Psychotherapie für Menschen mit Behinderung

Wenn Menschen mit eingeschränkter Intelligenz psychisch erkranken, äußert sich das oft anders - und auch die Psychotherapie muss andere Wege gehen.

Die Illustration zeigt die Umrisse eines älteren Mannes der auf ein buntes Durcheinander schaut, unter anderem auf einen gelben Mann, mit Musiknoten
Bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung werden ungewöhnliche Verhaltensweisen oft einfach der Behinderung zugeordnet. © Magda Wel

Anfangs verspürte Benjamin Holland nur ein Unbehagen, wenn er sein Badezimmer betrat. Dabei blieb es aber nicht. Bald war er nicht mehr in der Lage, zu duschen oder die Toilette zu benutzen, den Raum überhaupt zu betreten. „Ich hatte große Angst, dass die Wände auf mich zukommen und mich erdrücken“, berichtet der 32-Jährige.

Holland litt an einer Phobie, der häufigsten psychischen Störung in Deutschland, an der jeder Vierte im Laufe seines Lebens erkrankt. Angststörungen wie diese gelten als gut…

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Störung in Deutschland, an der jeder Vierte im Laufe seines Lebens erkrankt. Angststörungen wie diese gelten als gut behandelbar, auch Benjamin Holland begann eine Psychotherapie im LWL-Universitätsklinikum Bochum. Ein „normaler Therapiefall“ war er aber nicht, denn Holland hat eine Intelligenzminderung, sein IQ liegt nur zwischen 50 und 70.

Benjamin Holland scheut sich nicht, über seine Behinderung zu sprechen: „Ich möchte sagen, dass wir Menschen wie alle anderen sind. Sie können auch ruhig meinen echten Namen schreiben, ich habe kein Problem damit.“

Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen

Menschen mit geistiger Behinderung sind in der Sprache und in ihren geistigen und sozialen Fähigkeiten beeinträchtigt. Bei einer leichteren Intelligenzminderung wie bei Holland ist eine Psychotherapie aber gut möglich und vor allem oft sehr nötig. Denn Experten schätzen, dass die Betroffenen ein um etwa 30 bis 40 Prozent höheres Risiko als die Allgemeinbevölkerung haben, an einer Depression und anderen psychischen Störungen zu erkranken. Oder auch durch Wutausbrüche, stereotype, sich wiederholende Bewegungen oder selbstschädigendes Verhalten aufzufallen.

Therapeutinnen und Therapeuten müssen allerdings die Behandlung in einigen Aspekten anders gestalten als normalerweise. So ist zum Beispiel die Diagnose erschwert. Auch Therapieschritte müssen öfter wiederholt werden, die Sitzungen sind kürzer und die Therapeuten geben den Patienten und Patientinnen anders als üblich sehr oft direkte Anweisungen. Nur bei schwerer Intelligenzminderung, wenn die sprachliche Verständigung eingeschränkt ist, kann eine ambulante Psychotherapie zunehmend schwieriger und sogar unmöglich werden.

Holland hatte das Glück, einen Therapieplatz gefunden zu haben. Im Uniklinikum Bochum gibt es eine Spezialsprechstunde für Menschen mit Intelligenzminderung, die psychisch erkrankt sind. Menschen wie er haben es ansonsten schwer, einen Behandlungsplatz zu bekommen. „Umfragen unter Therapeuten haben gezeigt, dass nur ganz wenige mit dieser Personengruppe arbeiten“, sagt Annika Kleischmann, Hollands Psychotherapeutin vom Zentrum für Psychische Gesundheit und Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung an der Universität Witten/Herdecke.

Wenig Wissen bei Therapeuten

In einer Umfrage unter den Mitgliedern der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg meldete sich nur ein Bruchteil. 156 von 2300 Mitgliedern schickten die Fragebögen ausgefüllt zurück, aus dieser Gruppe hatten 40 Prozent Erfahrungen mit Behandlungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. „Die meisten geben an, dass sie sehr wenig über das Thema wissen. Ein weiteres Problem ist, dass die Patientinnen mehr Zeit in Anspruch nehmen als andere. Und natürlich ist die Versorgungssituation wegen der vollen Praxen und der langen Wartelisten allgemein schwierig“, sagt Kleischmann.

