann beginnt das Problem.

Begegnen Ihnen als Psychiater solche Fälle in der Behandlung?

Ja, auf jeden Fall. Die Alexithymen, die wir sehen, sind richtig erkrankt, zum Beispiel an einer Angststörung oder einer Depression oder an psychosomatischen Beschwerden, was sehr häufig vorkommt. Diese Patienten kommen aus diesen Gründen zu uns. Hinter den Erkrankungen erkennen wir dann oft, dass diese Menschen hoch alexithym sind und gar keinen Zugang zu ihrer Emotionalität haben. Weil sie Körperreaktionen nicht richtig interpretieren können, entstehen Panikattacken oder schwere Schmerzsyndrome. Diese Menschen verspüren zum Beispiel ein Ziehen im Bauch und können das nicht in einen Kontext einordnen, zum Beispiel dass sie Stress bei der Arbeit haben und eigentlich wahnsinnig wütend sind, ohne es zu fühlen.

Das heißt, diese Menschen kommen nicht primär wegen der Alexithymie zu ihnen?

Das ist richtig. Der Leidensdruck ist für die Betroffenen zunächst nicht da. Er kann aber sekundär entstehen, zum Beispiel durch eine soziale Unsicherheit, weil sie viele soziale Signale nicht gut lesen können. Und dann haben Alexithyme den Eindruck, dass sie in sozialen Situationen immer wieder das Falsche sagen oder tun. Dann ziehen sie sich zurück. Dadurch erwachsen letztlich mitunter ein Leidensdruck und eine psychische Störung.

Ist die Zahl dieser Patienten überschaubar?

Wenn wir alle unsere Patienten in unserer Klinik betrachten, dann haben 25 bis 30 Prozent eine starke Alexithymie. Hinter einer Depression, hinter einer Angststörung und so weiter kann eine ordentliche Portion Alexithymie stecken.

Wie therapieren Sie denn dann? Behandeln Sie die seelische Störung oder die Alexithymie?

Im ersten Schritt behandeln wir wirklich die jeweilige Erkrankung. Darüber, das ist interessant, öffnet sich oft ein erster emotionaler Zugang zu den Patienten. Wenn wir mit einem Panikpatienten über die Symptome sprechen, gehen wir automatisch auf sein emotionales und begleitend auch auf sein kognitives Erleben ein. Das ist für viele Betroffene schon eine ganz intensive Auseinandersetzung mit Dingen, die sie so eigentlich gar nicht verstehen. Und als Nächstes, zum Beispiel in einer Gruppentherapie, geht es schon darum, eigene Gefühlszustände zu beschreiben, eigene Bedürfnisse vor dem Hintergrund der eigenen persönlichen Entwicklung zu erspüren. Und wenn man dies schafft, kann man Gefühle auch leichter benennen.

Das heißt, man kann eine Alexithymie spezifisch therapieren?

Auf jeden Fall. Das Ziel ist klar: Die Patienten sollen eine Vorstellung davon bekommen, dass es hinter der Ebene von Denken, von körperlichen Wahrnehmungen und Beschwerden einen Menschen gibt, der Gefühle hat. Der vielleicht auch verletzlich ist und der in der Lage sein sollte, Gefühle auch bei anderen wahrzunehmen. Und das kann man ein Stück weit trainieren.

Und vielleicht auch „heilen“?

Eher nicht. Diese Menschen werden nicht zu sehr feinfühligen Lebewesen werden. Aber es gibt schon vieles, was wir mit den Patienten erarbeiten können. Man kann die Aufmerksamkeit erhöhen. Zum Beispiel lernen, wann etwas traurig ist. Wenn zum Beispiel ein Patient in der Gruppentherapie etwas sehr Trauriges berichtet, dann fragen wir die anderen: Wie fühlen Sie sich jetzt? Und dann sagen viele Alexithyme: „Ich fühle ein bisschen was.“ Das scheint in die Richtung von Trauer zu gehen. Und kraft des Verstandes sollen sie dann lernen, das Gefühl zu benennen: Das ist jetzt Traurigkeit.

Ist die Gruppentherapie die einzige Therapie, die Sie anbieten?

Nein, am besten wirkt, was ich als Erlebnistherapie bezeichnen würde. Die Patienten bekommen Anreize, die spürbar werden. Zum Beispiel Musiktherapie, wenn wir gemeinsam trommeln. Dann kann man fragen: Wie fühlt sich das an? Was erleben Sie gerade? Oder in der Sporttherapie, in der Entspannungstherapie oder im sozialen Kompetenztraining. Alle diese Situationen, die einen lebendigen Charakter haben, können dazu anregen, zu beschreiben, was man innerlich erlebt. Und das führt schon zu Fortschritten.

Interview: Klaus Wilhelm

Professor Dr. Hans-Jörgen Grabe, geb. 1966, studierte Medizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Seit 1998 arbeitet er als Psychiater an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Greifswald. Im Jahr 2006 ernannte ihn diese Universität zum außerplanmäßigen Professor.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2015: Zum Glück allein