Herr Nelting, rauchende Kollegen, unfreundliche Kellner, rücksichtslose Autofahrer – ihnen begegnen wir oft mit Schweigen, einem „Passt schon“ oder bemühtem Lächeln. Warum sagen wir nichts? Warum fürchten wir anzuecken, uns auch mal unbeliebt zu machen?
Mit dem Unbeliebtmachen ist das so eine Sache, wir wollen gemocht und geliebt werden! In dem Verb „anecken“ steckt ja das Wort „Ecken“, und Ecken sind nun mal spitz. Man kann sich an ihnen stoßen und verletzen, was Schmerzen zur Folge hat. Früher als Kind,…
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an ihnen stoßen und verletzen, was Schmerzen zur Folge hat. Früher als Kind, wenn es hieß, dass man nicht das Recht habe zu widersprechen, riskierte sogar eine Backpfeife, wer es dennoch wagte. Später dann bei sinnlosen Anordnungen des Chefs traut sich niemand, diese laut infrage zu stellen, aus Angst, zum Außenseiter zu werden oder sogar den Job zu verlieren. Die meisten Menschen haben Erfahrungen damit gemacht, dass es eben wehtun kann, seine Meinung zu vertreten, wenn sie nicht der mehrheitlichen entspricht – und halten viel zu oft still. Doch damit akzeptieren wir, dass andere bestimmen, wo es langgeht und was getan wird. Mehr noch, wir treten durch ein Schweigen unsere Macht an sie ab und lassen uns von Menschen an die Wand spielen, weil wir auf ihre Zuwendung hoffen. Wir hoffen auf Zustimmung, Beifall oder im beruflichen Umfeld auf finanzielle Anerkennung. Wir wollen gemocht werden, und wenn wir etwas infrage stellen, dann oft nicht laut.dann oft nicht laut.
Gibt es Situationen, in denen es leichter fällt, nein zu sagen und seine Meinung zu äußern?
Wir sagen eher etwas, wenn wir uns sicher fühlen. Beim Autofahren den Stinkefinger heben oder dem anderen einen Vogel zeigen –das macht man nur während der Fahrt, nicht im Stau, wo jemand wütend auf einen zukommen könnte. Widersprechen fällt leichter, wenn wir selbst gereizt oder wütend sind und es nur noch einen kleinen Auslöser braucht, bis einem die Hutschnur platzt. Denn im Zustand der Erregung sind die inneren Kontrollinstanzen schwächer. Sie sind es ebenso, wenn beispielsweise der andere nicht direkt präsent ist. Deshalb gibt es viele anonyme Beleidigungen im Internet oder kränkende Antworten per SMS, die von Angesicht zu Angesicht nicht so grob herübergebracht worden wären.
Wie kommt das?
Wir sind je nachdem, wie wir aufgewachsen sind und was wir von unseren Eltern gelernt haben, recht konfliktscheu, aggressionsgehemmt, oft autoritätsgläubig und haben es nicht gelernt, kreativ zu streiten. In vielen Familien folgten, wenn es zu offenen Auseinandersetzungen und heftigem Streit kam, Liebesentzug und Entwertung. Im schlimmsten Fall kam es zu Handgreiflichkeiten. Ein vorerst spielerisches, später dann kraftvolles Streiten ohne Abwertung und ohne die Bedeutung von Sieg und Niederlage, vielmehr mit dem Gefühl, durch konstruktive Kritik etwas zu lernen, kommt in den meisten Familien nicht vor.
Und noch etwas: Streit bedeutet hirnphysiologisch Alarm im limbischen System, speziell dem sogenannten Mandelkern. Das führt dazu, dass man sich in Sicherheit bringen will und nicht den offenen Schlagabtausch sucht. Deshalb stimmt man dem Chef oder dem Partner zu, hält mit seiner Meinung hinterm Berg und meidet die Auseinandersetzung. Die Gefahr, aufzufallen, oder aus einer Gruppe herauszufallen, ist eben geringer, wenn man es unterlässt, sich konträr zu äußern.
Oft fragen wir uns, ob sich all die Aufregung lohnt, kostet es doch Zeit und Kraft, wenn wir uns aufregen.
Es kommt darauf an. Wenn uns jemand mit seinem schnellen Wagen auf der Autobahn schneidet und an uns vorbeirast, reicht vielleicht ein kurzer Aufschrei, ohne dass der andere am Steuer es mitbekommt. Da wäre der Aufwand sicherlich zu groß, den Fahrer zu ermitteln, Zeugen zu suchen, ihn anzuzeigen. Anders ist es, wenn sich eine Situation oft wiederholt, auf der Arbeit oder in der Partnerschaft. Wenn wir hier anderer Meinung sind und damit hinterm Berg halten, stauen sich Gefühle wie Ärger und Wut an. Und wir machen uns selbst Vorwürfe, unter dem Motto: Warum habe ich denn wieder nichts gesagt, warum bin ich feige? Das kostet Kraft.
Nichts sagen kann also auf lange Sicht mehr Kraft kosten, als seine Meinung zu äußern?
