„Meine Neuronen und ich sind identisch“

Verrät die Hirnaktivität, was wir denken? Warum vergessen wir? Hirnforscher Onur Güntürkün gibt faszinierende Einblicke in die Welt der Neuronen.

Herr Professor Güntürkün, können Sie meine Gedanken lesen, wenn Sie mir ins Gehirn schauen?

Sie denken an den gläsernen Menschen? Machen Sie sich da keine Sorgen. Ich glaube nicht, dass wir jemals zu solcher Art von Einblicken in der Lage sein werden. Es wäre auch nicht das Ziel unserer Arbeit. Ich bin Biopsychologe, ein Mann aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, wenn Sie so wollen. Mir und meinen Fachkollegen geht es darum, das Denken zu verstehen – was in Bezug auf diese gruselige Vorstellung vom…

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geht es darum, das Denken zu verstehen – was in Bezug auf diese gruselige Vorstellung vom Gedankenlesen ein zugleich höheres und niedrigeres Ziel ist.

Höher, weil es nicht um einzelne Phänomene geht, sondern um deren Grundlagen. Und niedriger, …

… weil wir Gedanken nur in einem kategorialen Sinn erfassen können. Das Gehirn hat keine Software. Es folgt keinem Programm. Es ist eine Hardware, die sich mit jedem Sinneseindruck und jeder Reaktion umbaut. Deshalb wäre jeder Rückschluss auf die Inhalte Ihrer Gedankenwelt schon im nächsten Moment überholt. Und jede heimliche Annäherung wäre schon dadurch versperrt, dass ich ohne Ihre Bereitschaft und sogar aktive Mitarbeit gar nichts ausrichten kann. Ich müsste Sie nämlich erst in den Scanner legen, also in einen Magnetresonanztomografen, oder zumindest mit dem EEG Ihre Hirnströme aufzeichnen, um von dem Geschehen dort den Schluss auf ein paar sehr einfache Muster und Funktionen Ihres individuellen Gehirns zu ziehen. Wenn Sie wollen, können Sie dabei von Gedanken reden. Wenn Sie aber von sehr komplexen, konkreten Strategien sprechen, etwa: „Hoffentlich bekommt man nicht heraus, dass ich Plastiksprengstoff dabei habe, um das Flugzeug in die Luft zu jagen, in das ich gerade einsteige“ – dann kann ich antworten: Das halte ich für grundsätzlich unmöglich.

Möglich aber ist, über Elektroden in oder an Ihrem Gehirn einen Rollstuhl oder Roboterarm zu steuern – allein durch die Kraft Ihrer Gedanken.

Daran wird weltweit intensiv gearbeitet. Wir entdecken nämlich immer häufiger, dass Menschen, die wir im tiefsten Koma vermuten, wesentlich mehr geistige Aktivität zeigen, als wir noch vor kurzem gedacht haben. Diese Menschen können nicht einmal den kleinen Finger rühren, um sich verständlich zu machen. Ein Albtraum! Wenn wir es solchen Patienten durch unsere Arbeit ermöglichen, einen Punkt auf einem Monitor durch Hirnaktivität so zu steuern, dass sich daraus Buchstabe für Buchstabe ein Text ergibt, ist das ein Segen.

Wie geht das? Wie können Sie durch die Aufzeichnung von Hirnaktivität Rückschlüsse auf das Denken ziehen?

