Charles Darwin war bereit, zu seiner großen Reise mit dem Forschungsschiff Beagle aufzubrechen. Aber beinahe wäre die Expedition gescheitert, bevor sie begann. Ein Kapitän der Royal Navy befand, ein Mensch mit einer solchen Nase, wie sie Darwins Gesicht ziere, könne unmöglich wissenschaftlicher Begleiter einer so wichtigen Unternehmung sein. Die darwinsche Gesichtsknolle sei ein untrügliches Zeichen für „fehlende Zielstrebigkeit und Energie“. Zum Glück wurde der Kapitän überstimmt, und Darwin konnte das…
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Darwin konnte das Material für seine Evolutionstheorie sammeln.
Im 19. Jahrhundert stützte sich so manches Urteil über den Charakter eines Menschen auf die pseudowissenschaftliche Lehre der Physiognomik. An Kopfform, Stirnhöhe, Mundbreite oder Nasenformat wollte man Eigenschaften wie etwa Willenskraft, Charakterstärke und Intelligenz ablesen. Die Physiognomik als Charakterkunde ist wissenschaftlich längst ad acta gelegt. Die Größe eines Gesichtserkers mag unser Urteil nicht mehr so sehr beeinflussen, wir leben ja in modernen Zeiten. Aber über Sympathie oder Antipathie, über Ablehnung und Akzeptanz entscheiden immer noch unbewusste, unreflektierte und vor allem sehr schnell ablaufende Prozesse in unserem Kopf. Unsere Beziehungen im Privatleben und im Beruf bauen auf Urteilen über unsere Mitmenschen auf. Auch als Wähler oder Konsumenten, als Nachbarn oder Kollegen wird unser Verhalten maßgeblich davon beeinflusst, wie wir andere spontan wahrnehmen.
Gibt es für den ersten Eindruck tatsächlich keine zweite Chance?
Einer der Pioniere der modernen Sozialpsychologie, Solomon Asch, ließ sich bereits vor 70 Jahren von der Psychologie des ersten Eindrucks faszinieren. Ihm fiel auf, wie wenige Informationen wir benötigen, um über Unbekannte zu urteilen. Ein Blick, ein paar Worte reichen, und wir glauben, einen Fremden zu kennen. Vor unserem inneren Auge entstehe „mit beeindruckender Geschwindigkeit und großer Leichtigkeit“ ein klares, plausibles Bild, notierte Asch 1946. Inzwischen taucht der Spruch „Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance“ wie selbstverständlich in Bewerbungsratgebern und in Personalerkreisen auf und wurde in zahlreichen Experimenten wissenschaftlich geadelt.
Zum Beispiel zeigte die amerikanische Sozialpsychologin Nalini Ambady in einer Serie von Experimenten, dass schon minimale Verhaltensausschnitte ein Maximum an Urteilssicherheit bringen können. Sie führte ihren Testpersonen nur wenige Sekunden lange Filmclips von Menschen vor (im Schlüsselexperiment waren es stumme Filmausschnitte von Lehrern, die vor ihrer Klasse agierten), deren berufliche Qualifikationen oder sonstige Performance beurteilt werden sollten. Und tatsächlich – Urteile, die auf dieser extrem schmalen Informationsbasis (also dem flüchtigen ersten Eindruck) gefällt wurden, deckten sich in manchen Experimenten weitgehend mit sehr ausführlich und über lange Zeiträume erstellten Gutachten.
Die implizite Botschaft der sogenannten thin slicing-Experimente (etwa: dünne Scheibe) war: Wozu großen Aufwand bei der Beurteilung von Menschen treiben, wenn diese doch schon in wenigen Sekunden ihren wahren Charakter oder ihre Befähigung für einen bestimmten Job offenbaren? Verlassen wir uns doch auf die Intuition, auf das sekundenschnelle Urteil – wird schon stimmen!
