Manchmal verhalten wir uns erstaunlich unklug: Wenn wir am Tag einer wichtigen Präsentation gerade alle Daten ausdrucken wollen und stattdessen auf den Button „Löschen“ drücken. Oder einen tollen Partner durch Streit und Nörgeleien in die Flucht schlagen. Oder eine Chance für eine Traumposition im Job spontan ausschlagen, weil es gerade im eigenen Team so nett ist. Auch wenn diese Beispiele in der Aufzählung absurd klingen: Jeder kennt Momente, in denen man sich eine Stunde, eine Woche oder ein Jahr später…
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man sich eine Stunde, eine Woche oder ein Jahr später fragt: Warum habe ich das bloß gemacht? Was ist damals in mich gefahren? Wie konnte ich mir selbst dermaßen im Wege stehen?
Psychologen sprechen von Selbstbehinderung oder Selbstsabotage, wenn Menschen aktiv durch ihr eigenes Verhalten ihre Ziele und Wünsche durchkreuzen oder deren Gelingen verhindern. Die Vorstellung, dass man sich in alltäglichen ebenso wie in wichtigen Situationen selbst schaden könnte, hat etwas Bedrohliches. Und dennoch ist es ein weitverbreitetes Phänomen. Man kann sogar sagen: Bis zu einem bestimmten Punkt tun wir es alle, ob bei der Prüfungsvorbereitung oder der Partnerwahl. „Wir wollen gern glauben, dass Menschen stets rational oder konstruktiv handeln. Doch das ist ein Irrtum. Wir sabotieren uns ständig selbst“, sagt Rainer Sachse, Professor für klinische Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Das heiße allerdings nicht, dass wir die Verhaltensweisen, mit denen wir uns selbst schaden, bagatellisieren sollten. Im Gegenteil. „Es geht darum, einen Umgang mit der Selbstsabotage zu finden und zu verstehen, was uns dazu bringt, uns in bestimmten Situationen so offensichtlich selbstschädigend zu verhalten“, erklärt Sachse.
Sowohl Emotions- und Kognitionspsychologen als auch klinische Psychologen und Psychoanalytiker konnten mittlerweile unterschiedliche Selbstsabotagemechanismen belegen und herausarbeiten, wie das schädliche Verhalten zu bekämpfen ist.
Es lag an den Umständen
Häufig vermasseln Menschen Situationen, in denen es um „etwas geht“, Ergebnisse abgeliefert werden sollen oder man in einer sozialen Situation glänzen will. Malte Schwinger, Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Marburg, untersucht seit Jahren das sogenannte self-handicapping. Es ist eine Form der Selbstsabotage, bei der sich Betroffene aktiv Hindernisse aufbauen, mit denen sie ihre eigenen Ziele torpedieren. Laut Malte Schwinger hat das scheinbar abwegige Verhalten einen triftigen Grund: „Wer sich aktiv Hindernisse aufbaut und damit eigene Ziele gefährdet, der nutzt dieses Verhalten oft als Strategie, um den eigenen Selbstwert zu schützen.“ In zahlreichen Studien konnte belegt werden, dass es den Selbstbehinderern stets darum geht, im Falle eines Misserfolgs die Ursache auf das äußere Hindernis schieben zu können. Falls man etwa die Prüfung tatsächlich verhaut, kann man immer noch sagen: „Ich habe aber auch gefeiert.“ Oder: „Ich hatte eh nicht gelernt.“
Der Mechanismus des self-handicappings ist in zahlreichen Studien belegt. Es gibt ihn bei Studierenden ebenso wie bei Sportlern oder Suchtkranken. Man hat ihn in beruflichen Situationen ebenso beobachten können wie in Paarkonflikten. Auf der Ebene der Persönlichkeit ist allen Selbstbehinderern gemeinsam, dass sie ihre eigenen Erfolge häufig als Zufall, ihre Misserfolge dagegen als eine komplette Niederlage für die eigene Person bewerten.
Wer zu dieser Art Selbstsabotage neigt, ist außerdem häufig leistungszielorientiert, fragt sich angesichts von Prüfungen oder anderen Herausforderungen stets, ob er auch „gut abschneiden“ wird, wie er vor anderen „dastehen wird“ und wie es anderen mit der Aufgabe ergehen wird. Konkurrenz und Bewertung stehen also im Vordergrund. Inhaltliches Interesse, Neugier, Freude am Lernen oder an neuen Erfahrungen geraten dadurch aus dem Blick. „All das steigert den Druck auf den Selbstwert enorm“, erklärt Malte Schwinger und fügt hinzu: „Da verspricht das selbst aufgebaute Hindernis Linderung.“
Wirksam ist diese Strategie zum Selbstwertschutz, die leicht zu einem hartnäckigen Muster wird, aber nur kurzfristig. Langfristig hat self-handicapping erwiesenermaßen negative Folgen. In einer Metaanalyse haben Schwinger und seine Kollegen gerade 36 Einzelstudien zum self-handicapping in akademischen Kontexten ausgewertet. Sie konnten zeigen, dass die aktive Selbstsabotage irgendwann dazu führt, dass Personen schlechtere Leistungen zeigen, länger für Abschlüsse brauchen, weniger gute Positionen bekleiden.