Wir müssen – in jedem Fall – zuerst einmal etwas über Ihr Gehirn erfahren. Ob Sie mit Ihrem Kugelschreiber spielen oder zum Fenster hinausschauen: Jeder Handlung gehen bestimmte Aktivitätsmuster im Netz Ihrer Nervenzellen voraus. Nun besteht Ihr Gehirn aus Hunderten von Milliarden solcher Zellen und einer Billion Verknüpfungen; es ist noch viel individueller als Ihr Fingerabdruck. Das heißt, ich kann nicht irgendeine Art Gedankenrekorder über Ihre Kopfhaut stülpen und dann ablesen, was mich interessiert. Vielmehr muss ich im Getöse gleichzeitiger Gedanken und Sinneseindrücke erkennen, welche Muster es gibt, wenn Sie etwa die linke Hand bewegen oder etwas greifen möchten. Daraus destilliere ich eine Art Karte Ihrer ganz eigenen Aktivierungsmuster. Es ist eine Methode der Annäherung in kleinsten Schritten. In einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium können Sie dann mit Ihren Gedanken den Roboterarm selbst anlernen. Er bekommt Signale aus Ihrem Gehirn und versucht, von einem ziemlich primitiven Anfang aus die Handlungen auszuführen, die Sie intendieren. Das läuft wohl so ähnlich ab wie in unserer Kindheit.

Haben Sie damals mit Robotern gespielt?

Nein, aber ich stelle mir vor, dass da vielleicht ein Teddy war. Ich wollte ihn haben, aber alles, was ich tat, ging nur ungefähr in die richtige Richtung. Das geht jedem so, der fünf Monate alt ist und seine Feinmotorik entwickelt: Man lernt, Gehirn und Muskeln aufeinander abzustimmen. Im Grunde genommen funktioniert das mit den Robotern ganz ähnlich, wenn sie auf Hirnströme reagieren. Fragen Sie mich nicht nach technischen Details, dafür gibt es spezialisierte Ingenieure – aber ganz grundsätzlich lernen die Software des Roboterarms und mein Gehirn ein Zusammenspiel und wissen dann, dass diese Aktivitätsmuster diese Bewegung auslösen sollen und jene eine andere. Das Gehirn denkt an den Fernseher, die Software erkennt das Muster aus vergangenen Situationen und antizipiert den Wunsch. So gesehen kann der Roboter sehr einfache Gedankenfragmente lesen und umsetzen.

Sie selbst sind durch Polio gelähmt und sitzen im Rollstuhl. Könnte diese Technik auch Ihnen helfen?

Im Prinzip schon, mein motorischer Kortex ist ja intakt. Ich denke, die Fundamente für eine solche Innovation sind gegeben. Tatsächlich aber ist die Entwicklung mit einem Arm, der nach Gegenständen greift, schon ziemlich an der Grenze des derzeit Möglichen. Ein vollständiger Laufgang überfordert noch das, was wir können. Aber der Anfang ist gemacht, und der Rest kommt schon noch.

Ihr Optimismus bezieht sich auf eine vergleichsweise junge Forschungsdisziplin. Innerhalb der Psychologie ist es eine neue Entwicklung, sich so detailliert mit Hirnvorgängen zu beschäftigen. Wie kam es dazu?

Ich kann es nur innerhalb meiner eigenen Biografie interpretieren. Ich habe Psychologie studiert, um etwas über das Gehirn zu erfahren. Und war zutiefst enttäuscht, als ich aus der Türkei nach Deutschland kam, und vom Gehirn war keine Rede. Ich habe ernsthaft daran gedacht, das Fach aufzugeben, weil ich die Psychologie damals als, nun ja, eben hirnlos empfand. Aber dann gab es einen Mann, Juan Delius, der war Professor für Tierpsychologie, auch hier in Bochum. Ich sitze heute in seinem Büro. Er hat all das gemacht, was mich fasziniert hat. Er hat mein akademisches Leben gerettet.

Indem er was getan hat?

Er ist vorgedrungen zu den biologischen, den neuronalen Wurzeln von Verhalten und Erleben. Und er hat unser Interesse geweckt, die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen des Lebens und diesen Wurzeln zu erkunden. Da es eine ganze Reihe von Leuten gab, übrigens in der ganzen Welt, die das gleiche Verlangen hatten wie ich, wurde ich Zeuge, wie sich die kognitive Neurowissenschaft zu einer Disziplin entwickelt hat, die nicht mehr nur grob bestimmte sensorische Phänomene, sondern das Denken selbst untersucht. Wie funktioniert Wahrnehmung? Wie das Gedächtnis? Wie Lernen? Wie funktionieren Emotionen? Wie planen und entscheiden wir? Wie erkranken wir an unserer Psyche? Das alles steht im Zentrum psychologischer Forschung. Kognitive Neurowissenschaftler sind größtenteils Psychologen; aus meiner Sicht ist ihre Disziplin eine Teildisziplin der Psychologie.