Schnell bedeutet nicht gleich zuverlässig
Auch der Paartherapeut John Gottman trug zum Glauben an die Macht des ersten Eindrucks bei. Er konnte anhand weniger kurzer Episoden, Signale und Gesten in der Interaktion von Paaren erstaunlich zuverlässig prognostizieren, ob und wann diese Paare sich trennen werden. Und schließlich schilderte der Journalist Malcolm Gladwell in seinem Bestseller Blink! zahlreiche Beispiele für zutreffende Blitzdiagnosen, sogenannte snap assessments. Schnellurteile seien eine Sache des Augenblicks (blink ist das englische Wort für Augenaufschlag), und sie seien in vielen Fällen oft den langwierig erstellten Gutachten von Experten überlegen, so Gladwells Fazit.
Einige hundert Experimente später muss die Annahme revidiert werden, dass schnell auch gleich gut und zuverlässig ist. Wir können uns in Sachen Menschenkenntnis und Fähigkeitsdiagnosen nicht immer auf die Intuition verlassen. Eine Überprüfung vieler thin slicing-Experimente zeigte, dass komplexere Aussagen über Menschen wesentlich mehr Zeit erfordern, als die spektakulären Ergebnisse der ersten Experimente suggerierten. Auch ist die Fehlerquote bei schnellen ersten Urteilen umso höher, je anspruchsvoller das Persönlichkeitsprofil sein muss. Ob jemand wirklich kreativ, offen, kooperativ oder „schwierig“, akribisch oder kritisch ist, zeigt sich erst nach sorgfältiger Prüfung.
Auch John Gottman stellte richtig, dass er zwar relativ schnell erkennen könne, ob eine Ehe Bestand haben werde. Aber dafür brauche auch er mehrere Minuten (keineswegs Sekunden), um die Zeichen richtig zu erkennen und zu deuten. Und seine Fähigkeit beruhe auf Tausenden sorgfältig ausgewerteter Studien und Langzeitbeobachtungen. Seine Einschätzungen sind also alles andere als schnelle Schüsse aus der Hüfte, sondern das Ergebnis von aufwendiger Langzeitforschung. Gottman empfiehlt ausdrücklich, sich als Therapeut mindestens zwei volle Tage (nicht 2 Sekunden, nicht 2 Minuten und auch nicht 20 Minuten) Zeit zu lassen, bevor überhaupt eine Prognose über die Beziehung ausgesprochen wird.
Gerade weil wir zu schnellen (und meist unbewussten) Urteilen über andere Menschen neigen, ist uns nicht klar, wie fehlerhaft und ungerecht diese Urteile oft sind. Einerseits sind wir sehr wohl in der Lage, vieles im Gesicht des anderen zu lesen, wie der Ausdrucksforscher Paul Ekman herausgefunden hat. Wir „lesen“ die Basisgefühle (wie Angst, Wut oder Ekel) meist richtig. Manchmal erspüren wir sogar die politische Einstellung oder sexuelle Orientierung eines Menschen. Aber schon beim Erkennen von Lügen überschätzen wir unsere Intuition. Richtig problematisch werden Schnellurteile vor allem dann, wenn eine Reihe evolutionär „eingebauter“ Fehlerquellen unser Urteil trübt: So schreiben wir beispielsweise attraktiven Menschen öfter und meist völlig unberechtigt positivere Eigenschaften zu als anderen.
Der Sozialpsychologe Randall Colvin von der Northeastern-Universität in Boston zeichnete in einem wegweisenden Experiment auf, wie sich 30 Studenten zum ersten Mal miteinander unterhielten. Colvin wollte herausfinden, wie die Länge der Beobachtungszeit das Urteil beeinflusst, und schnitt deshalb das Material zu Filmclips unterschiedlicher Länge zusammen. Die kürzesten Versionen liefen fünf Sekunden, die längsten fünf Minuten. Dann bewerteten 300 Beobachter die gefilmten Personen. Der Maßstab für die Güte der Beurteilungen wurde vorab fixiert: Eltern, Freunde und auch die Gefilmten hatten (Selbst-)Einschätzungen abgeliefert.