Was tun?
Wer sich selbst vor wichtigen Situationen, zum Beispiel Prüfungen, Stolperfallen aufbaut, etwa durch mangelnde Vorbereitung, will meist den eigenen Selbstwert schützen. Es hilft deshalb nicht, an der Drucksituation selbst anzusetzen. Besser ist, den Selbstwert generell zu stärken – etwa indem man sich häufiger vor Augen hält, was man alles gut kann, was bereits alles gelungen ist. Dies kann man auch in Form von Hilfssätzen formulieren wie „Ich bin ein guter Vater und Hobbyfußballer“ oder „Ich bin fähig in meinem Job und habe musikalisches Talent“. Dieser Blick auf das Spektrum der Bereiche, in denen es gut läuft, lindert den Erfolgsdruck in Leistungssituationen.
Nicht zeigen, was man kann
Eng mit dem self-handicapping verwandt ist das „Minderleisten“ oder underachievement, das häufig im Zusammenhang mit Hochbegabten untersucht wurde. Es bezeichnet Verhaltensweisen, bei denen Menschen in ihren Entscheidungen, in der Art der Herausforderungen, die sie sich suchen, und in dem, was sie real leisten, weit unter dem bleiben, was eigentlich bei ihren Fähigkeiten zu erwarten wäre.
Der amerikanische Psychologe Kenneth W. Christian arbeitet seit Jahren mit Menschen, die dieses „selbstbegrenzende“ Verhalten an den Tag legen. In seinem Sachbuch Your Own Worst Enemy beschreibt er etwa eine eloquente Einser-Abiturientin, die nicht studiert, sondern viele Jahre herumjobbt und irgendwann den Anschluss an eine Karriere verpasst. Er schildert das Berufsleben eines brillanten IT-Fachmanns, der eine halsbrecherische Unternehmung nach der anderen startet – und immer wieder in Konkurs geht. Vorgestellt wird ferner eine begabte Künstlerin, die nach den ersten Erfolgen sofort aufhört zu malen. All diese Menschen sabotieren ihren Lebensweg dadurch, dass sie nie die Herausforderungen suchen, die zu ihren Talenten und ihrem Leistungsniveau passen. Viele setzen sich keine oder derart unerreichbar hohe Ziele, dass sie zwangsläufig scheitern müssen. Hinter diesen oft fatalen Fehlentscheidungen steht auch das Thema Selbstwertschutz. Wer sich keine oder zu hohe Ziele setze, der vermeide, seine Leistung auf einem realistischen Level „messbar“ zu machen und zu zeigen – weil er Angst hat, Fehler zu machen oder zu scheitern, erklärt Christian. Ähnlich wie die Selbstbehinderer wollen „Minderleister“ einfach nicht, dass eine Niederlage tatsächlich ihren Selbstwert trifft. Deshalb probieren sie sich auch nicht in dem Bereich aus, der ihr tatsächliches Leistungsspektrum fordern würde.
Die bei „Underachievern“ wirksamen Mechanismen lassen sich gut durch eine klassische Studie zum Selbstwert von Stanley Coppersmith von der University of California erklären: Der Entwicklungspsychologe forderte Kinder auf, Bälle in einen Clownsmund zu werfen. Dabei konnten die Kinder die Entfernung beim Werfen selbst wählen. Es zeigte sich, dass einige Kinder sich ganz nah vor den Clownsmund stellten und alle Bälle einfach hineinkippten. Andere Kinder stellten sich in die hinterste Ecke des Raums; die Distanz war so groß, dass sie kaum Treffer erzielten. Und es gab Kinder, die sich irgendwo in die Mitte stellten – manchmal trafen und manchmal nicht. Interessanterweise zeigte sich, dass die Kinder, die sich extreme Bedingungen wählten, alle einen geringeren Selbstwert hatten als die Kinder, die eine mittlere Entfernung bevorzugten. Die Kinder, die eine zu kurze oder eine zu weite Entfernung aussuchten, zeigten also das Verhaltensmuster von Underachievern: Sie bleiben entweder unter ihren Möglichkeiten, oder sie stellen sich so hohe Herausforderungen, dass sie nur scheitern können.
