Lange Zeit habe ich auf das Phänomen der Berührung gar nicht geachtet: Es gab sie halt, oder es gab sie nicht. Welche Bedeutung sie für Menschen hat, fiel mir erst auf, als ich zeitweilig als Philosoph in einem Krankenhaus arbeitete, viele Gespräche führte und interessante Beobachtungen machte. Da waren beispielsweise alte Menschen, an deren Bett ich saß und die meine Hand, die ich ihnen gab, nicht mehr loslassen wollten. Oder ich beobachtete Ärzte, die Patienten aufmuntern wollten, indem sie ihnen die Hand…
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beobachtete Ärzte, die Patienten aufmuntern wollten, indem sie ihnen die Hand auf den Oberarm legten. Die Nähe oder Distanz zwischen Menschen war deutlich erkennbar an der Bereitschaft zur Berührung, etwa mit einem Handschlag zur Begrüßung oder einer Umarmung.
Diese Beobachtungen und Erfahrungen bei meiner Arbeit im Krankenhaus haben die Idee reifen lassen, das Phänomen der Berührung zu thematisieren. Es entpuppte sich umgehend als ein „Stich ins Wespennest“. Denn Berührung wirft – nicht nur im Krankenhaus – heikle Fragen auf: wann, wie viel, bei wem, von wem, mit welchen Entbehrungen, wenn es zu wenig ist, mit welchen Grenzen, wenn es zu viel wird? Die Sehnsucht nach Berührung ist überwältigend groß, aber sie wird konterkariert durch eine ebenso deutliche Scheu oder gar Abscheu vor Berührung. Gerade wir im nördlichen Europa leben nicht in einer Berührungskultur, solche Kulturen sind eher am Mittelmeer zu finden. Was uns dabei entgeht, können wir allenfalls erahnen, wenn wir eine Berührung erfahren, die uns gefällt. Menschen aus anderen Ländern vermissen sie in unserem Land, sie vermissen die Wärme, für die Berührung im alltäglichen Umgang sorgen kann. Ist es denn zu erwarten, dass wir uns künftig mehr anfassen? Kaum vorstellbar. Was aber wird aus Menschen, wenn sie zu wenig Berührung erfahren? Entsteht so die menschliche Kälte, die wir selbst oft beklagen?
Ich berühre, also bin ich
Die Wiederentdeckung der Berührung könnte zu einer neuen Körperkultur beitragen. Das wäre wohl die beste Antwort auf den ausufernden und sinnlos erscheinenden Körperkult. Um der Berührung die Bedeutung zu geben, die ihr zukommt, bedürfte es einer Kunst der Berührung als Teil einer umfassenden Kunst des Lebens. Welche Aspekte der Berührung bedeutsam sind, wird bereits auf der körperlichen Ebene erkennbar: Sie hat den Effekt, die Energien eines Menschen zu aktivieren. Die tastende Berührung der fünf Millionen Nervenenden der Haut wirkt belebend, und das geschieht bei wechselseitiger Berührung weit mehr noch als bei bloßer Selbstberührung. Es ist die Berührung eines anderen, durch die ein Mensch sich spüren und sich zu sich selbst positiv in Beziehung setzen kann. Selbstverständlich immer in den Grenzen, die aus Berührung nicht Übergriffigkeit werden lassen.
Die Lebenskunst als bewusste Lebensführung und Ethik der Sorge für sich und andere kommt ohne dieses Thema nicht aus. Am besten fassbar ist die Bedeutung der Berührung im Körperlichen, denn jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, dass Berührung geradezu elektrisieren kann. Da sie von Anfang an und vermutlich das ganze Leben hindurch maßgeblich am Aufbau des Immunsystems beteiligt ist, ist es auch denkbar, dass so manche Krankheit aus einem Mangel an Berührung resultiert. Menschen kennen die beglückende, beruhigende Wirkung einer streichelnden Hand und die leidvolle Erfahrung ihres Fehlens. Der Hunger nach Berührung kann eine Triebfeder für Erotik und Sex sein, körperliche Berührungen aktivieren zugleich die Energien der Seele und halten sie in Bewegung, ein Element der Gesundheit und des Wohlbefindens, das demjenigen Sinn des Menschen zu verdanken ist, der durch die Haut geht. Diese Berührung anderer und das Berührtwerden durch sie ist durch das Tupfen und Wischen auf Displays nicht so recht zu ersetzen.
