Die junge Frau konnte es nicht fassen: Die Blasen an den Füßen wollten einfach nicht verschwinden, dabei rannte sie kaum noch, ja machte fast gar keinen Sport mehr, nur noch etwas Radfahren. Aber das belaste den Fuß doch kaum, sagte sie ihrem Arzt. Der fragte, wie viel sie mit dem Rad täglich unterwegs sei. „Nicht viel, nur drei bis vier Stunden am Tag. Und wenn es nicht regnet, auch in der Mittagspause.“ Mit diesem Beispiel macht der Psychiater Karl-Jürgen Bär auf ein Phänomen aufmerksam, das immer noch…
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Karl-Jürgen Bär auf ein Phänomen aufmerksam, das immer noch unterschätzt wird: Sport als Suchtmittel.
„Ein Problem für die Suchtentwicklung ist die hohe gesellschaftliche Akzeptanz von Sport“, erläutert Bär, stellvertretender Direktor der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena. Wer viel Sport treibt und es schafft, regelmäßig seinen inneren Schweinehund zu überwinden, der wird häufig bewundert, erhält ein positives Feedback. Noch in den 1970er Jahren wurde die Sportsucht glorifiziert. Der US-Psychiater William Glasser sprach von einer positive addiction – einer positiven Abhängigkeit. Er sah darin einen „wichtigen und neuen Weg für Sportler, mental noch stärker zu werden“. Kein Wunder, dass sich so mancher Ausdauersportler damit brüstet, den Sport zu brauchen, sich nicht wohlzufühlen, wenn er nicht trainiert, ja süchtig danach zu sein.
Was Psychologen und Psychiater unter Sportsucht verstehen, geht jedoch noch viel weiter: Für sie beginnt die Abhängigkeit, wenn das Training zum Zwang wird, wenn es jedes Maß sprengt, wenn Schmerzen und Verletzungen ignoriert werden und keine Zeit mehr für Freunde und Familie bleibt. Dann, so Bär, lassen sich oft auch Merkmale beobachten, wie sie für andere Suchterkrankungen typisch sind: Entzugserscheinungen mit Reizbarkeit, Ängsten und Depressivität sowie eine steigende Toleranz, die immer weitere Strecken erforderlich macht, damit sich eine positive Stimmung einstellt. Schließlich fühlen sich die Athleten zunehmend fremdbestimmt und verlieren die Kontrolle über ihr Verhalten. Sie haben dann zwar den Wunsch, ihr Pensum zu reduzieren, solche Versuche scheitern aber regelmäßig. Andere Aktivitäten geraten zunehmend in den Hintergrund, auch Freizeit und Urlaub stehen nur noch im Zeichen des Trainings. Oft geht das so lange gut, bis schwere Verletzungen auftreten. Manche laufen auch, bis sie buchstäblich tot umfallen.
Auf Bewegung fixiert
Wie sehr eine Sportsucht das Leben dominieren kann, erläuterte Bär vor kurzem auf dem Psychiatriekongress in Berlin am Beispiel einer Profischwimmerin. Die Frau erinnert sich daran, schon als Jugendliche „auf Bewegung fixiert“ gewesen zu sein. Sie spielte Basketball, nahm an Crossläufen teil, wobei sie das Trainingspensum mit der Zeit immer mehr steigerte. Irgendwann stand sie bereits morgens um vier Uhr auf, damit sie das viele Laufen, Schwimmen und Fitnesstraining überhaupt noch in ihren Tagesablauf integrieren konnte. „Ich bin auf vier bis fünf Stunden Training gekommen, und zwar sieben Tage die Woche. Einmal habe ich 91 Tage ohne Pause durchtrainiert.“
Die harte Arbeit zahlte sich aus: Sie wurde gut im Schwimmen und nahm an Weltcups teil, belegte dabei vordere Plätze. Genießen konnte sie es aber nicht. „Es war eine Art Hassliebe, ich war ständig gehetzt und getrieben, der Sport hat mich völlig absorbiert.“ Für eine vernünftige Ernährung war da keine Zeit mehr. Abends verschlang sie drei Nutellabrote im Stehen.
