Nichts zu bereuen!

Grübeln Sie manchmal über verpasste Gelegenheiten und ungenutzte Chancen? Glauben Sie, an einer Kreuzung im Leben falsch abgebogen zu sein? Das Gefühl, nicht das Beste aus dem eigenen Leben gemacht zu haben, ist quälend – und überflüssig. Denn Sie haben sich schon richtig entschieden!

Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister, unter diesem Titel erzählt ein Ende 2016 erschienenes Buch die Geschichte Sergej Evljuskins, eines überragenden Fußballtalents. Der gebürtige Kirgise, Jahrgang 1988, war einmal bester deutscher Nachwuchsspieler, ausgezeichnet mit der Fritz-Walter-Medaille, und spielte in diversen Jugend-Nationalmannschaften zusammen mit den späteren Weltmeistern von 2014, Boateng, Özil oder Götze. Einiges lief jedoch schief, oder besser: es lief seitwärts statt aufwärts. Im…

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lief seitwärts statt aufwärts. Im aufgeblähten Kader des VfL Wolfsburg konnte sich der Wunderknabe nicht durchsetzen – und landete schließlich in der Regionalliga bei Hessen Kassel. Für „Karrieren im Konjunktiv“, für unerfüllte Hoffnungen und Träume haben amerikanische Psychologen den Begriff Contender-Syndrom geprägt. Das Wort geht zurück auf einen Satz, den Marlon Brando in dem Film On the Waterfront (1954) murmelt. Er spielt darin Terry Malloy, einen ehemaligen Boxer, der sich von Gangstern zu einer Niederlage zum Zweck eines Wettbetrugs drängen ließ; ein Fehler, den er sein Leben lang bereut. Sein lädiertes Selbstbewusstsein bessert er auf, indem er gelegentlich sagt: „I coulda been a contender, I coulda been somebody.“– „Ich hätte ein Herausforderer sein können.“

Wohl jeder denkt mal über einen Lebenstraum nach, der sich nicht erfüllt hat, fragt sich, an welcher Kreuzung im Leben er möglicherweise falsch abgebogen ist oder warum dieser eine entscheidende Fehler passieren konnte. Was wäre gewesen, wenn ich X nicht verlassen hätte? Wo stünde ich heute, wenn ich den Mut gehabt hätte, für den Job in eine andere Stadt zu ziehen?

Immer, wenn wir im Möglichkeitsmodus denken – „Was wäre gewesen, wenn …“ –, bemühen wir eine essenzielle, nur dem Menschen eigene Fähigkeit: sich alternative Szenarien zu einer unbefriedigenden Wirklichkeit vorzustellen oder auch von einem besseren Ich zu fantasieren. Die Psychologie nennt diese Fähigkeit kontrafaktisches Denken. Das Gefühl, nicht genug aus den eigenen Möglichkeiten gemacht zu haben oder in einer kritischen Situation die falsche oder nur die zweitbeste Entscheidung getroffen zu haben, kann quälend sein. Es befällt Menschen vor allem dann, wenn sie sich mit anderen, mit erfolgreicheren, berühmteren, vermeintlich glücklicheren Zeitgenossen vergleichen: „Das hätte ich auch schaffen können, wenn ich Gesangsunterricht hätte nehmen können!“ Oder: „Wenn ich nicht das Studienfach gewechselt hätte, besäße ich heute auch so eine gutgehende Praxis.“ Oder: „Hätte ich mich schon vor fünf Jahren von Peter getrennt, wäre ich heute genauso glücklich wie meine Freundin.“ Hätte, hätte, Fahrradkette.

Was wir bereuen

Was würden Menschen anders machen, wenn sie die Weichen in ihrem Leben an einem Punkt neu stellen könnten? Anders gefragt: Was bereuen sie am häufigsten?