Nun glaubte die Psychologie schon, bevor die Neurowissenschaft so erfolgreich wurde, mit Prozessen wie Lernen, Vergessen oder Emotion ganz gut umgehen zu können. Ein Irrtum?

In einem praktischen Sinne wohl nicht. Aber ich glaube, dass in der Psychologie manche Fragen nie gestellt wurden, die sich in der kognitiven Neurowissenschaft als sehr wichtig erwiesen haben. Denken Sie an die klassische Konditionierung, an Pawlows Hunde. Wie werden konditionierte und unkonditionierte Reize – das Läuten der Glocke als Signal, dass es gleich etwas zu essen gibt – in unserem Nervensystem miteinander verknüpft? Diese Frage wurde erst durch die Neurowissenschaft wirklich gestellt. Und wir arbeiten an ihrer Beantwortung. Dabei lernen wir Phänomene kennen, von deren Existenz wir vorher nichts wussten.

Zum Beispiel?

Nun, für die Psychologen war es klar, dass etwas, das wir lernen, im Langzeitgedächtnis konsolidiert, also fest verankert wird. Was die Neurowissenschaft nun hinzufügt, ist die Beobachtung, dass eine Erinnerung aus dem Langzeitgedächtnis, sobald sie in den Arbeitsspeicher zurückgerufen wird, eine extrem fragile Phase durchläuft – eine Phase, in der sich synaptische Verbindungen innerhalb der aktivierten Regionen teilweise erneut bilden. Das heißt also: Jedes Erinnern zieht einen neuen Lernprozess nach sich. Wir können diesen kurzen Moment des Neulernens nutzen, um etwa bei phobischen Patienten, die zum Beispiel Angst vor Spinnen oder vor freien Plätzen haben, das Modifizieren der Synapsen pharmakologisch zu verhindern. Das Resultat ist eine drastische Reduktion des Angstzustands. Das ist eine fantastische Möglichkeit und eine tiefe Erkenntnis über die Mechanismen unseres Gedächtnisses. Und bitte: Sie kommt aus der Neurowissenschaft.

Eine Erinnerung ist also nur so lange sicher, wie sie mir nicht bewusst ist?

Denken Sie an Ihren Computer: Was im Speicher liegt, ist der Bearbeitung entzogen, zugleich aber sicher. Sobald Sie einen Inhalt auf die Arbeitsebene ziehen, können Sie Änderungen daran vornehmen. Sie können ihn aber auch unbearbeitet wieder schließen, ohne dass dabei etwas geändert wird – und genau das ist im Gehirn anders. Auf die Therapiesituation bezogen: Wenn ich einen Patienten dazu bringe, eine Erinnerung neu zu erleben, liegt diese Erinnerung auf der Arbeitsebene. Sie ist veränderbar geworden. Und diese Veränderbarkeit können wir ausnutzen – etwa indem wir eine Angst löschen, die damit verbunden ist. Dieser Eingriff ist gleichsam eine korrigierte Erinnerung, die dann im Langzeitgedächtnis erneut abgelegt wird.

Sie berichten über Fälle, in denen ein Verhalten durch einen Lernprozess gelöscht wurde. Doch dann tauchte das „gelöschte“ Verhalten irgendwann wieder auf, oft in Form einer Fehlleistung oder einer kleinen Verwirrung. Irgendwo war also noch eine unterschwellige Spur vorhanden. Sigmund Freud hat solche Phänomene in seinem Buch Zur Psychopathologie des Alltagslebens beschrieben. Liefert die Neuropsychologie die lange ersehnte Bestätigung der Psychoanalyse?

