Falsche Prioritäten
Dinge aufzuschieben und deshalb Ziele nicht zu erreichen – das ist wohl die bekannteste Form der Selbstsabotage. Kann man lernen, Aufgaben gleich zu erledigen?
Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir uns mit Aufschieberei schaden. „Doch gibt es so viele unterschiedliche Gründe für Prokrastination, dass der Begriff Selbstsabotage hier Unklarheiten schafft“, sagt Justine Patrzek, Psychologin an der Zentralen Studienberatung der Universität Bielefeld. Sie betreut dort…
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der Universität Bielefeld. Sie betreut dort unter anderem Studierende, die unter „Aufschieberei“ leiden, und hat vorher jahrelang zum Thema geforscht. Sie nennt die wichtigsten Mechanismen und Ursachen für Prokrastination– und zeigt erste Lösungsansätze.
Zu viele Anliegen gleichzeitig
Immer wenn man ein Ziel formuliert und dann doch nicht die nötigen Schritte einleitet, um es zu erreichen, spricht man von Prokrastination. Das passiert im Alltag häufig, sagt Justine Patrzek. Ein oft übersehener Grund dafür: Das Ziel ist eins von vielen und letztlich nicht wichtig genug. So kann es etwa sein, dass jemand sich beklagt, die eigene Website einfach nie fertigzustellen, doch tatsächlich hat dieser Punkt auf der To-do-Liste schlicht keine Priorität. Viele Menschen machen sich dann aber dennoch Vorwürfe. Hier hilft: Prioritäten benennen und schärfen. Sich klarmachen, dass man nicht alles schaffen kann.
Druck als Hilfe
Laut einer Studie der Psychologin Carola Grunschel gibt es zwei Haupttypen von „Aufschiebern“ in Lern- und Prüfungssituationen. Eine Gruppe schiebt eher aus Angst und Unsicherheit auf. Eine weitere Gruppe, die „Druckaufschieber“, baut sich künstlich Stress auf, um besser lernen zu können. Es gibt erste Hinweise darauf, dass manche Menschen in solchen selbstgezimmerten Stresssituationen tatsächlich leichter lernen und bessere Ergebnisse erzielen. Hier hilft: Prüfen, ob das kurzfristige Lernen hilfreich ist oder ob man darunter leidet. Falls man es als praktikable Strategie erlebt, kann man sie beibehalten.
Wenig Selbstregulation
Wer aufschiebt, kann oft schlecht planen, lernt unsystematisch, lässt sich ablenken, kann Aufgaben nicht gut in kleine Ziele und Schritte aufteilen. Es gilt heute als gesichert, dass diese mangelnde Fähigkeit, Vorhaben zu planen und durchzuführen, einer der Hauptgründe für „Aufschieberei“ in Schule und Universität ist. Hier hilft: Strategien für eine bessere Selbstregulation und Selbstorganisation, wie sie etwa Studierenden in Kursen vermittelt werden – laut Justine Patrzek zeigen diese Trainings bei ihren Klienten gute Erfolge.
Verweigerung!
Die meisten Aufschieber wollen ihr Ziel wirklich erreichen, also etwa eine Prüfung bestehen oder eine bestimmte Stelle bekommen – und leiden, wenn sie die dazu nötigen Schritte nicht schaffen. In manchen Fällen kann ein Liegenlassen von Aufgaben aber auch eine unbewusste Verweigerung sein, ein Zeichen, dass jemand auf einem unpassenden Weg ist, sich ein Ziel gewählt hat, dass er gar nicht erreichen will. Im Kontext von Studienberatung trifft das oft auf Personen zu, die ein Studium den Eltern zuliebe angefangen haben und dann durch das Aufschieben indirekt zeigen, dass sie dieses Ziel gar nicht erreichen wollen. Hier hilft: Eine Klärung der eigenen Wünsche und Ziele, mehr Selbstbestimmung, Ablösung von familiären Prägungen.
Abwehr von Unsicherheit
Immer wenn Menschen aufschieben, weil sie Angst haben zu scheitern, „dumm dazustehen“, oder wenn sie sich der Lernaufgabe nicht gewachsen fühlen, geht die Aufschieberei eindeutig in den Bereich self-handicapping und kann als quälend und irrational erlebt werden. Hier hilft: Wer aus diesen Gründen aufschiebt, dem helfen die beschriebenen Tipps zur Selbstwertstabilisierung bei Selbstsabotage.
Falsche Bescheidenheit
Warum Frauen sich so oft kleinmachen
Bescheidenheit ist eine Zier, und vornehme Zurückhaltung, gepaart mit Understatement, wirkt auf andere Menschen meist positiv. Nämlich als Ausdruck von Stil und Selbstkontrolle. Aber es gibt eine Form der Bescheidenheit, die einer Selbstsabotage gleichkommt. Sie wirkt geradezu peinlich, weil sie wie eine vorauseilende Selbstverleugnung erscheint. Sie nimmt andere Menschen nicht nur nicht für sich ein, sondern berührt sie eher unangenehm. Gemeint ist das Sichkleinmachen, eine Art präventiver Unterwürfigkeit.