Der Sozialpsychologe Neal Roese, Autor des Buches If Only (etwa: Wenn doch nur) hat über mehrere einschlägige Untersuchungen bei Tausenden Versuchspersonen hinweg die wichtigsten Revisionsfantasien herausgearbeitet. Sie tauchen ziemlich stabil immer wieder auf, wenn Erwachsene auf ihr Leben zurückblicken:

Bildung: Versäumte oder vernachlässigte Chancen in Schule und Ausbildung werden von 32 Prozent der Befragten genannt. Zu früh von der Schule abgegangen, zu sehr anderen Interessen gefrönt, zu früh ans Geldverdienen gedacht – das sind typische „Fehler“, die Menschen bereuen. Warum wird Bildung – vielleicht überraschend – so häufig genannt? Weil sie vermutlich mehr als andere Faktoren unser weiteres Leben beeinflusst: Gute Bildung ist der Schlüssel zu besserem Einkommen, höherem gesellschaftlichen Status, sie beeinflusst aber auch Gesundheit und Partnerwahl.

Beruf: Probleme bei der Berufswahl, in der Arbeitsbiografie und die damit verbundenen Entscheidungen werden von 22 Prozent bereut. Im „richtigen“ Beruf findet man Sinn, Erfüllung und Anerkennung. Umso bedauerlicher, wenn man seine Berufung verraten hat oder auf Irr- und Abwege geraten ist. Genannt wird aber häufig auch die Reue, wenn zu viel Zeit und Energie in die Karriere investiert und andere Dinge wie Liebe, Familie, Freunde vernachlässigt worden sind.

Liebe, Intimität: 15 Prozent der Befragten empfinden Reue, weil sie vermuten, in Liebesdingen irgendetwas verpasst oder eine mögliche Beziehung zumindest beeinträchtigt zu haben. Das Bild ist hier sehr inkohärent: vom Tragischen („Ich konnte meiner großen Liebe nicht sagen, dass ich ihn will …“) bis zum Komischen („Ich habe blöderweise einen Lachanfall bekommen, als er mir einen Antrag machte“).

Elternschaft: Ob die Rolle als Eltern, schlecht oder gar nicht ausgefüllt wurde, war bei 11 Prozent der Befragten Auslöser von kontrafaktischem Denken und Reue. Nicht genug Zeit mit den Kindern verbracht zu haben, den Kinderwunsch nicht erfüllt bekommen oder darauf wegen des Berufs verzichtet oder auch das Kind/die Kinder zu früh in die Welt gesetzt zu haben – das sind oft genannte Gründe. Bemerkenswert findet Roese, dass niemand unter den Befragten bereute, Kinder zu haben.

Psychologen haben in den letzten Jahre intensiv erforscht, wie uns das Grübeln über einmal getroffene Entscheidungen im weiteren Leben beeinflussen und wie das dabei oft auftauchende Gefühl der Reue gezähmt und sogar nutzbar gemacht werden kann. Wie können wir die Balance finden zwischen unrealistischen und realistischen Wünschen? Und wie sinnvoll ist es, verpassten Gelegenheiten nachzutrauern?

Die Rolle des Schicksals

Wenn wir unser Leben als Ganzes betrachten, versuchen wir im Grunde, ihm einen Sinn abzugewinnen. Bei dieser Sinngebung stoßen wir unweigerlich auf die Momente, in denen wir falsche Entscheidungen getroffen oder wichtige Gelegenheiten verpasst haben. Und wir fragen uns: Musste es wirklich so kommen, wie es kam? Wenn wir diese Frage bejahen, messen wir dem Schicksal eine wichtige Rolle zu. Dadurch entlasten wir uns zumindest etwas davon, für folgenreiche Fehler selbst verantwortlich zu sein. Der Entwicklungspsychologe Albert Bandura hat schon 1982 auf die enorme Rolle des Zufalls in unserer Biografie hingewiesen. In seinem Artikel Die Psychologie von Zufallsbegegnungen und Lebenswegen stellt er fest, dass jedes Leben durch eine Zufallsbegegnung in eine völlig neue Richtung gedreht werden könne.

Menschen unterscheiden sich allerdings erheblich darin, welche Rolle sie einem wie immer gearteten Schicksal oder dem Zufall zubilligen. Wer häufig kontrafaktisch denkt – also im Modus „Hätte ich doch!“ oder „Was wäre gewesen, wenn…?“ –, verwirft den Schicksalsglauben und hängt eher der Idee eines freien Willens an. Mit der Folge, dass er mitunter Reue oder Bedauern über vermeintliche Fehler oder Versäumnisse empfindet – aber auch Stolz auf die „richtigen“ Weichenstellungen.