Die wenigen Therapeuten, die solche Patientinnen behandeln, engagieren sich dafür umso stärker, so wie Kleischmann und auch Jan Glasenapp, Psychotherapeut in Schwäbisch Gmünd. In seiner Praxis weisen circa zehn Prozent der Klientinnen und Klienten eine Intelligenzminderung auf. Schon während seines Psychologiestudiums interessierte er sich für diese Patientengruppe:

„Als ich für meine Diplomarbeit Videos über Therapien für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung analysierte, hat sich mir eine neue Welt, eine neue Sicht auf Psychotherapie eröffnet. Sie kommen mit denselben Problemen wie meine anderen Patienten. Sehr häufig sind es Depressionen und Antriebsschwierigkeiten. Danach kommen verschiedenste Ängste. Fast alle können über schwerwiegende schmerzhafte Erfahrungen aus ihrer Lebensgeschichte berichten. Auch das unterscheidet sie nicht von der Gruppe der anderen.“

Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen mit Intelligenzminderung oft auch körperlich eingeschränkt sind. Benjamin Holland musste zum Beispiel in seiner Kindheit lange Krankenhausaufenthalte überstehen, weil er mit einem Hydrocephalus, einem Wasserkopf geboren wurde. Häufige Symptome der Krankheit sind unter anderem Erbrechen, Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Konzentrationsprobleme und Lernschwächen.

Zu Hause üben

Ein besonderes Angebot für Menschen mit kognitiven Beschränkungen bietet das Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen (BHZ), das zum Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin gehört. Das Zentrum besitzt eine Institutsambulanz und einen stationären Bereich mit 34 Betten. Dort kümmert sich Personal aus Medizin, Psychotherapie und Heilpädagogik um die Patientinnen und Patienten.

„Eine stationäre Aufnahme ist bei sehr schwierigen Fällen möglich, wie bei Fremd- oder Selbstgefährdung oder bei Verhaltensauffälligkeiten mit starker Aggressivität“, erklärt Heika Kaiser, leitende Psychologin des Behandlungszentrums. Neben Psychotherapie bietet das Zentrum auch Kreativtherapien an, wie Musik-, Kunst-, Ergo-, Tanz- und Theatertherapie. In Deutschland gibt es nur circa 30 Kliniken, die eine ähnlich umfassende Behandlung wie das BHZ in Berlin ermöglichen.„Es ist eine sehr vielseitige Arbeit, in der wir alle kreativ werden können.

Spannend ist die Tätigkeit auch, weil man mit dem sozialen Umfeld in Kontakt treten und es in die Arbeit einbeziehen muss, nur so kann die Lebensqualität der Patienten wirklich verbessert werden“, sagt Kaiser. Das Umfeld, in erster Linie die Bezugspersonen, also die Angehörigen oder die Betreuerinnen und Betreuer von Wohngruppen, ist eminent wichtig.

Die Bezugspersonen sind quasi Co-Therapeuten, denn nur wenn sie die Erkrankung, Behandlung und Therapieziele verstehen, können sie die Patientinnen gut begleiten und zum Beispiel zu Hause mit ihnen üben. In einigen Therapiesitzungen sind sie daher anwesend. Sie sind es auch, die Betroffene für Therapien anmelden. Meistens kümmern sich darum die Betreuer von Wohneinrichtungen, an zweiter Stelle Angehörige, sehr selten gesetzliche Betreuerinnen.