Schon nach fünf Sekunden beurteilten Colvins Probanden manche Eigenheiten der im Film gezeigten Studenten ziemlich gut. Ob jemand extravertiert, gewissenhaft, intelligent oder schlecht gelaunt ist, scheint einigermaßen leicht erkennbar zu sein. Etwas länger dauerte es, bis gute Laune, Neurotizismus, Offenheit und Verträglichkeit zugeordnet werden konnten. Hier sind die Hinweise im Verhalten offenbar weniger deutlich und teilweise widersprüchlich. Ob jemand neugierig oder emotional unausgeglichen ist, lässt sich nicht an der Nasenspitze ablesen. Nach einigen Minuten jedoch sind auch diese Merkmale halbwegs zu erkennen.
Das heißt: Die groben Umrisse der Persönlichkeit eines Fremden schätzen wir offenbar schnell auf brauchbarem Niveau ein. Das ist aus Sicht der Evolutionspsychologie absolut sinnvoll, es schützt uns vor unliebsamen Überraschungen. Bevor wir entscheiden, ob ein neuer Bekannter unser bester Freund wird, sichern wir erst einmal unser eigenes Überleben. Uns interessiert: Wird uns jemand das Leben schwer machen? Neigt er zu heftigen negativen Affekten? Ist er berechenbar? Oder hat der andere die Fähigkeiten, uns zu schaden, ist er zwar intelligent, aber möglicherweise auch ein Genie des Bösen?
Der erste Eindruck kann also ein wertvoller Anhaltspunkt sein. Doch wir sollten ihn mit Vorsicht gebrauchen, schlussfolgert Colvin aus seiner umfangreichen Forschung. Unsere erste Vorstellung von anderen Menschen ist niemals vollständig, und manchmal fehlen uns wesentliche Informationen, und wir liegen einfach falsch.
Auch David Funder, Professor an der Universität von Kalifornien in Riverside, räumt ein, dass der erste Eindruck oberflächlich ist. Aber er sei deshalb noch lange nicht nutzlos. Um den Wert unserer intuitiven Einschätzung von anderen zu begreifen, müssten wir uns nur einmal vorstellen, wir hätten diese Fähigkeit nicht. Wenn wir völlig unvoreingenommen und nicht-wertend anderen Menschen gegenüberträten, würde uns das weit zurückwerfen, meint Funder: „Der erste Eindruck kann lebensrettend sein. Es ist deutlich besser, eine Entscheidung aufgrund des ersten Eindrucks zu treffen, als eine Münze zu werfen.“ Doch es müsse uns bewusst sein, dass der erste Eindruck nur ein grober Anhaltspunkt ist. Das gilt vor allem auch für Liebesbeziehungen.
Liebe auf den ersten Blick?
Besonders unzuverlässig ist unser intuitives Urteil in der Liebe. Mit welchem Menschen wir lange und glücklich zusammenleben könnten, erkennen wir keineswegs nach fünf Minuten. Liebe auf den ersten Blick ist ein schönes Erlebnis, aber keine Garantie für Dauer oder Qualität dieses Gefühls. Deshalb ist es kein Zufall, dass so viele Beziehungen bei der Arbeit oder aus einem Freundeskreis heraus entstehen. Dort nämlich treffen wir andere Menschen regelmäßig und lernen sie besser kennen – und zwar schon vor dem ersten romantischen Date. Glückliche Langzeitbeziehungen kommen eher nach dem Prinzip zustande: „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert.“
Zwar sind sich die meisten Personen in kurzer Zeit darüber einig, wen sie attraktiv finden. Die mate values, also die schnell erkennbaren Äußerlichkeiten, spielen für den ersten Eindruck eine große Rolle. Der Begriff mate value stammt aus der Evolutionspsychologie. Der Psychologe Donald Symons bezeichnet damit den stereotyp erfassten „Fortpflanzungswert“ bei Männern und Frauen: für Frauen steigt der Wert vor allem mit ihrer äußeren, „sichtbaren“ Attraktivität und Jugendlichkeit, für Männer vor allem mit dem Status und der vermuteten Durchsetzungskraft.