Sie ignorierte Schmerzen, trainierte trotz Sehnenscheidenentzündung weiter, brach einmal nach dem Training zusammen. Ihre Stimmungsschwankungen nahmen drastisch zu. Irgendwann sagten ihre Freunde: „Du bist sportsüchtig.“
Letztlich half aber keine Einsicht, sondern ein medizinischer Befund, der ihre Karriere beendete: Sie bekam Herzrhythmusstörungen und war dadurch für lange Zeit zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Inzwischen darf sie wieder schwimmen, aber mit hartem Training ist nun Schluss.
Nicht immer kriegen die Betroffenen noch die Kurve. Bär kann auch von Sportsüchtigen berichten, die nach einem Unfall Suizid begingen – weil sie nicht mehr trainieren konnten.
Wie viele Menschen betroffen sind, lässt sich nur schwer feststellen. Jedenfalls wird seit den 1990er Jahren von einer steigenden Zahl Sportsüchtiger berichtet. Psychologen um Simone Breuer und Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule in Köln vermuten, dass etwa jeder Hundertste Sportler Auffälligkeiten zeigt, jeder Tausendste ernsthafte Symptome hat und einer von Zehntausend behandelt werden muss. Eine Untersuchung von Sportwissenschaftlern um Heiko Ziemainz von der Universität Erlangen-Nürnberg kommt zu einem deutlich höheren Anteil. Die Forscher hatten über 1000 Teilnehmer von Ausdauersportveranstaltungen mithilfe eines speziellen Fragebogens interviewt. Bei rund fünf Prozent stellten sie ein erhebliches Risiko für ein Suchtverhalten fest. Jüngere Sportler waren öfter betroffen als ältere, Frauen ebenso häufig wie Männer.
Allerdings sagt das Trainingspensum allein wenig über die Suchtgefahr aus. „Wer als Leistungssportler zehnmal die Woche trainiert, ist nicht unbedingt süchtig, der hat zunächst einmal eine starke Bindung an den Sport“, erläutert Thomas Schack von der Universität Bielefeld. Mit einer Sportsucht hingegen ruinierten Betroffene schnell ihren Körper, so der Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie. Daran kann ein Leistungssportler kein Interesse haben. Auch Breuer und Kleinert gehen davon aus, dass eher Freizeitsportler gefährdet sind, die Kontrolle über das Training zu verlieren.
Körpereigenes Drogenlabor unter Verdacht
Doch wie kommt es, dass manche sich nach einem Knochenbruch den Gips selbst abnehmen, um wieder laufen zu können, trotz Herzklappenfehler an Ultramarathons teilnehmen oder lieber ihre Ehe riskieren, als ihr Kilometerpensum einzuschränken? Lange Zeit verdächtigten Forscher das körpereigene Drogenlabor. So werden unter starker Belastung Substanzen ausgeschüttet, die mit Opium- und Cannabiswirkstoffen verwandt sind. Zunächst galt β-Endorphin als Favorit. Die Substanz wurde verdächtigt, rauschartige Zustände wie das Runner’s High herbeizuführen. Typisch dafür ist ein Gefühl der Schwerelosigkeit und des Glücks – häufig verglichen mit der Euphorie nach einer Heroininjektion. Untersuchungen zur Endorphinhypothese seien jedoch eher ernüchternd verlaufen, sagt Schack. So habe man bei Teilnehmern von Ultramarathons oft keine erhöhte Endorphinausschüttung im Blut festgestellt, zudem könnten die körpereigenen Opiate die Blut-Hirn-Schranke kaum überwinden. Was im Blut gemessen wird, sagt also wenig darüber aus, was gerade im Gehirn passiert.
Etwas überzeugender sind die Indizien für körpereigene Cannabinoide, also Substanzen, die dem Wirkstoff von Haschisch und Marihuana ähneln. Sie gelangen leichter ins Gehirn. Auch konnten Wissenschaftler in Tierexperimenten zeigen, dass sich Zustände ähnlich dem Runner’s High verhindern lassen, wenn sie die Andockstellen für Cannabinoid im Gehirn blockieren. Die israelischen Psychologen Aviv und Yitzhak Weinstein vermuten zudem eine Beteiligung der hormonellen Stressachse. Sie wird nach ihrem Modell bei exzessivem Sport überaktiv, in den Sportpausen machen sich dann Müdigkeit, Traurigkeit, Unruhe und ein Krankheitsgefühl bemerkbar, was sich nur durch mehr Training beseitigen lässt – so entsteht ein suchttypischer Teufelskreis.