Probleme in der Diagnostik

Ein Problem im Vergleich zu herkömmlichen Therapien ist, eine Erkrankung überhaupt zu erkennen. Erschwert wird das durch zwei Phänomene, auf die in früheren Zeiten kaum geachtet wurde: einmal das diagnostic overshadowing, bei dem man ungewöhnliche Verhaltensweisen einfach der Behinderung zuordnet. Zum anderen das sogenannte Underreporting, denn die Menschen können oft ihre Gefühle nicht gut wahrnehmen und ausdrücken sowie ihren Leidensdruck beschreiben.

So war es auch bei Glasenapps Patienten Mario Binder, der in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet und vor dem Erstgespräch längere Zeit krankgeschrieben war (seinen Namen haben wir verändert). „Er kam in Begleitung seiner Mutter und erklärte, dass er unter verschiedenen Ängsten leide. Diese Ängste konnte er aber gar nicht richtig benennen. Er machte sich viele Sorgen, dass er etwas falsch machen könnte, fühlte sich unsicher und von anderen beobachtet“, erzählt Glasenapp.

Der Intelligenztest ergab eine leichte Intelligenzminderung, einen IQ von 60. Neben der Diagnose einer Intelligenzminderung überprüfen Therapeuten auch psychische Störungen. Es hängt jedoch vom Entwicklungsstand der Patientin ab, ob man die üblichen diagnostischen Kriterien anwenden kann. Für Patienten mit einer geistigen Behinderung wurden die Kriterien des Internationalen Klassifikationssystems für Krankheiten ICD-10 leicht modifiziert.

Sprache anpassen, konkrete Anweisungen geben

„Bei Mario kam dann heraus, dass er weniger an einer Angststörung als vielmehr an einer mittelgradigen depressiven Episode litt“, erklärt der Therapeut. Mario wollte nicht mehr zur Arbeit gehen und sah keinen Sinn mehr in seinem Tun. Antriebsminderung nennt die Psychologie den Zustand, wenn Menschen für nichts mehr Interesse empfinden und am liebsten zu Hause sein wollen.

Weil das Sprachverständnis eingeschränkt ist, müssen die Behandelnden ihre Sprache auf die Bedürfnisse ihrer Patienten anpassen. Das bedeutet, kurze Sätze zu formulieren und einfache Wenn-dann-Sätze zu verwenden. Auch offene Fragen können verwirren. Manchmal lassen sich Abstraktionen und Fremdwörter nicht vermeiden, sie müssen dann aber besonders gut erklärt werden. So wie das schwierige Wort Psychotherapie.

„Meine erste Frage ist immer: ,Wissen Sie überhaupt, was eine Psychotherapie ist?‘ Die meisten wissen es nicht“, sagt Jan Glasenapp. Er erklärt ihnen dann in einfacher Sprache: „Psycho meint das, wie es einem innen drin geht. Ein anderes Wort dafür ist Seele. Therapie ist ein anderes Wort für Behandlung. Psycho-Therapie ist also eine Behandlung der Seele.“

In den Therapien agieren Psychotherapeuten anders als sonst sehr direkt. Sie bieten Hilfe offen an und geben, wenn nötig, konkrete Anweisungen – bei durchschnittlich intelligenten Klientinnen und Klienten ist es unüblich, Sätze wie „Sie müssen dann aber dieses oder jenes tun“ zu verwenden oder Tages- oder Wochenpläne vorzuschreiben. Therapieziele und -fortschritte werden klar angesprochen und auf Moderationstafeln und in den Therapiebüchern der Patientinnen aufgeschrieben.

Die eigenen Gefühle kennenlernen

„Die Idee von Therapie ist immer, dass der Patient selbst auf Ideen kommt. Das funktioniert bei Menschen mit Intelligenzminderung meist nicht. Man muss sagen: ‚Ich wäre in dieser Situation wütend, sind Sie auch wütend?‘ Die Gefahr dabei ist natürlich, dass man jemand in eine bestimmte Richtung lenkt“, erklärt Annika Kleischmann. Generell gilt, dass Therapiemethoden und -techniken vereinfacht werden müssen. In der Arbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung verwenden Psychotherapeutinnen am häufigsten die Verhaltenstherapie.

