In meiner Praxis dürfen Klienten zu Beginn einer jeden Stunde wählen, ob sie die Sitzung lieber im Raum oder in der Natur verbringen möchten. Ich beziehe Naturerfahrungen in die Psychotherapie mit ein, weil Menschen draußen in Kontakt mit dem Lebendigen kommen – und somit auch mit den lebendigen und gesunden Anteilen in sich selbst.
Auf einem dieser therapeutischen Spaziergänge klagte meine Klientin Frau B.: „Wegen mir und meiner Angststörung muss mein Mann jetzt auch noch auf einen Asienurlaub verzichten.…
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und meiner Angststörung muss mein Mann jetzt auch noch auf einen Asienurlaub verzichten. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil er so gern geflogen wäre und es nur mir zuliebe bleiben lässt. Ich will ihn doch nicht so einschränken!“ Ich fragte sie, ob ihr Mann wirklich verzichten müsse oder ob er sich aus freien Stücken dafür entschieden habe. „Er sagt, dass seine Entscheidung für ihn in Ordnung ist, aber das glaube ich ihm nicht.
Mir wäre es lieber, wenn er es nicht nur mir zuliebe machen würde, sondern aus eigener Motivation.“ „Und könnte die eigene Motivation nicht auch sein, dass er mit Ihnen gemeinsam so verreisen will, dass beide sich wohlfühlen?“ Die Klientin überlegte kurz. „Ich kann es ganz schlecht annehmen, wenn Leute mir einen Gefallen tun wollen. Ich denke dann immer, dass ich den Aufwand nicht wert bin und die anderen mich überschätzen.“
Von der Natur beschenken lassen
Bei einer genaueren Erkundung dieses Phänomens erinnerte sich Frau B. daran, dass es in ihrer Herkunftsfamilie üblich war, für jeden Gefallen eine Gegenleistung zu erbringen. Eine Tante habe sogar explizit Gegenleistungen für Geschenke eingefordert – was die Klientin in ihrer Jugend dazu bewogen hatte, auf die Geschenke dieser Tante zu verzichten. Heute kümmert sich Frau B. viel um andere, ihr selbst falle es aber schwer, Geschenke, Gefälligkeiten oder Komplimente anzunehmen.
Von ihrer Biografie wusste ich, dass die Klientin in ihrer Kindheit gravierende Mängel erlitten hatte: großen materiellen Mangel, Mangel an Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Als ob sie diesen unterversorgten Zustand weiter aufrechterhalten wollte, versagte sie sich jetzt als Erwachsene unbewusst die Geschenke, die ihr ein neues Lebensgefühl der Fülle bescheren könnten.
Mir fiel auf, dass sie auch auf dem Spaziergang schon an vielen Geschenken achtlos vorbeigegangen war. Während Frau B. ganz von ihren Problemen eingenommen schien, hatte ich schöne Lichtstimmungen wahrgenommen, den würzigen Duft der Herbstblätter, das samtgrüne Moos unter den Fichten und vieles mehr. Also schlug ich vor: „Wie wäre es, wenn Sie mal versuchen würden, sich von der Natur beschenken zu lassen? Der Wald hat viel zu geben und verlangt auf keinen Fall eine Gegenleistung. Sie könnten einfach in einer empfangsbereiten Haltung losgehen und mal schauen, was auf Sie zukommt.“ Die Klientin willigte ein und machte sich neugierig auf den Weg.
Der innere Saboteur verstummt
Ich folgte ihr in großem Abstand, damit sie sich unbeobachtet fühlen und leichter ihren Impulsen folgen konnte. Aus der Ferne sah ich sie quer durch den Wald streifen, hin und wieder stehenbleiben und sich manchmal nach irgendetwas bücken. Schließlich traf ich sie am Waldrand wieder. Frau B. berichtete lächelnd von den Geschenken, die sie von der Natur erhalten hatte: innere Ruhe, schöne Lichtspiele, einen reifen Apfel und die kleine blaue Feder eines Eichelhähers. Ich fragte, wie sie sich angesichts dieser Gaben fühle. „Ich fühle mich als etwas Besonderes. Wie eine Königin.“ Erst da fiel mir auf, dass der Tonfall ihrer Erzählung tatsächlich etwas Majestätisches hatte. Als ob sie es für selbstverständlich hielte, so reich beschenkt zu werden.
Für einen kurzen Augenblick konnte sie die neue Erfahrung zulassen, ohne sich schuldig und unwert zu fühlen. Doch dann begrenzte sie sich schnell wieder: „Ich will aber nicht zu egoistisch werden.“
Die Sitzung wirkte offenbar gut nach. Beim nächsten Treffen berichtete sie, dass sie die Augen für weitere Geschenke offengehalten habe. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit habe sie positives Feedback ihrer Kolleginnen annehmen können, ohne bei sich zu denken: „Wenn die wüssten, wie ich wirklich bin!“ Die Stimme dieses „inneren Saboteurs“ habe sie gut in die Schranken verweisen können. Auch ihr Mann unterstütze ihr „Königinnengefühl“ und mache ihr kleine Geschenke. Bei der Öffnung für dieses Thema stoße sie bei sich aber auch auf starke negative Überzeugungen wie etwa „Das darf man nicht“ oder „Wer so egoistisch ist, der wird von allen verlassen“.
Überrascht war ich, als Frau B. beiläufig erwähnte, dass sie aufgehört habe, jeden Abend Wein zu trinken. Aktuell falle es ihr ganz leicht, gar keinen Alkohol mehr zu trinken. Ich stellte eine vorsichtige Vermutung an: „Vielleicht können Sie ihren Liebesmangel nun anderweitig auffüllen, so dass die Betäubung und orale Befriedigung durch den Alkohol nicht mehr nötig ist?“
Eine recht interessante Wendung in der nächsten Sitzung ergab sich daraus, dass Frau B. Informationen zum Eichelhäher recherchiert hatte. Sie berichtete, dass er als Sinnbild für Schutz gelte und sie sich nun durch die gefundene Feder noch reicher beschenkt fühle. Wir unterhielten uns kurz über die Lebensweise des Eichelhähers, wobei ich einige biologische und mythologische Details beisteuerte. Schließlich gipfelte das Thema in der Frage, wie sie sich heute selbst Schutz geben könnte. Die Öffnung für die Geschenke der Natur war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr Selbstliebe und Heilung für sie geworden.
Sandra Knümann ist Diplompädagogin für Erwachsenenbildung, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Achtsamkeitslehrerin und Naturtherapeutin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der entwicklungsfördernden und heilsamen Wirkung des achtsamen Naturerlebens
Sandra Knümanns Buch Naturtherapie. Mit Naturerfahrungen Beratung und Psychotherapie bereichern ist bei Beltz erschienen (203 S., € 36,95)