Herr Konrad, wie haben Sie für sich das Gedächtnistraining entdeckt?
Als Abiturient sah ich in einer Fernsehshow den damaligen deutschen Gedächtnismeister Gunther Karsten. Verblüfft von den gezeigten Techniken und ihren Effekten, wollte ich sie für meine bevorstehenden Prüfungen nutzen. Das hat prima geklappt. Auch beim Studium halfen sie mir enorm: Ich absolvierte zwei Studiengänge, Physik und Informatik, in der Zeit von einem und hatte noch jede Menge Zeit für mein neues Hobby, den Gedächtnissport.
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in der Zeit von einem und hatte noch jede Menge Zeit für mein neues Hobby, den Gedächtnissport.
Darin haben Sie Außerordentliches erreicht: Sie sind siebenfacher Weltmeister im Team und verzeichnen vier Guinness-Weltrekorde. Jenen im Namenmerken haben Sie kürzlich selbst überboten: Sie merkten sich 104 Namen zu den passenden Gesichtern in fünf Minuten. Das ist beeindruckend. Andererseits fragt man sich, warum Sie sich das geben.
Spiel, Spaß, die Herausforderung sind mein Antrieb. Und der stetige Anreiz, zu probieren, was geht, eigene Grenzen immer weiter zu verschieben.
Und wie kamen Sie dann zur Forschung?
Die vielen Gedächtnisratgeber, die ich las, konnten mir nicht wirklich erklären, wie das Gedächtnis funktioniert und warum die Methoden helfen. Je mehr ich in die Thematik einstieg, desto mehr Fragen warf sie auf. So beschloss ich, nach meinem Studienabschluss die Fachrichtung zu wechseln. Ich promovierte in Psychologie. Im Rahmen meiner Doktorarbeit untersuchte ich die Gehirne der weltbesten Gedächtnissportler.
Unterscheiden diese sich von Gehirnen untrainierter Menschen?
Anatomisch ist im Vergleich zu anderen Menschen kein Unterschied feststellbar. Oder andersherum: Jeder hat das Potenzial!
Also kann jeder sein Gedächtnis trainieren. Wie?
Nicht wie einen Muskel, sondern wie ein neuronales Netzwerk, das es ja auch ist. Beim Muskeltraining ist es doch so: Je häufiger Sie eine Übung wiederholen, desto stärker wird der betroffene Muskel. Doch Sie können Ihre neue Bank-PIN ein Dutzend Mal wiederholen, vorm Vergessen schützt Sie das eher wenig. Beim Gedächtnis kommt es auf das Verankern an, zum Beispiel mithilfe von Merktechniken. Sie arbeiten dem Gedächtnis zu, verpacken Inhalte gemäß seinem Funktionsprinzip.
Im einfachsten Merksystem für Zahlen erhält jede Zahl ein ihr ähnliches Bild oder eine logische Zuordnung. Ich arbeite mit folgender: 1 = Kerze, 2 = Schwan, 3 = Dreizack, 4 = Auto, 5 = Hand, 6 = Würfel, 7 = Sense, 8 = Schneemann, 9 = Blume, 0 = Reifen. Anstelle von Zahlen merken Sie sich nun die entsprechenden Bilder. Verknüpfen Sie diese durch eine Geschichte. Nehmen wir zum Beispiel die PIN-Nummer 2478: Ein Schwan läuft vor ein Auto, entgeht knapp der Sense und sucht daraufhin Trost beim Schneemann. Wie absurd und sinnfrei Ihre Geschichten auch sind, das ist egal. Wichtig ist, sie sich wirklich vorzustellen. Je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. So entstehen neue neuronale Verbindungen. Um diese Inhalte langfristig zu nutzen, sind weitaus weniger Wiederholungen nötig als sonst.
Dennoch erscheint solch eine Methode umständlicher, als sich die PIN-Nummer direkt zu merken.
Stimmt. Aber so aktivieren wir mehrere Gedächtnissysteme und Gehirnregionen, wodurch wir die PIN viel länger im Gedächtnis behalten. Das ist, über den situativen Nutzen hinaus, zudem nachhaltiges Training. Und wir vermögen noch mehr: Wenn ich in einem Turnier eine Zahl mit 300 Stellen in fünf Minuten verinnerliche, ist das kein Wunderwerk, sondern Technik. Zwar funktioniert das nicht mit der Methode, die ich eben skizziert habe, doch vom Prinzip her sind auch Gedächtnistechniken für längere Zahlengruppen ähnlich. Bei allen effizienten Gedächtnismethoden gilt es, sich zuerst die Technik anzueignen, in unserem PIN-Nummer-Beispiel die Zuordnung von Ziffer und Bild. Im Gedächtnissport werden es dann nur noch mehr Bilder. Das ist die Investition, der Gewinn ist immens.
Wie funktioniert das Gedächtnis grundsätzlich?