Eine am BHZ in Berlin häufiger genutzte Methode ist zum Beispiel eine vereinfachte Version der dialektisch-behavioralen Therapie. Entwickelt wurde diese für die Behandlung von an der Borderline-Persönlichkeitsstörung Erkrankten, also emotional instabilen Menschen. Daher eignet sie sich gut für Menschen mit geistiger Behinderung, weil auch diese sehr impulsiv sind und oft schwierige Beziehungen mit anderen Menschen haben. Die Therapie legt unter anderem viel Wert darauf, unangenehme Ereignisse und Gefühle ertragen zu lernen und Wege zu finden, von Krisen nicht überwältigt zu werden.

„Wir konzentrieren uns dabei auf Achtsamkeit, eigene Gefühle zu erkennen, und das Erlernen von Fähigkeiten, die man braucht, um Gefühle besser im Griff zu haben. Das heißt, zusammen mit der Patientin oder dem Patienten in einfacher Sprache das Problemverhalten zu analysieren, also: Was ist passiert und was ist der Situation vorausgegangen, wie hat sich der Patient gefühlt und wie geht es weiter?“, sagt Heika Kaiser.

Figuren, die Kraft geben

Visuelle Materialien wie Bilder, Piktogramme oder Cartoons helfen, ein Problem besser zu verstehen oder Hausaufgaben darzustellen. Übungen können auf einem Flipchart anschaulich gemacht werden. Auch Benjamin Holland arbeitet gerne mit Bildern. Er ist ein großer Filmfan, einige Superhelden haben es ihm besonders angetan.

„Ich hab mir vorgestellt, dass Hulk in der Mitte des Badezimmers steht und die Wände aufhält“, erzählt er. Mit Erfolg, denn mithilfe der grünen Comicfigur konnte er den Raum wieder betreten. „Gegen das Angstgefühl im Bauch hat Benjamin sich einen Geist ausgedacht, der die Angst symbolisiert. Es ist leichter für ihn zu sagen, der Geist ist wieder da, als zu sagen, die Angst ist wieder da“, sagt seine Psychotherapeutin.

Das Stecken von Bügelperlen ist ebenfalls eine große Ressource. Holland fertigt aus den Bastelperlen Figuren, die er bei sich trägt und die ihm Kraft geben. Auch in der zweiten Therapie bei Annika Kleischmann kommen sie zum Einsatz. In der betreuten Viererwohngemeinschaft von Holland lebt ein Mitbewohner, der sehr laut schreit, wenn er Stimmen hört. Das Schreien macht Holland Angst, er flieht dann aus der WG und übernachtet bei seiner Mutter.

Das emotionale Entwicklungsalter erfassen

„Er besitzt wenig Kompetenzen, um auf soziale Konfliktsituationen zu reagieren“, meint die Wittener Therapeutin. „Er hat das emotionale Entwicklungsalter vergleichbar mit einem Zwei- bis Dreijährigen, was die Fähigkeiten betrifft, die Vielfalt seiner Gefühle wahrzunehmen und zu wissen, wie er mit diesen Gefühlen umgehen kann.“

Die Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung sind in ihrer emotionalen Entwicklung oft ein Stück weiter zurück, als es ihrer kognitiven Entwicklung entspricht. „Zum Beispiel ist ein Mensch mit leichter Behinderung intellektuell auf dem Niveau eines Zwölfjährigen, aber emotional auf dem Niveau eines Sechsjährigen“, erklärt Heika Kaiser. „Es ist ganz wichtig, diese Diskrepanz zu erkennen. Nur dann kann man auf die Grundbedürfnisse der Menschen eingehen.“

Es gibt verschiedene Testverfahren, die zu Beginn jeder Therapie das sozial-emotionale Entwicklungsniveau erfassen. Als Faustregel gilt: Je niedriger das Entwicklungsniveau ist, desto wahrscheinlicher ist eine Verhaltensstörung. Wer nicht die Kompetenzen besitzt, um auf Stress funktional zu reagieren, reagiert wahrscheinlich mit einem Wutausbruch.