Die mate values mögen unseren ersten Eindruck maßgeblich mitbestimmen. Aber längerfristig kommt es tatsächlich auf die sprichwörtlichen inneren Werte an. Leider erkennen wir diese bei einem ersten Treffen nur in ihren groben Umrissen. Der Psychologe Paul Eastwick von der University of Texas in Austin hat diese Entwicklungsmöglichkeit erforscht. Zu Beginn eines Semesters ließ er seine Studenten einander einschätzen: „Mit wem würdest du gerne ausgehen, von wem fühlst du dich angezogen?“ Wie erwartet, waren sich die jungen Männer und Frauen in ihren Präferenzen ziemlich einig. Doch als der Psychologe seine Fragen nach einigen Monaten wiederholte, stimmten die Urteile überhaupt nicht mehr überein. Alle kannten sich nun besser als zu Beginn des Semesters, der erste Eindruck konnte korrigiert werden, oft mit deutlichen Einbußen bei der anfänglichen Attraktivität. Ob wir mit jemandem eine Beziehung auf Dauer eingehen möchten, hängt eben nicht nur von den groben Umrissen der Persönlichkeit ab, sondern von vielen Details. Zudem verändern wir mit der Zeit unsere zunächst gefasste Meinung. Ein eloquenter, selbstsicherer Typ mag uns vielleicht schnell um den Finger wickeln – geht uns aber nach einigen Wochen schon auf den Wecker.
Manche dieser Erkenntnisse lassen sich ganz pragmatisch bei der Partnersuche berücksichtigen – auch und gerade im Zeitalter des Onlinedatings, des Speeddatings (!) und der vielen digitalen Suchmöglichkeiten. Tinder, Parship und Elitepartner bedienen zwar unterschiedliche Zielgruppen und Interessen, aber bei all diesen Suchwegen spielen die physischen Äußerlichkeiten, also auch der mate value, eine große Rolle. Bekanntlich lädt der Wunsch nach optimaler Selbstdarstellung zu Manipulationen ein, im Dienste des „ersten Eindrucks“ wird geschönt und retuschiert. Und so führt die Onlinesuche oft auf falsche Fährten.
Der Sozialpsychologe Randall Colvin hat dazu eine eigene Erfahrung beizusteuern. Nach einer Scheidung meldet er sich in einem Onlinedatingportal an – und schon bald fällt ihm eine Frau auf. Negativ. Sie inszeniert sich auf ihren Fotos als Glamourqueen. Colvin dagegen bevorzugt bodenständige Akademikerinnen. Er verspürt intuitiv Ablehnung. Aber dann „stupst“ ausgerechnet diese Frau ihn nach einigen Monaten an, und Colvin verabredet sich mit ihr. Ohne viel Hoffnung, denn sein erster Eindruck war ja alles andere als positiv. Doch gleich beim ersten Treffen musste der Psychologieprofessor seinen ersten Eindruck korrigieren. Sie war alles andere als eine Glamourqueen, sondern eine offene, liebenswerte, kluge Frau. Inzwischen sind sie 14 Jahre verheiratet.
Sorgfalt schlägt Schnelligkeit
Um den Einfluss (vor-)schneller und nicht nur unrichtiger, sondern auch ungerechter Urteile zu minimieren, müssen sie also buchstäblich ausgebremst werden. Wenn unser Liebesglück, aber auch andere wichtige Beziehungen oder Berufschancen auf dem Spiel stehen, sollten wir mit schnellen Einschätzungen und Charakterdiagnosen zurückhaltend sein. Wir können die Entscheidungsprozesse verlangsamen – und hin und wieder durch kritische Prüfung unsere Anfangsurteile korrigieren. Das ist nicht nur fairer, sondern auch sinnvoller. Sorgfalt schlägt Schnelligkeit: Mehr Pausen bieten mehr Chancen für Reflexion und neue Information. Und für die Korrektur des überbewerteten und mitunter auch falschen ersten Eindrucks sollte es – im wohlverstandenen eigenen Interesse – immer zweite und dritte Chancen geben.