Sind also Schicksalsglaube und die Überzeugung, frei über sein Leben entscheiden zu können, strikte Gegensätze? Keineswegs, hat der Sozialpsychologe Neal Roese in einer Untersuchung herausgefunden: Zu etwa einem Viertel bestimme das Schicksal den Lebensweg, glaubten seine Versuchspersonen, und für drei Viertel dessen, was einem widerfährt, sei man selbst verantwortlich.

Auch ist die „Schicksalsidee“ nicht eindeutig. Die Psychologen Maia Young (Stanford University) und Michael Harris (Columbia University) haben zwei Spielarten entdeckt: Manche Menschen glauben an ein von Gott kontrolliertes Schicksal (deity control), andere eher an eine abstrakte Größe, an ein Fatum (destiny control). Etwa in Gestalt einer unbestimmten, kosmischen Kraft. Schicksal kann aber auch vom „Karma“ (dem Denkschema, dass man für seine Taten in einem früheren Leben bestraft oder belohnt wird) oder den Sternen (Astrologie) ausgehen. Der Unterschied zwischen beiden Formen: Mit Gott lässt sich reden. Seine Beschlüsse sind nicht unumstößlich, man kann mit ihm „verhandeln“. Deshalb lässt sich Gottesglaube durchaus mit kontrafaktischem Denken vereinbaren. Denn Gottes Wege sind eben manchmal rätselhaft, und er gewährt uns auch Freiheiten, die wir nutzen können – oder eben nicht.

Nicht so das Fatum: Dieses Schicksal ist in einem „großen Buch“ oder Plan fixiert, vorbestimmt, unverrückbar. Deshalb ist dieser Glaube oft eine Last – beispielsweise in Liebesdingen. Denn wenn etwas vorbestimmt ist, muss man auch den vom Schicksal bestimmten „perfekten“ Partner finden, den hundertprozentig richtigen Job, den passenden Wohnort und so weiter.

Zu seinen Entscheidungen stehen

Menschen denken heutzutage öfter und intensiver über ihre Möglichkeiten und Chancen nach. Denn wir leben in einer Zeit, in der persönliches Wachstum, das Ausschöpfen der eigenen Potenziale und Begabungen zentrale Ideen sind: Mach das Beste aus dir! Weil das prinzipiell möglich erscheint (zumindest suggerieren uns das die Ideologien des Individualismus und Neoliberalismus), entsteht etwas, das die Soziologen „biografischen Gestaltungsdruck“ nennen: Du bist selbst für deinen Erfolg, dein Glück verantwortlich!

Die Arbeitspsychologin Tabea Scheel von der Universität Leipzig sagt: „Es gibt heute für jeden unzählige Möglichkeiten, und wir überprüfen ständig, ob wir in unserem Leben etwas verändern sollten. Der Druck zur Selbstoptimierung ist größer geworden. Wer nicht alle Möglichkeiten ausschöpft, gilt als gescheitert.“

Sein Wunschleben nicht verwirklichen zu können, nichts „Besonderes“ zu sein wird oft als Bedrohung, als „Verschwendung“ erlebt. Vor allem wenn wir in der Gegenwart gefrustet und gestresst sind oder etwas Wichtiges fehlt – etwa Autonomie, Abwechslung oder Anerkennung im Job oder Zärtlichkeit und Geduld beim Partner –, malen wir uns andere Optionen in den schönsten Farben aus. Die Forschung zeigt aber, dass imaginierte Vorteile von Alternativen die Situation meist noch verschlechtern, weil sie die Bindung an das Gewählte (den Job, den Partner) verringern.

Eine Untersuchung mit 400 verheirateten Paaren brachte ein verstörendes Ergebnis: Alle Teilnehmer konsumierten häufig Seifenopern, romantische Serien oder scripted reality-Formate wie Bachelor/Bachelorette, in denen es um Liebe, Leidenschaft und Herzschmerz geht. Die Teilnehmer unterschieden sich jedoch darin, ob sie diese fiktiven Darstellungen für modellhaft und halbwegs real hielten. Wer Letzteres in hohem Maße tat, gab in vertraulichen Befragungen an, immer wieder einmal mit Alternativen zu liebäugeln. Die Bindungsbereitschaft dieser Fernsehgucker war deutlich fragiler, weil sie häufig über potenzielle andere Partner fantasierten.

