Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es euch geht! Der Satz ärgert uns, denn in ihm steckt pastorenhafte Schulmeisterei und ein Vorwurf an unser einmal wieder nicht funktionierendes Sensibilitätsorgan. Ja, er hat etwas Überhebliches, weil in ihm zum Ausdruck kommt, dass wir offenbar nicht in der Lage sind, das Schöne und Gute zu sehen. Dennoch steckt in diesem Satz viel Wahrheit. Wir wissen tatsächlich oft nicht, wie gut es uns geht. Solange alles „normal“ ist, fällt es uns schwer, das Kostbare unseres Lebens zu…
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oft nicht, wie gut es uns geht. Solange alles „normal“ ist, fällt es uns schwer, das Kostbare unseres Lebens zu erkennen. Wie gut es uns geht, wissen wir meistens erst, wenn das Selbstverständliche bedroht ist oder wir es schon verloren haben. „Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen“, schrieb Christoph Schlingensief in seinem kurz vor seinem Tod erschienenen Krebstagebuch von 2009, dem er den Titel gab: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!. Im Grunde sind wir immer vom Tod umgeben, aber erst, wenn uns eine Krankheit oder ein Unglück bewusstmacht, dass unser Leben unmittelbar bedroht ist, entdecken wir das schöne Leben. „Memento mori!“ und „Carpe diem!“ – es scheint, sie gehörten unauflösbar zusammen.
Tatsächlich gibt es viele Beispiele, wie Menschen entweder durch Phasen schmerzhafter Entbehrung oder gar durch völligen Verlust all das Selbstverständliche, was sie einst hatten, erst richtig schätzen gelernt haben. Wer sein Gehör durch eine Operation wiedergewinnt, wird anders und mehr hören als je zuvor, wer einmal ein paar Wochen im Rollstuhl gesessen hat, weiß, dass das Gehen intensiver und mit Freude erlebt wird – und wer eine schlimme Krankheit überwunden hat, wird es in einer ganz neuen und intensiven Art wertschätzen, überhaupt zu leben.
Es ist keineswegs nur ein individuelles Phänomen: Auch ganze Gesellschaften können vergessen, wie gut es ihnen geht. Gerade heute scheint dies wieder der Fall zu sein. Wir haben uns so sehr an unsere Freiheit gewöhnt, dass sie uns nicht mehr als Gut, sondern als belanglose Normalität erscheint. Unsere Demokratie mit all ihren Vorzügen, sie scheint so normal geworden zu sein, dass bei vielen das Bewusstsein abhandengekommen ist, sie sei eine Errungenschaft, die es immer neu zu verteidigen gelte. Der Aufstieg der AfD in Deutschland und anderer rechtspopulistischer Parteien in den Demokratien Europas ist nicht allein eine Reaktion auf Flüchtlinge, sondern offenbar auch darauf, dass die Freiheit, in der wir leben, gar nicht mehr als sonderlich wertvoll empfunden wird. Anders ließe sich nicht erklären, warum so viele Wähler sie aufs Spiel setzen, indem sie reaktionäre Parteien unterstützen, denen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit weniger wert zu sein scheinen als Intoleranz und inhumane Abschottung.
Ohne Mangel kein Sinn
Wir leben heute in einer Phase eines historisch nie dagewesenen Überflusses, in der uns kaum mehr ein soziales Entbehrungs- oder Verlusterlebnis den hohen Wert unseres gegenwärtigen Lebens verdeutlicht. Fatalerweise ist dieser Überfluss keineswegs nur das späte Ergebnis eines einst aus der Not geborenen effizienten Wirtschaftens, sondern ursprünglich genauso motiviert vom Wunsch, der Kostbarkeit des Lebens habhaft zu werden. Wer schon genug hat, der versucht nur zu gern, durch Anhäufung, durch noch mehr Konsum sein Glück zu vermehren. Man könnte sagen: Überflussgesellschaften verlieren „mangels eines Mangels“ generell den Sinn für das Schöne des Lebens, und statt ihr Wohl in der „schönen Normalität“ zu suchen, versuchen sie, den Weg über das Anhäufen und Verwalten materieller Güter zu gehen. Haben statt Sein, nannte das Erich Fromm.