Patientinnen, die unter einer Angststörung leiden, in ihrer emotionalen Entwicklung aber mit Kleinkindern vergleichbar sind, empfinden Angst anders als ein altersgemäß entwickelter Mensch. Dies von der psychischen Erkrankung abzugrenzen ist für Therapeuten eine große Herausforderung. Andererseits erleben viele Patienten ihre Therapiesitzungen als beglückende und stärkende Erfahrung. In einer Wohngruppe kommt es selten vor, dass sich eine Mitarbeiterin fast eine Stunde Zeit nimmt und sich nur mit einem Klienten beschäftigt.

Sinnhaftigkeit & Selbstwert

Um Defizite im Umgang mit Emotionen auszugleichen, benutzen Therapeuten verschiedene Hilfsmittel: Videos, Bilder verschiedener Gesichtsausdrücke, das Zeichnen von Emotionen oder auch Gefühlstagebücher, in denen Patienten unter anderem auf einer Skala ankreuzen können, wie es ihnen geht. So fotografierte Jan Glasenapp einmal die Gesichtsausdrücke einer Patientin, die sie dann mit seiner Unterstützung mit Grundemotionen benannte – Freude, Trauer, Angst, aber auch Wut. Die Patientin hatte große Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken.

Sie verletzte sich mit einer Schere oder fing an zu schreien, wenn sie sich von bestimmten Personen in ihrer Wohngruppe abgelehnt fühlte. Mithilfe der Fotos lernte sie allmählich, dass es in Ordnung ist, wütend und traurig zu sein und eine Bezugsperson um Hilfe zu bitten, anstatt sich selbst zu verletzen.

Auch Mario Binder fällt es schwer, Wut und Ärger zu fühlen und zu artikulieren. „Bei Mario fiel mir aber positiv auf, dass er seine Freude gut zeigen konnte. Er hat sich sehr über den kleinen Garten gefreut, den er auf seinem Balkon angelegt hat“, erzählt Jan Glasenapp. Der Minigarten gehörte zu den Schritten, die Glasenapp mit seinem Patienten besprach, um seinen sozialen Rückzug aufzubrechen.

Der sogenannte Aktivitätsaufbau – also Dinge zu tun, die einem das Gefühl von Sinnhaftigkeit geben, und die eigenen Kompetenzen wertzuschätzen – gehört zum Standard der Verhaltenstherapie bei der Behandlung von Depressionen. Fahrradfahren brachte Mario Binder einen zusätzlichen Anschub. Der verstorbene Großvater hatte ihm ein E-Bike vererbt, mit dem er seinen Bewegungsraum deutlich vergrößerte. Er ist stolz, mit dem E-Bike so gut zurechtzukommen.

Was würde Hulk tun?

Rollenspiele sind ebenfalls eine bewährte Methode, den Umgang mit Emotionen zu trainieren. Annika Kleischmann übte auf diese Weise mit Benjamin Holland, damit ihn die Schreianfälle seines Mitbewohners nicht mehr in Panik versetzten. „Wie würde ein Hulk reagieren, wenn jemand so laut schreit? Was könnte ich tun, um so stark zu erscheinen wie eine dieser Figuren?“, fragte die Therapeutin ihn. Sie riet ihm außerdem: „Ich könnte auch Musik oder meinen Lieblingsfilm anmachen, um mich zu beruhigen.

“Sie trainieren, welche Situationen gefährlich sind, welche nicht. Wenn jemand schreit, ist das unangenehm, aber meist nicht gefährlich. Also muss Holland lernen, Gefahren zu differenzieren. „Im Rollenspiel haben wir ausprobiert, wie ich jemandem sage, was ich möchte. Benjamin hat große Schwierigkeiten, Betreuer um Hilfe zu bitten. Ich habe ihm verschiedene Möglichkeiten angeboten und gefragt, welche er am besten findet. Dann haben wir diese geübt.“ Allmählich gelang es Benjamin Holland immer besser, sich der belastenden Situation mit seinem Mitbewohner zu stellen und nicht einfach wegzulaufen.