Was tun?
Wer ein solches Verhalten an sich bemerkt, dem helfen zunächst ähnliche Taktiken wie den Selbstbehinderern: Der erste Schritt ist, das eigene Verhalten besser zu verstehen, dann den Selbstwert zu stabilisieren, eine übermäßige Leistungs- und Konkurrenzorientierung abzubauen. Bei den Minderleistern geht es laut Kenneth Christian aber noch um etwas anderes: Sie sollten sich klarmachen, dass es wertvoll ist, persönliche Ziele zu formulieren, die zu ihren Talenten passen, und diese zu verfolgen. Denn obwohl viele der Betroffenen, die Christian in seinem Buch vorstellt, von sich sagen, dass ihnen Erfolg nicht so wichtig sei, sie zunächst alle wie sympathische Lebenskünstler wirken, so leiden sie doch oft zutiefst: weil sie Chancen verpassen, ihr Leben nicht aktiv gestalten und ihr eigenes Verhalten nicht als „wirksam“ erleben. Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit trägt aber entscheidend zu unserer Lebenszufriedenheit bei. Vielen „Minderleistern“ hilft deshalb eine Neuausrichtung ihrer beruflichen und privaten Ziele. Und die Einsicht, dass es sich lohnt, sich für diese einzusetzen.
An sich zweifeln
Eine weitere Form der Selbstsabotage ist das sogenannte „Hochstaplersyndrom“ oder impostor syndrom. Die Arbeitspsychologin Mirjam Zanchetta von der Universität Salzburg untersucht dieses Phänomen. Betroffene liefern beste Leistungen ab, werden auch von anderen im Beruf oder privat oft als fähig bewertet, sind aber innerlich davon überzeugt, dass sie eigentlich nichts können. Viele „Hochstapler“ äußern immer wieder die Vermutung, dass sie durch „einen Irrtum“ auf einer guten beruflichen Position oder in einer liebevollen Beziehung gelandet sind. Anders als beispielsweise Selbstbehinderer sind Impostors oft perfektionistisch, versuchen jeden Fehler zu vermeiden, damit ihre vermeintliche Unfähigkeit nicht auffällt.
„Wir haben in Studien festgestellt, dass die Impostors in sozialen Situationen oft hohe Angstwerte und Unsicherheiten zeigen, viel subjektiven Stress erleben“, sagt Zanchetta. Diese emotionale Belastung sei wahrscheinlich auch der Grund, warum „Hochstapler“ sich im Beruf irgendwann nachweislich selbst sabotieren: Sie lehnen oft höhere Positionen ab, handeln für sich keine guten Gehälter aus, wollen keine Führungsaufgaben übernehmen. Auch prestigeträchtige Projekte, die viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, meiden sie. Die entsprechend größere Verantwortung weckt ihre Ängste. „Impostors hören irgendwann auf, sich positiv weiterzuentwickeln. Sie stagnieren“, sagt Zanchetta.
Was tun?
Zusammen mit der Psychologieprofessorin Eva Traut-Mattausch hat Zanchetta ein Coachingprogramm entwickelt, in dem Menschen mit Tendenzen zum Impostor-Syndrom lernen, mit ihrer Angst vor Fehlern und ihren Unsicherheiten in sozialen Situationen umzugehen. Im Coaching wird zum einen „Fehlerfreundlichkeit“ trainiert. Zum anderen bekommen Betroffene immer wieder gezielte Rückmeldungen von Vorgesetzten oder Angehörigen über die eigenen Leistungen und Fähigkeiten. In einem Teil des Coachings lernen sie außerdem, eigene Erfolge zu benennen, sich klarzumachen, wie sehr sie mit ihrem eigenen kompetenten Verhalten häufig zum Gelingen sozialer und beruflicher Situationen beitragen. Sie bekommen also ein deutlicheres Gefühl für ihre „Selbstwirksamkeit“.
Neben einem Coachingprogramm kann es manchen Menschen, die sich zu klein machen, aber auch helfen, sich eigene familiäre Prägungen anzuschauen – und sich bewusstzumachen, inwiefern diese zu Blockaden beitragen. Denn: „Es spricht einiges dafür, dass Menschen sich in ihrem Verhalten und Erleben stark von dem beeinflussen lassen, was in der Familie vorgelebt wird“, sagt Miriam Zanchetta.