Für den Sportpsychologen Schack greifen solche Modelle jedoch zu kurz. Zwar könnten körperliche Prozesse in kritischen Phasen durchaus relevant sein und die Entwicklung einer Sportsucht forcieren. Entscheidend sind für ihn jedoch die psychologische und die soziale Ebene: Manche wollen mit ihrer Leistung vielleicht Freunden imponieren oder lernen bei ihren Exzessen neue Freunde kennen. Andere machen Sport, um abzunehmen, wieder andere um sich zu entspannen oder mehr Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Solche Motive könnten ebenfalls ein exzessives Training begünstigen.
Schack schlägt daher ein „biopsychosoziales Phasenmodell“ der Sportsucht vor. In der ersten Phase wird zunächst eine durchaus positive Bindung zum Sport aufgebaut: Das Trainingspensum ist moderat, die selbstgesetzten Ziele und Erwartungen werden erreicht, das Selbstwertgefühl steigt, und – für Schack entscheidend – die mentale Selbstkontrolle nimmt zu: Die Sportler lassen sich weniger ablenken, entwickeln neue Willenskräfte und lernen, ihre körperlichen und psychischen Ressourcen zu mobilisieren. Der griechische Ultramarathon- und Weltrekordläufer Yiannis Kouros bringt dies auf den Punkt: „Wenn andere Menschen müde werden, geben sie auf. Ich übernehme mit meinem Geist die Kontrolle über meinen Körper. Ich sag ihm, er ist nicht müde, und er gehorcht.“
Der Sport übernimmt die Kontrolle über den Sportler
Kommt es nun im Beruf oder in Beziehungen zu Konflikten und Stress, die den Selbstwert bedrohen oder zu einem Kontrollverlust führen, dann ist die Gefahr groß, dies über den Sport zu kompensieren. „So etwas kann sich weiter aufschaukeln, indem man versucht, mehr Sport zu treiben“, erläutert Schack. Das höhere Pensum muss zunächst nicht problematisch sein. „Vielleicht pegeln sich die Probleme mit der Zeit wieder ein. Aber wenn das nicht so ist, wenn ich die Schwierigkeiten an anderer Stelle nicht löse oder wenn ein starker sozialer Druck anhält, dann kann aus dieser Übergangsphase heraus eine Sucht entstehen.“ Kritisch wird es vor allem dann, wenn die Athleten ausschließlich Sport zur psychischen Stabilisierung nutzen.
Mit der Zeit finden auch hormonelle Veränderungen statt, ein Gewöhnungseffekt setzt ein. Die Sportler müssen dann noch mehr trainieren, um Stress abzubauen und das Selbstwertgefühl zu steigern – schließlich auch, um Entzugserscheinungen in den Griff zu bekommen. Irgendwann verursacht selbst die Aussicht, nicht genug trainieren zu können, enormen Stress. An diesem Punkt verlieren die Athleten die Kontrolle über ihr Handeln. Sport macht nicht mehr Spaß, sondern wird zum Zwang. Das Training kontrolliert jetzt den Sportler und nicht mehr umgekehrt.
Schack vermutet, dass besonders solche Personen gefährdet sind, die sich in sensiblen Lebensphasen befinden, in denen sie Probleme mit ihrer Identität haben. Studien hätten zudem ergeben, dass es Sportsüchtigen schwerfällt, alternative Strategien zu entwickeln, um mit negativen Emotionen oder Problemen umzugehen. Im Training sehen sie oft den einzigen Ausweg: „Irgendwann wird das Sporttreiben zur zentralen Dimension in ihrem Leben.“
Um den Übergang in eine Sucht zu vermeiden, rät der Psychologe, Warnzeichen ernst zu nehmen. Kritisch werde es, wenn sich Familie und Freunde vernachlässigt fühlen, wenn jemand daran denkt, trotz Knieproblemen weiterzulaufen, oder sich schlecht fühlt, falls er mal keinen Sport machen kann. Wer mit einem Training beginnt, sollte feste Zeiten und Pläne einhalten. Auch Sport in einer Gruppe oder mit konstanten Partnern kann vor einer ausufernden Belastung schützen.