Außergewöhnliche Erfahrungen können mit Berührungen einhergehen, die einem Menschen erlauben, den bedrückenden alleinigen Bezug zu sich selbst zu überwinden. Die Berührung erzeugt eine Sinnfülle, indem sie die Sinnlichkeit aktiviert, die das Ich mit anderen und aller Welt verbindet, sodass es sagen kann: „Ich berühre, also bin ich“, tango ergo sum, in Analogie zum berühmten „Ich denke, also bin ich“.
Und nicht nur sinnlich, sondern auch seelisch und geistig stellt Berührung Beziehungen und Zusammenhänge aller Art her, sodass ein Mensch sich in ein Netz eingebettet sehen kann und nicht mehr metaphysisch einsam fühlen muss, bis hin zur Einbettung in eine Dimension, die eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem Sinn zu geben vermag. Wenn aber die Sinngebung durch Berührung wegfällt, ausbleibt und verweigert wird, kann eine schreckliche Sinnleere die Folge sein, die das Leben schwermacht: Wer nicht berührt wird, wird seiner selbst unsicher und weiß nicht mehr, wer er ist.
Nähe und Distanz zwischen zwei Menschen werden zunächst vielleicht unabsichtlich und ganz sicher häufig unbewusst über Berührung reguliert. Die Berührung entfaltet ihre weiterreichende Bedeutung, wenn der jeweils andere sie nicht abweist, sondern geschehen lässt und passiv annimmt, sie möglicherweise aktiv beantwortet. Dann kann das Glück der Berührung die Beteiligten durchströmen, denn willkommene Berührungen machen das Leben schöner und erfüllter. Das geschieht über alle Sinne, keineswegs nur über den Tastsinn: Berührt werden Menschen auch vom Anblick eines Gesichts, vom Hören einer Stimme, vom Geruch, der in der Luft liegt, vom Geschmack einer Speise, berührt auch durch Bewegung und erst recht durch alles, was zu spüren ist, mit einem Gespür, das nicht so einfach zuzuordnen ist und dessen Existenz doch unbestreitbar ist. Zauberhaft ist zweifellos, wenn die Aktivität des Berührens und die Passivität des Berührtwerdens miteinander verschmelzen, ein Verschmelzen von Selbst und anderem, von berührendem Subjekt und berührtem Objekt. Das scheint beim Kuscheln der Fall zu sein, wenn Haut an Haut geschmiegt wird.
Es ist eine Kunst, Berührung herbeizuführen, eine weitere Kunst aber, sie geschehen zu lassen. Beides spielt sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ab. Seelisch wird ein Mensch beispielsweise durch den Charme berührt, den ein anderer ausstrahlt. Wie das vor sich geht, ist nicht ganz klar und demzufolge kaum zu erklären, offenkundig überlagern sich dabei Körper und Seele, wenn die Seele als der diffuse Raum einer Energie verstanden wird, die den Körper zeitlebens trägt und ihn mit dem Tod endgültig verlässt, aber als Energie erhalten bleibt: Ein Funke der Unendlichkeit im endlichen Wesen.
Sich geistig berühren lassen
Über das körperliche und seelische Berühren und Berührtwerden hinaus ist ein geistiges für das menschliche Leben von Interesse. Unter diesem Begriff sind alle gedachten, vorgestellten, virtuellen, ideellen und potenziellen Berührungen zusammenzufassen: Das Berührtwerden von einem Gedanken, einem Traumbild, einer Ahnung, einer Idee, einer Fantasie. Nicht nur Wirkliches kann Menschen berühren, erfassen und bewegen, sondern auch Unwirkliches, beispielsweise eine erfundene Geschichte oder eine philosophische Abhandlung. Wie das Seelische könnte auch das Geistige als eine Verdichtung von Energien verstanden werden, die keiner Endlichkeit unterliegen, sodass es ein Leben des Geistes geben kann, das nicht vom Tod tangiert wird. Wie sonst wäre es erklärbar, dass Gedanken längst verstorbener Autoren auch noch nach langer Zeit Menschen berühren können? In diesem Fluidum von unabsehbarer Reichweite in Raum und Zeit ist geistige Weite erfahrbar.