Je enger wir eine Bindung entwickelt haben, je mehr wir in sie investiert haben, desto resistenter sind wir gegen die Versuchung anderer Optionen. Wer sich dagegen häufig kontrafaktischem Denken à la „Was wäre gewesen wenn…“ hingibt, wird möglicherweise nicht genügend Energie und Aufmerksamkeit in die getroffene Wahl investieren. Der englische Psychoanalytiker Adam Phillips schreibt über diesen irrealen Wunsch nach Lebensoptimierung: „Niemand hat jemals die Jugend gehabt, die er hätte haben sollen.“ Und: „Manchmal glauben wir, mehr über das zu wissen, was wir nicht haben können oder haben wollten, als über das, was wir haben. Das nennt man Frustration.“

Die bewusste Konzentration auf den eingeschlagenen Weg kann Reuegedanken verscheuchen.Das bestätigen auch die Forschungen der Philosophin Ruth Chang, die als Professorin für Philosophie an der Rutgers-Universität in New Brunswick (USA) lehrt. In einem Interview mit Psychologie Heute (Heft 10/2015), erklärte sie, wie man rückblickende Reue vermeidet und die Akzeptanz eines einmal eingeschlagenen Weges erhöht: „Angenommen, man wählt den stressigen Powerjob in der Großstadt und nicht die ruhige Position in der Provinz. Indem man diese Entscheidung fällt, verändert man sich selbst ein wenig, denn man wird zu der Person, die sich auf den stressigen Powerjob einlässt. Es ist nicht so, dass die Welt einen verändert hat. Man hat sich selbst verändert, indem man sich ganz in den Stadtjob wirft. Und während die beiden Alternativen vorher gleichwertig waren, stimmt das nun nicht mehr. Der Stadtjob ist jetzt wertvoller als der Landjob, und man hat in der Tat mehr Grund, ihn auszuüben.“

Unsere Träume, Wünsche und Fantasien von anderen, aufregenderen, besseren Varianten unseres Daseins begleiten uns lebenslang. Adam Phillips erklärt, warum das nicht gelebte Leben für uns letztlich genauso wichtig ist wie das gelebte. Unsere Fantasien von einem anderen Leben, das wir möglicherweise hätten führen können, sind sogar ein zentrales Merkmal der menschlichen Existenz.

Die Alternativ- und Parallelwelten erinnern uns an das, was uns einmal wichtig war und angetrieben hat. Vor allem aber sind kontrafaktische Vorstellungen ein wichtiges Stück Selbsterkenntnis, das uns reifer macht. Das ungelebte Leben – die nicht verwirklichten Träume und Wünsche – kann uns also durchaus vorteilhaft beeinflussen und prägen. Es sei geradezu ein Zeichen von Weisheit, Reife und Gelassenheit, erklären uns Altersforscher, diese Fantasien fast so genießen zu können, als wären sie Wirklichkeit geworden.

Heiko Ernst ist Diplompsychologe und war von 1979 bis 2014 Chefredakteur der Zeitschrift Psychologie Heute. Seit 2015 ist er dem Magazin als Autor und Blogger verbunden.

Literatur

Neal Roese: If only. How to turn regret into opportunity. Broadway Books, Random House, New York 2005

Jia Wei Zhang, Serena Chen: Self-compassion promotes personal improvement from regret experiences via acceptance. Personality and Social Psychology Bulletin, 2016, Vol. 42 (2), 244 bis 258

Sergej Evljuskin, Christof Dörr: Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister. Schwarzkopf chwarzkopf, Berlin 2016

Adam Phillips: Missing out. In praise of the unlived life. Hamish Hamilton, Penguin Books, London 2012

Augusten Burroughs: How to ditch a dream. Psychology Today, May/June 2012 Abby Ellin: I coulda been a contender. Psychology Today, July/August 2012

Trotz alledem viel erreicht

Wie es gelingt, mit seinem Leben zufrieden zu sein

Die Erforschung menschlicher Lebensläufe hat eine Besonderheit zutage gefördert: Die meisten Menschen scheinen im Rückblick auf ihr gelebtes Leben eher das zu bereuen, was sie nicht getan haben, als das, was sie – auch an Falschem oder Schlechtem – getan haben. Dieser Befund wurde inzwischen relativiert. Entscheidend ist weniger, ob wir Reue oder Bedauern über etwas Nichtrealisiertes empfinden, sondern welche Schlüsse wir aus diesem Gefühl ziehen. Wenn wir nichterreichte Ziele oder verpasste Chancen bereuen, ist es Zeit, eine andere Perspektive einzunehmen und über sich und das bisherige Leben anders und neu nachzudenken.