Sportbindung statt Sportsucht
Bei der Therapie Sportsüchtiger plädiert Bär dafür, die Gesundheitsschädlichkeit deutlich anzusprechen. In der Öffentlichkeit würden meist nur die positiven Seiten des Sports hervorgehoben, vielen sei gar nicht klar, dass sie mit ihrem übermäßigen Training ihren Körper ruinierten. Bär hält es auch für wichtig, Alternativvorstellungen im Sport zu entwickeln und sich nicht nur auf die Leistungssteigerung zu fixieren. Eine vollständige Abstinenz sei in der Regel jedoch unnötig. Vielmehr gehe es darum, die Kontrolle über das Training zurückzuerlangen. Dazu gehörten ein strukturierter Übungsplan mit ausreichenden Pausen und vielseitigen Übungen.
Ähnlich geht auch Schack vor. Er versucht, Sportsüchtige von ihren zwanghaften Handlungen zu lösen, damit sie nicht gleich „loslaufen, wenn sie einen Turnschuh sehen“. Mithilfe von Selbstinstruktionen lernen sie, sich auf den Atem oder aktuelle Aufgaben zu konzentrieren und das Training gezielt auf bestimmte Zeiten zu begrenzen. Über vier bis sechs Wochen soll dann die Sportmenge erkennbar reduziert werden. Ziel sei ein Pensum wie damals in der „Bindungsphase“, also in der Zeit vor der Sucht, als der Sport noch Spaß machte. „Gleichzeitig schauen wir: Wie steht es mit der Gesundheit, wie gut lässt sich das Training sozial einbinden?“
Oft kann eine Therapie bei einem erfahrenen Psychologen den Weg aus der Sucht weisen. Besteht der Verdacht, dass noch andere psychische Probleme vorliegen, etwa eine Magersucht oder eine Körperschemastörung, sind auch Psychiater gefragt. Einige Experten gehen davon aus, dass eine Kombination mit solchen Störungen noch häufiger vorkommt als eine reine primäre Sportsucht.
In extremen Fällen von Sportsucht ist ebenfalls eine ärztliche Behandlung nötig, etwa bei dem zwanzigjährigen Mann, der die Schule abgebrochen hatte, damit ihm mehr Zeit zum Laufen blieb. Während der Untersuchung, so Schack, weigerte er sich zunächst, die Schuhe auszuziehen. Schließlich gab er nach und präsentierte einen blut- und eiterdurchtränkten Lappen, den er sich um den Fuß gewickelt hatte. Der Fuß war bis auf den Knochen durchgelaufen. Psychiater und Therapeuten konnten ihn schließlich so weit stabilisieren, dass er ein normales Trainingspensum akzeptierte – und das Abitur nachholte. PH
Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur
Bin ich sportsüchtig?
Stimmen Sie diesen Aussagen zu, ist eine Sportsucht wahrscheinlich:
• Sie erzählen ihrem Umfeld nicht, dass Sie so viel Sport treiben.
• Sie ignorieren Warnzeichen des Körpers wie Schmerzen, Erschöpfung, Fieber und Stressfrakturen.
• Sie zählen manche Sportarten, etwa Radfahren, gar nicht als Sport.
• Sie halten 100 km laufen oder 400 km Rad fahren pro Woche für normal und steigerungswürdig.
• Sie melden sich in mehreren Fitnessstudios an, um jederzeit trainieren zu können.
• Keinen oder wenig Sport treiben zu können empfinden Sie als Strafe, Sie bekommen dann Entzugserscheinungen.
• Sie stehen extra früh auf, um vor der Arbeit noch Sport treiben zu können.
• Sie vernachlässigen soziale Kontakte.
• Wenn Sie Ihre Hauptsportart wegen Schmerzen oder Verletzungen nicht betreiben können, weichen Sie auf eine andere aus, um ihr Pensum zu erfüllen.
• Sie treiben Sport, um eine positive Stimmung aufrechtzuerhalten.
Quelle: Professor Karl-Jürgen Bär, DGPPN-Kongress