Am Beispiel der Lektüre lässt sich genauer betrachten, was bei einem geistigen Berühren und Berührtwerden geschieht: Unweigerlich ist eine sinnliche Berührung damit verbunden, sei es beim Zurhandnehmen eines Buches und dem Umblättern der Seiten oder beim Tupfen und Wischen auf dem Display, das ein Buch in elektronischer Form darstellt. Indem der Leser Buchstaben aufsammelt, die ihm in verführerischer Klarheit vor Augen stehen, wird er von ihnen aus der Welt der Wirklichkeit in die Welt der Möglichkeiten entführt, in der andere Wirklichkeiten vor seinem geistigen Auge aufscheinen. Er wird selbst bearbeitet, während er sich durch den Text arbeitet, und er bleibt auf diese Weise nicht derselbe, der er vor der Lektüre war: Die gedankliche Berührung der Buchstaben bewirkt eine Veränderung des Selbst, mag es sich auch nur um eine Winzigkeit handeln, die nicht weiter auffällt, sich aber mit anderen Winzigkeiten summiert. Mit dem Lesen entwickelt ein Mensch, was in ihm ruht. Darin besteht ein guter Teil der Bildung, die immer schon mit dem Lesen verknüpft war. Letzten Endes geht es dabei gar nicht um das Lesen eines Buches, sondern um das Lesen des eigenen Selbst, des Lebens und der Welt, der Wirklichkeit und aller Möglichkeiten, die zeichenhaft aufgenommen und gedeutet werden: Geistige Berührung sorgt für Orientierung in einem größeren Horizont des Lebens.
Wenn das Wesentliche berührt
Eine weitere Berührung aber ist diejenige, die mit einem Überschreiten der menschlichen Endlichkeit im Fühlen und Denken einhergeht, um sich von einer möglichen unendlichen Dimension, einer Transzendenz berühren zu lassen. Welche Bedeutung hat diese Berührung und dieses Berührtwerden für Menschen? Davon erzählt die Geschichte der Religion. Mit Religion ist dabei nicht in erster Linie eine bestimmte Glaubensgemeinschaft oder Kirche gemeint, sondern das religiöse Phänomen selbst, der Rückbezug („ich binde mich zurück“, religo im Lateinischen) auf etwas, das für wesentlich gehalten wird.
Was könnte das Wesentliche sein? Das, ohne das alles andere nichts ist. Ist der Körper das Wesentliche? Nein, denn jeder Körper zerfällt irgendwann, er ist nur erkaltete Energie. Was ihn beseelt, ist heiße Energie, die gemäß Energieerhaltungssatz bestehen bleibt, also wesentlich ist. Es ist die Gesamtheit der Energie, die allem Leben und aller Welt zugrunde liegt. In der Geschichte wurde das Wesentliche meist als göttlich oder Gott bezeichnet. In der Moderne aber wollen viele Menschen davon nichts mehr wissen, weil sie hastig auf die Begriffe blicken statt geduldig auf die Phänomene. Entgeht ihnen damit das Wesentliche ihrer Existenz, das sie leben lässt und auch über sie hinaus existiert?
Entscheidend ist, was die vorgestellte oder wirkliche Berührung der Transzendenz und das Berührtwerden durch sie bewirkt: Ein Mensch öffnet sich für die Energie, sodass er von ihr durchflutet wird. Michelangelo hat bei der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle versucht, dieser dynamischen Bewegung eine konkrete Gestalt zu geben und die Geschichte vom Berührtwerden des endlichen Menschen durch die Dimension des Unendlichen darzustellen, die Berührung Adams durch die göttliche Energie: Von Fingerspitze zu Fingerspitze scheint der Funke überzuspringen, der Adam leben macht. Oder ist es Adam, der durch seine Berührung die göttliche Energie zum Leben erweckt? Aber vielleicht lassen sich die beiden Seiten der einen Berührung in der Tat nicht voneinander trennen.
Sich für das Göttliche zu öffnen legt den Zugang zu dieser unerschöpflichen Kraft frei, sodass sie zur Quelle eines sinnerfüllten Lebens werden kann. Dann spürt ein Mensch die allem zugrunde liegende Energie im eigenen Ich und fühlt sich als Teil eines umfassenden Ganzen. Es könnte sein, dass ohne diese Öffnung mehr Lebensstress entsteht, weil der Mensch in der materiell bestimmten und zeitlich begrenzten Wirklichkeit nur wenig Platz zur vollen Entfaltung hat. Ein energetisches Leben über die Endlichkeit hinaus anzunehmen entlastet davon, das angeblich einzige, wirkliche Leben mit zu vielen Projekten überfrachten zu müssen. Diese Perspektive eröffnet der Glaube an ein immer wieder anderes und letztlich ewiges Leben, der allerdings ein Glaube bleiben muss und nie Wissen werden kann.
Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Gerade eben neu erschienen: Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Suhrkamp, Berlin 2016. Website: www.lebenskunstphilosophie.de