Unser Gehirn codiert in Nervenzellen und -bahnen Informationen. Diese sind ständigen Änderungen unterworfen, weil jeder Neuzugang an Information alle bestehenden tangiert und alte zum Teil auch überschreibt. Die Vorstellung, eine Erinnerung würde gleich einer Datei in unserem Gehirn abgespeichert, die bei Bedarf wieder unverändert geöffnet werden kann, ist falsch. Erinnerungen werden stets neu rekonstruiert. Wenn man grob versteht, dass Gedächtnis und Lernen stets Abstraktion und Rekonstruktion bedeutet, ist klar, dass auch das Vergessen dazugehört. Und das ist gut so. Denn es macht uns lern- und anpassungsfähig. Mal den Schlüssel zu verlegen ist dafür ein geringer Preis. Wenn eine jahrelang nicht gebrauchte Erinnerung genauso schnell wieder aktiviert werden würde wie eine täglich abgerufene, wären wir kaum zu schnellem Handeln fähig.
Warum erinnern sich dann alte Menschen oft präzise an weit Zurückliegendes und nur schlecht an gestern?
Zum Älterwerden gehört das Nachlassen der Verbindungen zwischen Nervenzellen. Das trifft insbesondere Bereiche, die für die Aufnahme neuer Inhalte wichtig sind, wie den Hippocampus. Daher wird die Aufnahme neuer Informationen schlechter, während auf schon lange gespeicherte noch weiter zugegriffen werden kann. Dennoch ist die Aussage falsch, dass das Gedächtnis im Alter immer schlechter werde, denn manches wird sogar immer besser. Klar, die Lerngeschwindigkeit nimmt ab: Bei einer Aufgabe zum Wörtermerken schaffen Studenten durchschnittlich 25 Wörter, die Vergleichsgruppe von Senioren nur 15. Mit Gedächtnistraining können sie aber schnell auf 30 kommen und somit besser abschneiden als untrainierte Studenten.
Da das Gedächtnis verknüpfend lernt, können Menschen im Alter auf mehr Erfahrung und Wissen zurückgreifen. Der Erfahrungsschatz führt im Gehirn zu anderen Verschaltungen. Die Aufnahme unzusammenhängender Inhalte, wofür auch der Hippocampus zuständig ist, wird schlechter. Dafür werden durch das größere Wissensnetz neue Informationen direkter und besser ins Langzeitgedächtnis integriert. Im Grunde passt sich das Gehirn dem an, was in der jeweiligen Lebensphase gefordert ist: Als Kind ist schnelles Lernen existenziell, im Alter sind andere Parameter wichtiger.
Es gilt: Je mehr neuronale Verknüpfungen angelegt sind, desto weniger tut es im wahrsten Sinn Abbruch, wenn einige fehlen. Denn das Gehirn vermag Umleitungen zu legen. Fallen Brücken weg, legt es neue Trassen über entsprechende neuronale Verknüpfungen. Das wahre Kapital des Alters ist: Je mehr neuronale Verknüpfungen angelegt sind, desto besser. Das ist die sogenannte kognitive Reserve.
Es heißt, wir haben viele Reserven, wir können sie nur nicht erschließen und nutzen nur einen Bruchteil der Kapazitäten unseres Gehirns.
Das stimmt so nicht. Selbstverständlich nutzen wir alle unser gesamtes Gehirn und nicht nur zehn Prozent oder einen sonstigen Anteil. Diese Energieverschwendung könnten wir uns gar nicht leisten. Unser Gehirn besteht aus 15 Prozent Fett, 10 Prozent Proteinen und zu 75 Prozent aus Wasser. Mit seinem Zwei-Prozent-Anteil am Körpergewicht verbraucht es satte 20 Prozent der verfügbaren Energie. Doch die Kapazität jenes Gedächtnissystems, das für abstrakte Inhalte zuständig ist, ist im Vergleich zu anderen klein. Hingegen ist beispielsweise der Speicher für visuelle Inhalte sehr groß. Aber der nimmt nicht automatisch Zahlen oder Fakten auf, nur weil wir sie sehen. Ein sogenanntes fotografisches Gedächtnis gibt es nicht.
Bedenken Sie, was bis vor wenigen tausend Jahren für unsere Vorfahren relevant war: Namen merken? Die Unterscheidung von Freund oder Feind genügte. Vokabular? Eher gering. Aber zu wissen, wo es Schutz gab und Nahrung und wo Gefahr drohte, war überlebenswichtig, genauso wie die Fähigkeit, als Nomade den Weg durch die Steppe zu meistern. Orte sind für das Gedächtnis relevant. Neurowissenschaften und angewandte Psychologie zeigen, dass mit Orten verbundene Inhalte besser gespeichert werden. Wer Vokabeln immer im gleichen Zimmer lernt, erinnert sich in diesem Zimmer besser an das Gelernte als anderswo.