Dinge füllen jedoch nur eine innere Leere, räumlich, zeitlich und emotional, die Strategie selbst aber läuft leer. Fromm würde sagen, im Massenkonsum werden Bedürfnisse befriedigt, die von kapitalistischen Verlockungen geweckt wurden, die aber nicht die wahren Bedürfnisse des Menschen sind. Was trotz aller Fülle unerfüllt bleibt, ist unser ureigener Wunsch, Beziehungen zu erleben und den eigenen kreativen Anteil auszuagieren – und vor allem, worum es hier geht: unser natürliches Leben als ein Geschenk zu empfinden. Echte Lebenskunst in der Überflussgesellschaft heißt also gerade nicht, die eigene Anhäufungstechnik von Luxusgütern zu optimieren, sondern bedeutet das Vermögen, trotz ihrer Verfügbarkeit die „Fülle des Banalen“ wieder erkennen zu lernen.
Wie kommen wir dahin? Müssen wir erst wieder in einen Zustand des schmerzhaften Verlusts kommen? In die pure Not? Der Psychoanalytiker C. G. Jung ging so weit, Krisenlagen für einen Veränderungsprozess vorauszusetzen. Er schreibt: „Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. Sie ist ungeheuer konservativ, um nicht zu sagen inert (träge), nur scharfe Not vermag sie aufzujagen.“ Und schon bei Sigmund Freud steht: „Wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.“ Dennoch, die Gretchenfrage ist: Wie kann man schätzen lernen, was man hat, ohne das schmerzhafte Erlebnis seines Verlustes durchleben zu müssen? „Wenn wir nicht auf die kompensatorische Kraft des Lebens warten wollen, die hilft, die Einseitigkeit und Maßlosigkeit des Zuviels und des Zuwenigs durch Krisen wie Erschöpfungszustände, Depressionen, Burnout, körperliche Krankheiten, Beziehungskrisen wieder auszugleichen“, schreibt Jürgen Stepien, Psychoonkologe an der Paracelsus-Klinik in Scheidegg im Allgäu, „dann brauchen wir das Bewusstsein und das Wissen vom guten Leben, vom maßvollen Leben, vom Gewinn für unsere Lebensqualität durch Verzicht und Weglassen von Überflüssigem, vom einfachen Leben, um einfacher und unkomplizierter zu leben, vom Reichtum an Zeit statt Zeitarmut mit viel Besitz, vom Mehrwert an Erlebnissen, statt mehr zu haben, von der Freude am Potenzialentfalten, statt Vermögen zu verwalten, wie es vor allem die Philosophie und auch die Religionen lehren.“
Überflutung mit Wellnesswonnen
Es geht darum, die Schönheit des eigenen Lebens wieder erfahrbar zu machen. Um zu wissen, wie gut es uns geht, müssen wir dieses Wohlsein emotional erleben. Paradoxerweise ist der Weg dorthin nicht die Überflutung mit Wellnesswonnen und Genussreizen, sondern das Aufsuchen des Gegenteils: Askese. Dem Wort haftet heute eine sehr strenge Note an, dabei meint es seinem griechischen Begriffsursprung nach eigentlich nur „Übung“. Askese bedeutet nicht so sehr schmerzhafte Selbstkasteiung, sondern sich in ganz bewusster Enthaltsamkeit zu üben – durch Verzicht auf alles, was uns den Blick für das Schöne raubt, vor allem aber durch Verzicht auf Überfluss an Konsum und Information wieder in die richtige Distanz zum Leben zu kommen.