Wir Empiriker halten eigentlich gern ein bisschen Distanz zu Freud. Doch es gibt tatsächlich Psychoanalytiker, die über die Neurowissenschaft sehr froh sind. Sie sehen nämlich, dass durch unsere Arbeit einige Dinge wieder diskutiert werden, die ihre Disziplin – Ehre, wem Ehre gebührt – tatsächlich als Erste und auch deutlich postuliert hat. Zum Beispiel dass sehr viele Prozesse im Gehirn ablaufen, von denen uns nur ein kleiner Teil sprachlich bewusstwird. Auch Traumata aus der Kindheit, ihre Langzeitwirkungen auf Hirn-, auf Denkprozesse gehören dazu. Das tut freilich der Tatsache keinen Abbruch, dass die Psychoanalyse einer lange vergangenen Zeit verhaftet ist und sich eine Menge Legenden um ihre Befunde ranken. Über die theoretischen Annahmen will ich mich also lieber nicht auslassen. Aber Sigmund Freud war zweifellos ein Mann, der sehr genau beobachtet hat.

Wenn auch von „verlernten“ Dingen Spuren im Gehirn zurückbleiben, ist ein Vergessen dann überhaupt möglich?

Aber ja! Wir leiden doch ständig darunter. Oder?

Ich leide unter der Tatsache, dass ich vieles nicht abrufen kann. Zum Beispiel die Nummer Ihres Gebäudeflügels an der Uni Bochum.

Dieses Nichtabrufenkönnen resultiert entweder daraus, dass es die Information in Ihrem Gedächtnis wirklich nicht mehr gibt. Oder dass Sie nicht mehr herankommen. Beide Optionen existieren.

Im Alter kann das fortschreitende Vergessen zum ernsten Problem werden. Was können wir tun, um unser Gedächtnis möglichst lange intakt zu halten?

Die Hirnforschung sagt: Wir verlieren jeden Tag 80 00 Nervenzellen. Heute Abend haben Sie 80 00 Nervenzellen weniger als heute Morgen. Wenn Sie nach den Implikationen fragen, verlasse ich mal für einen Moment den Elfenbeinturm der Grundlagenforschung. Ich stelle mir vor, neurowissenschaftlich arbeitende Psychologen könnten dafür sorgen, dass Gedächtnisneubildung im Alltag effizienter abläuft– und sei es nur durch die Erkenntnis, dass sich die mentale Fitness von Menschen durch alle möglichen Mechanismen erhöhen lässt. Indem wir ihnen nämlich nicht sagen: Mach die ganze Zeit Sudokus, sondern indem wir fragen: Wie sieht dein Lebensplan aus? Wie sieht dein Tagesablauf aus? Was könntest du tun, um geistig länger fit zu bleiben?

Was könnte man tun?

Die wahrscheinlich größte Wirkung hat es, wenn ich mich auf der sprachlichen Ebene niemals vereinfache, sondern mich im Gegenteil fordere. Wenn ich mich selbst in die Disziplin nehme, immer wieder neue Dinge zu lernen. Das sind vorbeugende Maßnahmen, die mit dem Alter enorme Bedeutung gewinnen.

Wie ist es zu erklären, dass manchmal uralte Gedächtnisinhalte wieder an die Oberfläche des Bewusstseins gelangen?

Wir gehen davon aus, dass Erinnerungen, Gedanken, Handlungen in Gruppen von Nervenzellen codiert sind, die sich immer wieder neu arrangieren können; wir sprechen von assemblies. Und vermutlich sind die Verknüpfungen innerhalb dieser Bereiche und dazwischen ungefähr proportional der Häufigkeit, in der wir das Ganze abrufen. Wenn Sie sich jetzt an 50 Jahre zurückliegende Dinge erinnern und wenn das Dinge sind, die für Sie eine emotionale Relevanz hatten, dann haben Sie diese Erinnerung in Ihrem Leben entsprechend oft abgerufen. Im Gegensatz zu dem, was Ihnen vor einer Woche im Büro passiert ist. Eventuell geht das ja auch im gleichförmigen Strom des Alltags unter. Deshalb beobachten wir bei alten Menschen häufig dieses Phänomen first in, last out: Was lange im Gedächtnis sitzt, das bleibt auch dort. So kommt es, dass viele irgendwann nur noch in ihrer frühen Zeit leben.