Stimmt es denn auch, dass wir uns manchmal an etwas Vergessenes erinnern, wenn wir dorthin zurückgehen, wo es uns vorher eingefallen war?
Ja, in der Küche weiß man wieder, warum man gerade im Keller war, wo einem nicht mehr einfiel, was man holen wollte. Auch hier zeigt sich die Verknüpfung von Ort und Erinnerung. Spannend für mich ist, dass wir das nutzen können, um unser Gehirn so zu füllen, wie es gedacht ist, und damit schwierige Inhalte leicht merkbar zu machen. Daher ist die Routenmethode, auch Loci-Methode genannt, Schwerpunkt des Gedächtnistrainings, wie ich es praktiziere und in Seminaren weitergebe.
Was ist das für eine Methode?
Wir erzeugen Abrufstrukturen, die dem semantischen Gedächtnis entgegenkommen. Zum Einstieg in die Technik empfehle ich einen imaginären Spaziergang durch die eigene Wohnung. Denken Sie an Ihre Eingangstür. Stellen Sie sich vor, Sie machen die Tür auf und schauen bei sich hinein. Sie werden eine Menge Details erkennen. Vielleicht ist wieder mal nicht aufgeräumt! Dieses Beispiel zeigt: Es fällt uns nicht sonderlich schwer, uns räumliche und visuelle Informationen zu merken.
Wie wird daraus eine Gedächtnistechnik?
Erstellen Sie sich eine Route mit 50 Wegpunkten bei sich zu Hause. ZieI ist, dass Sie anschließend eine Abfolge von 50 Dingen und markanten Punkten auswendig wissen und sich vorstellen können. Sie brauchen Sie nicht wie ein Foto vor dem inneren Auge zu sehen, es genügt zu wissen, welche Punkte nacheinander kommen und wie es jeweils räumlich weitergeht. Fangen Sie bei der Wohnungs- oder Haustür an. Das ist Nummer eins. Was steht daneben, vielleicht eine Garderobe? Das ist Nummer zwei. Und so weiter. Schließen Sie nach zehn Punkten die Augen und gehen alle bisherigen Punkte vor dem inneren Auge durch. Erst wenn Sie mit 50 Punkten fertig sind, schreiben Sie diese aus dem Gedächtnis auf.
Machen Sie es sich einfach mit eindeutigen Punkten. Die Spüle in der Küche und das Waschbecken im Bad aufzunehmen ist kein Problem, wohl aber drei gleiche Türen, die alle von einem Flur abgehen. Bleiben Sie in einer logischen Reihenfolge. Gruppieren Sie zehn Punkte in einem Zimmer oder einer Richtung. Dann können Sie die Liste später auch blockweise für unterschiedliche Themen nutzen, ohne alle vorherigen Punkte durchlaufen zu müssen. Legen Sie nicht mehr als 50, aber auch nicht weniger als 20 Punkte einer Route an.
Diese Route ist dann vielseitig einsetzbar: zum Behalten von komplexen Inhalten, aber auch im Alltag, zum Beispiel als Einkaufsliste. Dazu verbinde ich die Wegpunkte mit komischen oder ungewöhnlichen Szenarien, die für zu merkende Inhalte stehen. Etwa, dass ich eine Milchtüte gegen die Tür werfe und sie platzt, Toastbrot auf die Garderobenhaken spieße, das Schuhregal mit Käse belege. Von Vorteil ist, Handlungen in die Szenarien einzubauen. Denke ich später an meine Route und die Bilder dort, weiß ich auch wieder, was ich noch einkaufen muss.
Wie lange bleiben die Bilder in Erinnerung?
Einkaufslisten wollen Sie natürlich nicht ewig im Kopf behalten. Um etwas dauerhaft zu behalten, sind Wiederholungen nötig. Ansonsten sind die Bilder noch einige Stunden und in den nächsten Tagen da. Dann verblassen sie, und die Wegpunkte können neu belegt werden. Bis dahin nutzen Sie die noch „unbelegten Räume“ oder konstruieren eine weitere Route, vielleicht auf Ihrem Lieblingsspaziergang oder in Ihrem Lieblingsfilm. Sie brauchen dafür rund eine Stunde Zeit, doch der Nutzen ist sensationell. Durch das Erlernen der Technik ist gleich eine Verbesserung möglich. Durch weiteres Training wird daraus eine echte Fähigkeit. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass diese Bilder direkt mit Langzeitgedächtnisstrukturen verbunden sind. Derzeit untersuchen wir, wie wir dies mit anderen Modellen aus der Gedächtnisforschung zusammenbringen.
Dr. Boris Nikolai Konrad ist mehrfacher Weltmeister im Gedächtnissport und hat vier Guinness-Weltrekorde aufgestellt. Konrad forscht derzeit am Donders Centre for Cognitive Neuroimaging im niederländischen Nimwegen. Sein jüngstes Buch Alles nur in meinem Kopf ist 2016 im Ariston-Verlag erschienen.