Das Verlies des kalten Überflusses
Die kürzeste Askese, die es gibt, ist eine Meditationssitzung. Meditation ist nicht nur eine Technik zur Stressbewältigung und Entspannung, sondern eine Praxis, die zu einer Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit führt, zu mehr „offenem Gewahrsein“, wie dies der Psychologe Peter Sedlmeier in seinem Buch Die Kraft der Meditation über die wissenschaftlich erwiesene Meditationswirkung nennt. Als asketische Praxis ist sie Mittel zur Erlangung von innerer Leere – die wiederum die Voraussetzung einer erhöhten Sensibilisierung für alles äußere Erleben ist. Aber es gibt auch ganz andere Wege, verschiedene Formen der inneren Befreiung und Distanzierung: Für den Philosophen Ludwig Wittgenstein etwa, Sohn eines steinreichen Wiener Stahlindustriellen, war es – psychologisch gesehen – die selbstauferlegte Askese des logischen Denkens, womit er sich aus den Verliesen des kalten Überflusses befreite, in die er hineingeboren wurde und unter denen er gelitten hat. Für andere zieht Musizieren oder Musikhören diese emotionale Erfahrung nach sich, oder sich künstlerisch zu betätigen, Kunst zu genießen, zu wandern, zu joggen, zu fasten.
Es gibt diese Formen einer heilsamen Distanzierung, eines Gewinnens von Abstand, selbstgewählter Entbehrung, die uns das Gefühl für das Schöne des Lebens zurückbringt, ohne dass uns notwendigerweise eine Krise, eine Krankheit oder der Verlust eines geliebten Menschen dazu bringt, durch die Bedrohung neu und radikal das eigene Leben zu betrachten. Für diesen Schritt können wir uns auch ganz bewusst entscheiden: durch Reduktion des „Inputs“ an Genussmitteln, Konsum, Information. Man begibt sich in einen selbst auferlegten Verzicht.
Die Beobachtung dessen, was dann in Gang kommt, ist nahezu dieselbe. Wer einmal gefastet hat, weiß, wie gut ein Apfel nach langer Enthaltsamkeit schmecken kann oder nur ein Stück Brot. Klausur, neudeutsch: Retreat, Rückzug in ein Leben nur mit sich selbst. Eine andere Form, selbst freiwillig den Kontrast herzustellen, den sonst die Krise schafft: Sich in die Einsamkeit begeben, um das Glück von Freundschaft und Partnerschaft neu zu erleben, sich in die Ödnis begeben, um die Schönheit der Landschaft wieder zu erkennen. Sich zurückziehen und die Außenreize reduzieren, dann gewinnt man, wie es Henry D. Thoreau in seinem Klassiker Walden oder Leben in den Wäldern ausgedrückt hat, einen Blick für „die nächste Nähe“. In der Einsamkeit erfahren wir kaum Außenreize, gleichzeitig senkt sich die Reizschwelle für jene wenigen sinnliche Eindrücke, die noch geblieben sind. Was man überhörte, hört man nun, was man nie gefühlt hat, fühlt man, woran man achtlos vorüberging, daran bleibt man nun hängen. Einsamkeit schärft unsere Sinne, sie steigert unsere Empfänglichkeit für die Schönheit der Welt.