Max Frisch hat in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein das Phänomen eines sich organisierenden Gedächtnisses beschrieben mit dem Satz: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Sind Erinnerungen prinzipiell unzuverlässig?

Wir haben das Phänomen angesprochen: Jede Aktivierung macht eine Erinnerung anfällig für Veränderung. Das hat seinen Sinn; es ist sehr funktional: Ich muss das Gedächtnis nutzbar machen für mein Jetzt. Die Inhalte müssen also eine Plastizität aufweisen, um neue Erkenntnis inkorporieren zu können. Wir wiederholen durch Erinnerung unsere Vergangenheit, aber interpretieren sie vor dem Wissen der Gegenwart. Wir haben zum Beispiel damals nicht erkannt, dass wir einmal von dieser Frau verlassen werden würden. Wir haben gedacht: Das ist für immer. Heute sehen wir die Dinge anders und glauben daher, dass sich damals schon etwas andeutete. Waren da nicht diese Zweifel …? Quatsch! Ich habe dieser Frau blind vertraut.

Das Gehirn gestaltet dauernd um?

In jeder Sekunde. Das Gehirn ist ein Dschungel, der sich ständig umbaut. Sie verändern mein Gehirn in dem Moment, in dem wir uns begegnen. Nachhaltig. Und ich verändere Ihres. Hoffe ich zumindest. Wir sind also niemals die Person, die wir gerade eben noch waren.

Wer führt eigentlich Regie über diese Organisation Gehirn?

Sie selbst. Ich. Meine Neuronen und ich sind identisch.

Vor einigen Jahren führten Ihr Kollege Hans Markowitsch und der Hamburger Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma eine sehr kontroverse Debatte über den Sinn und Unsinn von Strafe. Vor dem Hintergrund der Debatte um Schuld und Schuldfähigkeit sagte der Hirnforscher: „Alles, was je auf mich eingewirkt hat, ist in mein Gehirn eingegraben. Ich bin das Produkt meiner Vergangenheit“ – und leugnete jeden freien Willen und damit den Sinn von Justiz. Eigentlich nur konsequent, oder?

Nein. Die in solchem Zusammenhang und auch von Markowitsch gern zitierten Beispiele von Hirnverletzungen bei Menschen, die dann zu Verbrechern wurden, überzeugen mich nicht. Es gibt jede Menge Menschen mit ähnlich pathologischen Gehirnen, die nicht kriminell werden. Der diagnostische Punkt ist an dieser Stelle sehr schwach; die Beweisführung mit hirnanatomischen und funktionellen Untersuchungen funktioniert immer nur in eine Richtung, nämlich rückblickend, post hoc. Zum Zweiten: Auch als Mensch, der vollkommen im Bereich naturwissenschaftlicher Kausalitäten denkt, argumentiere ich, dass die Zusammenhänge zu vielfältig und komplex sind, um von der Neurowissenschaft in absehbarer Zukunft vollständig erfasst zu werden. Ein Gehirn ist so hochgradig individuell, dass ich Muster und Prozesse nur auf kategorialer Ebene erfassen, aber keinesfalls einen Mordplan herauslesen kann. Ich sehe also nicht einmal theoretisch eine Zukunft für so etwas wie Kriminalitätsprävention durch Gedankenkontrolle. Und unser Strafrecht werden wir deshalb auch nicht verändern müssen. Reemtsma hatte also recht mit seiner beinahe zornigen Skepsis. Und Markowitsch lag falsch.