Dem ersten Eindruck eine zweite Chance geben
1 Schließen Sie die Bestandsaufnahme nie ab!
Bleiben Sie wachsam und offen für andere Interpretationen dessen, was Sie an anderen Menschen beobachten. Es hilft, sich bewusstzumachen, dass wir unsere Mitmenschen nicht objektiv wahrnehmen, sondern immer durch unsere Brille von Stereotypen sehen und dazu neigen, andere in Schubladen zu stecken. Und schon das Sich-bewusst-Machen, dass wir Menschen fast automatisch in solche Schubladen stecken, hilft dabei, diese wenigstens offenzuhalten: „Der tritt gerade wie ein Macho auf, aber vielleicht ist er eher unsicher – oder er meint das ironisch. Mal abwarten …“
2 Seien Sie sich des Halo-Effektes bewusst
Der Halo-Effekt, erstmals beschrieben von dem amerikanischen Psychologen Edward Thorndike, bezeichnet in der Psychologie eine Wahrnehmungsverzerrung: Wir schließen von einem äußeren Merkmal auf Eigenschaften. Studien belegen: Attraktive Menschen werden automatisch für intelligenter und erfolgreicher gehalten, korpulenten Personen schreibt man Eigenschaften wie Gutmütigkeit und Fröhlichkeit zu – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Der Effekt ist nicht ungefährlich. Er kann dazu führen, dass wir einen falschen Partner wählen oder eine unpassende Stelle annehmen, weil der Vorgesetzte so „gemütlich“ wirkt.
3 Kontrollieren Sie Ihre Vorurteile
Sie sind nicht rassistisch, aber wie die meisten Menschen haben Sie möglicherweise implizite Vorurteile, die ihr Urteil über andere Menschen leiten. Die neuere US-amerikanische Forschung über „impliziten Rassismus“ zeigt, dass etwa selbst liberale, wohlmeinende und jeden Rassismusverdacht weit von sich weisende weiße Ärzte farbige Patienten oberflächlicher diagnostizieren und weniger sorgfältig behandeln als Weiße. In einigen Studien konnte gezeigt werden, wie sich diese Tendenz korrigieren lässt: indem sich Ärzte in speziell aufgelegten Trainingsprogrammen bewusstmachen, wie vorurteilsbefrachtet und fehlerhaft ihre Diagnosen sein können. Solche „Awareness-Programme“ verändern das Verhalten nachweislich und sind auch in anderem Kontext sinnvoll und geboten – etwa in Justiz oder Sozialarbeit. Aber auch im alltäglichen Umgang mit Fremden.
4 Trainieren Sie Ihre Empathie
Natürlich wissen wir oft sehr genau, wie andere sich in einer bestimmten Situation „richtig“ verhalten sollten. Und neigen zu Kritik, Ironie, sogar zu Verachtung oder Geringschätzung: So ein ungeschickter Tölpel! Vergessen wir nicht: Probleme wirken immer leichter lösbar, solange es nicht unsere eigenen sind. Bemühen wir uns lieber darum, uns in den anderen hineinzuversetzen: Warum hat er gerade solche Probleme? Er ist doch nicht blöd – was geht wohl gerade in ihm vor? Und wären wir wirklich sicher, keinen Blackout zu haben? Diese Empathie schützt davor, vorschnell aus einer Situation heraus ein falsches oder verzerrtes Charakterbild zu zeichnen. Nur weil jemand in einer Situation anders reagiert, als wir es tun würden, ist er noch kein Idiot. Wir würden auch nicht wollen, dass uns jemand nach fünf Sekunden als Dummkopf abstempelt.
5 Werden Sie sensibler für Sprache
Wenn Sie Menschen reden lassen und auch dann geduldig zuhören, wenn diese anscheinend abschweifen, erfahren Sie viel über deren Meinungen und Wertungen, über ihren Charakter. Sie geben „nebenbei“ viel von sich preis, wenn sie beispielsweise das Verhalten eines Dritten als „trotzig“ bezeichnen – darin ist möglicherweise eine Abwertung enthalten. Wird dasselbe Verhalten als „standhaft“ gelobt, klingt das nach Anerkennung. Was objektiv klingt, kann ein vergiftetes Kompliment sein und so weiter. Wer ein Ohr für Zwischentöne und sprachliche Feinheiten entwickelt, verbessert seine Intuition deutlich.
Literatur
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