Der Maßstab bin ich

Der Psychologe Shane Lopez meint, dass wir der kontrafaktischen Marter am ehesten entkommen, indem wir selbst-referenziell denken. Wenn es um Erfolge oder Leistungen geht, sollten wir uns selbst zum Maßstab nehmen: Wie habe ich mich in den mir wichtigen Punkten weiterentwickelt oder verbessert? Was waren realistische Ziele, die ich hätte schaffen können?

Statt auf unerreichbare Vorbilder zu schielen und sich Selbsttäuschungen oder dem Selbstmitleid hinzugeben, sollte man sich auf das konzentrieren, was gelungen ist und worauf man sogar stolz sein kann.

Die Was-wäre-wenn-Falle vermeiden

Statt mit einer Fehlentscheidung zu hadern, sollten wir die entscheidende Episode umdeuten, ihr einen neuen Sinn geben: Vielleicht hatte das Nichterreichen eines Ziels, eine Niederlage, ein Scheitern ja einen Sinn, der uns bisher verborgen war? Vielleicht haben wir aus einer Schwäche, einer Sucht, einem Versagen doch eine Lehre gezogen, die uns positiv beeinflusst hat? Und vielleicht können wir sogar stolz darauf sein, trotz dieses wunden Punktes in unserer Biografie etwas geworden zu sein? So erkennt ein in seinem Beruf durchaus erfolgreicher Mann, dass er wohl niemals eine Führungsposition erreichen wird, da er aufgrund seiner Biografie und Erziehung nicht das dafür notwendige „Macht-Gen“ und Selbstvertrauen entwickelt hat. Kann er sich mit diesem Defizit aussöhnen und gleichzeitig auf das trotzdem Erreichte stolz sein, vermeidet er die „Was-wäre-wenn-Falle“.

Der Biografieforscher Dan McAdams spricht von Erlösungs- und Befreiungsgeschichten, die wir uns selbst erzählen und aus denen wir Kraft und seelisches Wachstum schöpfen. Der eingangs erwähnte Fußballer und Beinaheweltmeister Sergej Evljuskin hat es offensichtlich fertiggebracht, eine solche „Befreiungsgeschichte“ zu schreiben. Er sei mit seinem Leben „nicht unzufrieden“, stand in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Abitur geschafft, Ausbildung abgeschlossen, Fernstudium am Laufen, Leidenschaft wenigstens zum Nebenberuf gemacht. Für ein Aussiedlerkind gar nicht schlecht.“

Loslassen ist eine Leistung

Mit dem Sprachbild „Verstiegenheit“ hat der Schweizer Psychiater und Daseinsanalytiker Ludwig Binswanger (1881–1966) eine Form „missglückten Daseins“ beschrieben: Wie ein Bergsteiger, der beim Aufstieg seine Route falsch wählt und sich nicht rechtzeitig korrigiert, versteigen sich manche Menschen so, dass es schließlich nicht mehr vorwärts und nicht mehr zurück geht. Hartnäckigkeit ist also nicht immer sinnvoll. Meist ist es klüger, sich andere Ziele zu suchen und nicht weiter Zeit und Energie zu vergeuden. Das ist leichter gesagt als getan, denn oftmals hängen wir zu sehr an einem Traum. Warum fällt es so schwer, ihn loszulassen? Meist ist es die Angst, sich das Scheitern einzugestehen. Doch der Autor Augusten Burroughs schreibt in seinem Buch This is How: „Einen Traum aufgeben, weil man ihn nicht verwirklichen kann, heißt nicht scheitern. Es gibt viele Arten zu scheitern, aber diese gehört nicht dazu. Und was Träume betrifft: Es gibt mehr als einen pro Person.“

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2017: Nichts zu bereuen!