Welche Forschungsfragen würden Sie mithilfe der kognitiven Neurowissenschaft gerne noch lösen?

Mich treibt die Frage nach den Asymmetrien im Gehirn um. Rein praktisch mag ja zu erklären sein, warum die beiden Hirnhälften bestimmte Funktionen untereinander aufteilen, Gesichtserkennung hier, Sprache dort (siehe auch Seite 76: Wir pfeifen auf das linke Hirn!). Es ist in Anbetracht der limitierten Kommunikationsmöglichkeiten durch das Corpus callosum, also die Verbindung der beiden Hirnhälften, einfach ökonomisch. Aber wie funktioniert die Abstimmung? Wenn die eine Hirnhälfte sagt: Jetzt trink mal einen Kaffee! Und die andere: Du musst erst den Text zu Ende schreiben. Was passiert da? Ich kann ja nicht beides gleichzeitig tun. Wer entscheidet? Da ergeben sich viele, viele kleine, tiefe Probleme, die in eine Gesamttheorie integriert werden müssen. Und das würde ich in meinem Leben gerne noch schaffen.

Wir pfeifen auf das linke Hirn!

Sprache ist immer „linkshirnig“, hieß es – doch das Team von Onur Güntürkün hat das jetzt anhand der türkischen Pfeifsprache widerlegt

Bislang schien alles so klar. In den Lehrbüchern hieß es: Wenn wir eine Sprache hören – egal welche, selbst eine mit Klicklauten –, wenn wir einen Text lesen, ja selbst wenn wir einer Zeichensprache folgen, dann findet deren Verarbeitung vor allem in der linken Hirnhälfte statt. Das linke Hirn ist das Sprachhirn, basta!

Doch Onür Güntürkün hatte seine Zweifel. Wie, fragte er sich, wird wohl eine Sprache verarbeitet, die ganz andere physikalische Eigenschaften hat– nämlich solche, auf die die rechte Hirnhälfte spezialisiert ist? „Wir können uns unglaublich glücklich schätzen, dass es so eine Sprache gibt“, sagt Güntürkün. Nämlich: „gepfiffenes Türkisch“.

Gepfiffenes Türkisch enthält die gleichen Begriffe und folgt den gleichen grammatikalischen Regeln wie Türkisch. „Es ist einfach nur ein anderes Format, so wie es geschriebenes und gesprochenes Türkisch gibt“, so Güntürkün. Eine kleine Gruppe von Menschen im bergigen Nordosten der Türkei nutzt die Pfeifsprache, die über Entfernungen von einigen Kilometern hörbar ist. „Obwohl ich Türke bin, habe ich verrückterweise zum ersten Mal in Australien vom gepfiffenen Türkisch gehört“, erzählt der Biopsychologe. „Mir war sofort klar, dass die Natur uns damit das perfekte Mittel bereitstellt, um die Theorie zur Asymmetrie der Sprachwahrnehmung zu überprüfen.“

Das Bochumer Team testete also 31 Bewohner von Kusköy, einem Dorf in der Türkei, die sowohl Türkisch sprechen als auch Türkisch pfeifen können. Über Kopfhörer wurden ihnen entweder gepfiffene oder gesprochene türkische Silben präsentiert. Für gesprochenes Türkisch zeigte sich eine klare Asymmetrie, nämlich die vertraute Dominanz der linken Hirnhemisphäre. Doch: Diese Asymmetrie gab es bei gepfiffenem Türkisch nicht. Sprache wird also nicht unabhängig von ihrem „Träger“ und auch nicht immer vornehmlich links im Hirn dechiffriert. Die Lehrbücher müssen wohl ergänzt, wenn nicht umgeschrieben werden.

DOI: 10.1016/j.cub.2015.06.067

Onur Güntürkün ist Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er wurde unter anderem 2013 mit dem Leibniz-Preis sowie 2014 mit dem Communicator-Preis für die verständliche Vermittlung von Forschung ausgezeichnet.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2015: Zum Glück allein