Familienaufträge
Manchmal geht der Einfluss der eigenen Familie sogar noch weiter: Bestimmte Familienkonstellationen oder Prägungen durch vorangegangene Generationen können dazu beitragen, dass Menschen sich auf destruktive Weise im Weg stehen. Davon sind vor allem Psychoanalytiker überzeugt, etwa die Französin Anne Ancelin Schützenberger. Sie gilt als Expertin für transgenerationale unbewusste Loyalitäten, beschäftigt sich also mit der Frage, wie Schicksalsschläge in Familien, Kriegstraumata oder Verhaltensaufträge, die von einer Generation zur anderen weitergegeben werden, auf das Verhalten Einzelner wirken können. So fällt es manchen Menschen schwer, in erfüllten Beziehungen zu leben, weil sie diese in ihrer Familie bisher nicht erleben konnten. Oder sie sabotieren schöne Momente in ihrem Leben, weil es in der Familie schwere Kriegstraumata gibt und sie das Gefühl haben, nicht als einzig Glückliche aus der Reihe scheren zu dürfen. „Jeder ist geneigt, sich an den Geist, die Logik, die Hoffnungen und Erwartungen seiner Gruppe, also Familie anzupassen“, schreibt Schützenberger.
Besonders deutlich belegen diese Zusammenhänge Fallstudien zur sogenannten Klassenneurose. Diese besagt, dass es für einen „guten“ Sohn, eine „gute“ Tochter schwierig ist, das Niveau der Ausbildung oder das Gehalt des Vaters oder der Mutter zu übertreffen. Schützenberger schreibt: „Es kann schon sein, dass der Sohn oder die Tochter dann am Vorabend eines Examens krank wird oder einen Unfall hat, oder sie bekommen einen Blackout, obwohl sie eigentlich gute Studierende oder Schüler sind.“
Was tun?
Es kann erleichternd sein, solche unbewussten Loyalitäten zu erkennen, die damit verbundenen, scheinbar unerschütterlichen Gebote und Verbote zu hinterfragen: Will und darf man den eigenen Vater wirklich nicht übertrumpfen? Darf man nicht glücklicher sein als Verwandte aus vorhergehenden Generationen? Muss man für das vermeintlich benachteiligte Geschwisterkind tatsächlich zurückstecken? Wer Licht ins Dunkel der eigenen Familiengeschichte bringt, kann sich oft von den dort wirkenden Blockaden befreien. Schützenberger rät ihren Klienten, vor allem bei Wiederholungen wachsam zu sein: Lebt man scheinbar vollkommen widersinnig Muster aus der Geschichte der eigenen Eltern oder Großeltern nach, etwa unglückliche Beziehungen, obwohl man sich für sich etwas anderes gewünscht hat? Oder wiederholen sich im eigenen Lebenslauf bestimmte Sabotageakte wie Unfälle, „Missgeschicke“ oder Zerwürfnisse? Wiederholungsmuster sind oft ein Gradmesser für das Ausmaß der Verstrickung, so Schützenberger. Wer beim Lesen nun Dynamiken dieser Art erahnt, kann das mit Verhaltenstipps allein nicht auflösen. Eher hilft dann eine Psychotherapie.
Ambivalenzen ausblenden
Neben tiefen Mechanismen gibt es aber auch noch ein paar ganz alltägliche, allgegenwärtige Gründe für Selbstsabotage: „Wir sind letztlich immer anfällig, wenn es in uns zwei gegenläufige Tendenzen gibt“, sagt Rainer Sachse. Sobald wir in einer Situation eine Ambivalenz erleben und uns für die eine Seite entscheiden, sabotieren wir quasi die andere. Das Leben ist voller solcher Widersprüche: Wenn wir eigentlich abnehmen wollen, aber Appetit auf Torte haben, dann müssen wir uns zwischen einem langfristigen Ziel und unserer kurzfristigen Lust entscheiden. Wenn wir uns anderen mehr öffnen wollen, aber glauben, „stark sein zu müssen“, dann ringt ein Entwicklungswunsch mit einem bisherigen Verhaltensmuster.
Was tun?
Dass Ambivalenzen und damit letztlich „Stolpersteine“ unserer Weg pflastern, ist kein Grund zu verzweifeln. Sie wahrzunehmen ist vielmehr eine Chance, uns jeweils bewusster zu entscheiden – und damit auch oft konstruktiver. Damit das gelingt, ist aber noch ein anderer Schritt wichtig: Wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass Selbstsabotage zum Leben gehört.
So können wir mögliche Fallstricke schneller erkennen, aktiver und verantwortungsbewusster handeln. Die dadurch entstehende Handlungsfähigkeit bringt positive Entwicklungen in Gang. Sie vermindert die Wahrscheinlichkeit der Selbstsabotage – in jeder Form.
Literatur
Anne Ancelin Schützenberger: Oh, meine Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2012
Kenneth W. Christian: Your Own Worst Enemy. Breaking the Habit of Adult Underachievement. Harper, New York 2004