Für viele Patientinnen ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Einschränkungen ein wichtiger Schritt in der Therapie. So war es auch bei Mario Binder. Es stellte sich heraus, dass er sich in hohem Maße mit anderen Menschen vergleicht. Vor allem mit seinem jüngeren, nichtbehinderten Bruder, der Abitur gemacht und studiert hat. Mario sorgt sich ständig darum, wie andere ihn beurteilen und wie sie über ihn denken. „Er hat eine große Sehnsucht nach der Normalität seines Bruders, die er nicht erreichen kann. Diese Erkenntnis löste viel Trauer bei ihm aus“, sagt sein Therapeut Glasenapp.

Die wissenschaftliche Forschung kommt in Fahrt

„Ein behinderter Mensch, der zum Beispiel im Fernseher die Werbung anschaut, ist mit einer Welt konfrontiert, die aus vielfältigen Gründen so nicht für ihn erreichbar ist. Das erzeugt immensen Druck, der schwer zu verarbeiten ist.“ Therapeutinnen sollten daher die Beschäftigung mit der Beeinträchtigung als mögliches Thema vorschlagen.

„Die Behinderung thematisiere ich immer, um zu sehen, ob sie ein Problem ist“, betont Kleischmann. „Die Menschen müssen täglich die Stigmatisierung aushalten, die mit ihrer Behinderung einhergeht.“ Benjamin erzähle oft, dass er aufgrund seines Aussehens gehänselt werde. „Umso mehr Raum in der Therapie brauchen dann die Bereiche, die der Patient als eigene Stärken erlebt“, betont die Psychotherapeutin.

Die psychotherapeutische Versorgung für Menschen mit Intelligenzminderung ist alles andere als ausreichend. Aber die Zeiten sind vorbei, in denen man ihnen absprach, psychisch erkranken zu können. Und seit einigen Jahren kommt auch die wissenschaftliche Forschung in Fahrt. Eine Reihe von Studien zeigt, dass Psychotherapie bei psychischen Störungen und Intelligenzminderung wirkt. Im Jahr 2019 stellte der Gemeinsame Bundesausschuss für die ambulanten Behandlungen mehr Stunden zur Verfügung.

Es gibt nun sechs probatorische Sitzungen zum Kennenlernen statt vier wie für Patientinnen und Patienten ohne Intelligenzminderung. Für Bezugspersonen können zusätzliche Therapiestunden beantragt werden. Schließlich hat Deutschland bereits 2009 die UN-Menschenrechtskonvention ratifiziert und sich verpflichtet, ihnen eine Gesundheitsversorgung in „derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard“ zur Verfügung zu stellen. Annika Kleischmann stellt klar: „Menschen mit Intelligenzminderung haben das gleiche Recht, Psychotherapie zu bekommen, wie Sie und ich.“

Literatur

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Positionspapier: Zielgruppenspezifische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen – Situation, Bedarf und Entwicklungsperspektiven. 

Anton Dosen: Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Hogrefe, Göttingen, 2018.

Anna Erretkamps u.a.: Therapietools Depression bei Menschen mit geistiger Behinderung. Beltz, Weinheim 2017

Jan Glasenapp u.a. (Hrsg.): Barrierefreie Psychotherapie Möglichkeiten und Grenzen der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung“, Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (DGSGB), Dokumentation der Fachtagung am 11. März 2016. 

Francesca Happé u.a: Towards a developmental neuroscience of atypical social cognition. The Journal of Child Psychology and Psychiatry Annual Research Review, 55/6, 2014, 553-577.

Katharina Kremitzl u.a.: Zur psychotherapeutischen Versorgung erwachsener Menschen mit Intelligenzminderung in Baden-Württemberg. Eine Befragung Psychologischer Psychotherapeutinnen. Psychotherapeuten Journal 2/2018, 135-144.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on