Fatalerweise unterläuft diese übertriebene Bescheidenheit sehr viel öfter tüchtigen und intelligenten Frauen als Männern. Die amerikanische Psychologin Heidi Grant Halvorson hat das Phänomen der übertrieben bescheidenen Frauen untersucht und sieht die Gründe dafür – paradoxerweise – in der früh gezeigten Intelligenz der Betroffenen: Einerseits wurden sie schon als kleine Mädchen ob ihrer Aufgewecktheit und ihrer guten Schulleistungen gelobt und bewundert. Immer wieder neu wollten sie dann sich selbst und der Welt beweisen, dass sie wirklich gut sind.
Das hat andererseits nicht selten dazu geführt, dass sie sich permanent „wie auf dem Prüfstand“ fühlten – und befürchten, hin und wieder „nicht so toll“ abzuschneiden und ihre Eltern oder Lehrer zu enttäuschen. Besonders bei öffentlichen Auftritten oder in Prüfungssituationen gerät ihr Selbstbewusstsein – meist völlig grundlos – ins Wanken.
Die tiefe Unsicherheit unterläuft ihre Performance. Heidi Halvorson sieht darin eine tragisch-ironische Wendung: Es sind vor allem und ausgerechnet die Frauen, die schon als Mädchen durch Klugheit, Wissen, Fleiß und Talent glänzten, die sich nun übermäßig unter Druck fühlen. Durch ihre übertriebene Bescheidenheit, mit der sie quasi vorbeugend zu hohe Erwartungen dämpfen wollen, verfestigen sie das Klischee, dass Frauen „nicht so belastungsfähig“ seien wie Männer.
Manchmal wird die falsche weibliche Bescheidenheit auch interpretiert als eine versteckte Aufforderung, der Frau irgendwelche Sonderrechte oder Vorteile einzuräumen. In jedem Fall jedoch ist das Sichkleinmachen eine klassische Form der Selbstsabotage, die ein ganzes Geschlecht in ein schiefes Licht setzt, es benachteiligt und schädigt.
Falsche Lösungen
Bestimmte Formen des Gefühlsmanagements schaden uns
„Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör“, wusste schon Wilhelm Busch. Manche Formen der Selbstsabotage erscheinen uns vertraut und fast normal – wer hat nicht schon selbst mal zu tief ins Glas geschaut oder seinen Frust an Unbeteiligten ausgelassen? Solche Verhaltensweisen helfen uns, Dampf abzulassen, ein emotionales Tief zu überwinden und uns selbst zu trösten oder zu beruhigen. Auch wenn wir uns hinterher dafür schämen – im Augenblick bringen sie Erleichterung und Ablenkung. Aber auf den zweiten und dritten Blick müssten wir ihr (selbst-)zerstörerisches Potenzial erkennen: Langfristig wirken sich Trosttrinken oder -essen, Einkaufsorgien oder Wutausbrüche negativ aus. Diese Verhaltensweisen sind „falsche Freunde“, deren Gesellschaft wir eher meiden sollten.
Ein gemeinsames Merkmal dieser unterschiedlichen Formen von Gefühlsmanagement ist, dass sie sich auf starke äußere Reize stützen: etwa auf die dämpfende oder euphorisierende Wirkung des Alkohols, den Flash einer Droge, den Schmelz von Schokoladentorte, die Turbulenzen einer Aggression – oder auch auf den Schmerz einer selbst zugefügten Wunde. Es geht immer darum, ein unangenehmes bis unerträgliches Gefühl durch einen anderen, einen sinnlichen Reiz zu neutralisieren oder zu überdecken. Besonders Selbstverletzungen (wie Schneiden oder „Ritzen“) haben in letzter Zeit so sehr zugenommen, dass Experten dafür plädieren, sie als eigenes Störungsbild in die diagnostischen Handbücher aufzunehmen.
Eine andere, häufig eingesetzte Form „emotionaler Soforthilfe“ ist das ständige Bitten und Betteln um Zuwendung und um Liebesbeweise bei Partnern, Freunden oder Familienmitgliedern. Damit sollen tiefe Selbstzweifel, Verlustängste oder ein labiles Selbstwertgefühl ausgelöscht werden: „Du liebst mich doch noch, oder?“ Natürlich ist das gelegentliche Bitten um eine Bestätigung von emotionalen Bindungen normal – wer braucht das nicht? Aber wenn es zu oft und immer inständiger geschieht, bewirkt es allmählich das Gegenteil: Genervt und verärgert wendet sich der oder die Angeflehte ab und versucht, den Kontakt zu meiden. Die exzessive Suche nach Bestätigung und Zuwendung führt in einen Teufelskreis – Selbstzweifel, Betteln, Rückzug, noch stärkeres Bitten, mehr Selbstzweifel und eventuell eine Depression. „Niemand liebt mich!“
Die selbstsabotierenden Strategien der Gefühlskontrolle fühlen sich zu Beginn oft „richtig“ an – wir sind biologisch darauf programmiert. Hungrig? Iss was! Zornig? Hau mal drauf! Ängstlich oder unsicher? Such dir Hilfe und Zuwendung! Aber wenn negative Emotionen andauern und sie nur noch durch solche naheliegenden Reflexe ruhiggestellt werden, schadet man sich selbst.
Axel Wolf