Das Schöne der Welt einrahmen
Innerlich leer geworden und ausgestattet mit dem Thoreau-Blick auf die nächste Nähe, beginnen wir bald, uns auf die Suche zu machen: Denn Askese löst Suchbewegungen aus – und viele, die es ausprobiert haben, werden fündig, weil sie jetzt einen neuen Blick haben, mit anderen Augen sehen. Das, was ist, wird erkennbar, weil wir jetzt in der Lage sind, es herauszulösen aus dem unendlichen Fluss des vollgestopften Alltäglichen, weil wir jetzt einen Schritt zurücktreten und dem, was wir dann erkennen, einen Rahmen geben können. Manche kennen das vom Wandern, wenn sie ein Foto simulieren: Sie bilden mit Daumen und Zeigefinger beider Hände einen Rahmen, halten ihn vor sich hin und prüfen, ob der Ausschnitt, den sie ausgewählt haben, ein schönes Foto wäre. Auch Lebenskunst ist „Umrahmungskunst“. Abgeschlossenheit von der Außenwelt, Distanz, ein Ganzes zu sein – das ist das Wesen eines Kunstwerkes. Der Bildrahmen, so schrieb der Soziologe Georg Simmel schon vor hundert Jahren, verstärkt dieses Wesenhafte: Wenn wir das Schöne des Lebens suchen, weil wir es verloren haben oder nicht mehr wissen, wo es ist, ist es unsere Aufgabe, uns nicht im Uferlosen zu verlieren, sondern es aus dem unendlichen Strom der Erscheinungen zu lösen, zu „umrahmen“: Dann werden wir seiner ansichtig, dann haben wir es wieder entdeckt. Das Schöne wieder zu entdecken ist gekoppelt an unsere Fähigkeiten, einen Blick auf die Welt zu entwickeln, der es herauslöst, umrahmt und als Ganzes erfasst – und so erfahrbar macht. Es sind nicht nur Bilder, die es einzurahmen gilt. Ein paar Stunden, eine Wanderung, ein gelungener Tag, eine Beschäftigung, die uns beglückt.
Das Problem ist oft nur: Am Ende fallen wir sehr schnell wieder in den alten Trott zurück. Wenige Tage nachdem es bei der Vorsorgeuntersuchung Entwarnung gab, wird man wieder stumpf dem bewussten Leben gegenüber. Die Erinnerung an den Genuss des ersten Apfels nach der Fastenzeit verblasst sehr schnell: Er schmeckt wieder so wie immer. Auch das große Vorhaben, von nun an die Sonne, das Atmen, die Natur, die ganze Welt als Geschenk zu sehen, verpufft. Dennoch, es war nicht umsonst. Wer durch freiwillige Entbehrung gegangen ist, dem bleibt doch eine Erinnerung: Wenigstens weiß man jetzt, wie es gehen könnte, der Welt wieder ihre Schönheit abzugewinnen.
Damit die Einsichten, die in der Krisenzeit gewonnen wurden, wenigstens eine Aussicht haben, im Alltag umgesetzt und gelebt zu werden, müssen wir Erlebens- und Verhaltensweisen einüben, immer wieder, so dass sie über einen längeren Zeitraum zu verinnerlichten Haltungen und Gewohnheiten werden. „Da der situative Kontext in unserer Alltagswelt uns aber immer wieder einlädt, die alten Gewohnheitsmuster, die ja immer noch in uns abrufbar sind, zu aktivieren, bedarf es oft eines langen Atems, bis die neuen Haltungen, Gewohnheiten und Einstellungen stärker und lebensbestimmender sind als die alten gewohnten Muster“, schreibt Jürgen Stepien. Hilfreich ist, sich dies selbst klarzumachen – und jeden Tag wenigstens für ein paar Augenblicke daran zu denken, wie schön die Welt doch ist. Was uns dabei nützt, sind äußere Erinnerungshilfen, von denen unsere Welt voll ist: Sie tauchen immer wieder auf, in der Natur oder in der Kunst, es können verwitterte Wegkreuze sein oder sogar Autobahnschilder, die uns ermahnen, nicht zu rasen und besser auf unser Leben aufzupassen. Sich immer wieder das „Memento mori!“ bewusstzumachen – und nicht etwa es zu verscheuchen – ist erst die Voraussetzung für das „Carpe diem!“.
Literatur
Erich Fromm: Haben oder Sein. Dtv, 45. Auflage, München 2018
Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
Peter Sedlmeier: Die Kraft der Meditation. Was die Wissenschaft darüber weiß. Rowohlt, Berlin 2016
Georg Simmel: Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch. In ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Band I, Gesamtausgabe Band 7, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995
Henry David Thoreau. Walden oder Leben in den Wäldern (1854). Diogenes, Zürich 2004