In unserer Großhirnrinde haben wir aus Erfahrung stammende Leitsätze gespeichert, nach denen wir uns verhalten. Für unsere Weiterentwicklung und Gesundheit ist entscheidend, dass wir uns Flexibilität erlauben. Dazu brauchen wir immer wieder neue Erlebnisse und Herausforderungen, die zu neuen Erfahrungen werden. Es lohnt sich also, das Nein zu wagen und damit seinen Blickwinkel zu erweitern, Ansichten, innere Leitsätze und Einstellungen, die manchmal noch aus der Kindheit stammen, zu hinterfragen und anzupassen. Auf diese Weise entwickeln sich neue Verhaltensmuster für schwierige Situationen, die eine innere Festigkeit erfordern. So kann es gelingen, unsinnigen Anforderungen oder Regeln auf selbstbestimmte Weise zu widersprechen, die Konfrontation, wo sie einem sinnvoll erscheint, zu suchen und Spannungen auszuhalten. Das führt längerfristig zu gelasseneren Einschätzungen von Situationen und verhindert Stressreaktionen im Gehirn. In solcher Selbstverantwortung wird das Leben freier, und die daraus entstehende Kreativität kommt der Gesellschaft zugute. Denn nicht in der ständigen Zustimmung oder im ängstlichen Stillhalten, sondern in den Reibungszonen am Rande des Mainstreams entwickelt sich Neues. Insofern ist ein Abweichen nicht einfach nur Aufmüpfigkeit, sondern Lebenskunst.
Warum kann ein Jetzt-reicht-es wohltuend sein?
Physiologisch können aufgestaute Emotionen zu organischen Störungen führen. Hält dies länger an, wirkt sich das ungünstig auf die Stressregulation aus. Der Volksmund sagt ja auch, dass ein Donnerwetter die Luft reinigt. Insofern ist es gesünder, seine Meinung klar zu formulieren. Wenn es dann raus ist, was schon lange gesagt werden musste, breitet sich nach einem ersten „Ach du liebe Zeit, was habe ich da gesagt?“ mit der entstandenen Klarheit oft ein Wohlgefühl aus. Denn die Ängste und Sorgen, die eine offene Meinungsäußerung verhinderten, stellen sich nicht selten als unbegründet heraus.
Wer jedoch, ohne zu explodieren, entschieden Nein sagt, Zivilcourage zeigt, sich mutig in Diskussionen einmischt, braucht ein gutes Selbstwertgefühl. Es ist nicht leicht, mit seiner Meinung auch mal allein dazustehen, gegen den Strom zu schwimmen und Auseinandersetzungen zu führen, bei denen es keine Zustimmung gibt.
Was tun, wenn man hin und her gerissen ist, zwischen Ablehnen oder Zustimmen?
In solch einem Fall ist es am besten, über seine eigene Ambivalenz zu sprechen, zum Beispiel: „Ich bin mir jetzt unsicher, was hier das Richtige ist“, und die anderen zu fragen, wie sie es sehen, was sie denken. Das ist souverän. Oft festigt sich über Argumente der anderen die eigene Sicht. Das bedeutet auch, nicht nur nein sagen, sondern ebenso zustimmen zu können, wenn es zur eigenen Überzeugung passt. Ja oder nein sagen heißt sich entscheiden, wählen, gestalten, auf die eigene Überzeugung, die eigene Wahrnehmung, auf das eigene Bauchgefühl zu hören.
Manchmal steigt das Gefühl auf, sich rechtfertigen, sich erklären zu müssen, wenn wir anderer Auffassung sind. Wie kann man dem entgegenwirken?
Es kommt ein wenig auf die Erwartung der anderen an. Wer bekannt dafür ist, dass er seine Meinung offen sagt, von dem wird seltener erwartet, dass er das begründet, als bei dem, der sich nicht oft äußert. Es braucht ein längeres Üben, bis man im Neinsagen sicherer wird. Förderlich dafür ist, mehr zu diskutieren. Das hilft, klarer im Denken zu werden, die eigenen Argumentationen zu schärfen, sich eine Meinung zu erarbeiten und Stellung zu beziehen. Und sich vor Augen zu halten, dass wir anderen oft mehr Macht zugestehen, als sie tatsächlich haben. Das nämlich stärkt das Selbstbewusstsein.
Um innere Klarheit und Kraft zu fördern, lassen sich körperzentrierte Übungen wie Qigong oder Yoga einsetzen, die uns achtsamer werden lassen. Sie helfen, sich ruhig und freundlich oder bewusst emotional in Auseinandersetzungen zu positionieren und dabei durchaus ein Nein zu riskieren. Wir werden dadurch nicht streitlustiger, sondern bekommen Lust, die eigene Meinung offen zu vertreten.
Wer schweigt, stimmt zu – so lautet ein bekanntes Sprichwort. Nun gibt es aber Unterschiede zwischen politischen, beruflichen oder privaten Situationen.
In diktatorischen Regimen kann es lebensrettend sein zu schweigen. Doch in unserem Alltag gilt: Wer seine Meinung nicht sagt, täuscht im gewissen Sinne den Chef, den Partner, den Nachbarn, denn so nehmen die anderen an, dass es eine Übereinstimmung im entsprechenden Kontext gibt. Das kann zur Folge haben, dass der Chef seinen Mitarbeiter für belastbarer hält, als er wirklich ist. In einer Partnerschaft kann Schweigen längerfristig sogar zur Trennung führen, da sich Erwartungen aufbauen, die nicht erfüllt werden können. Ein spätes Aufbegehren gegen ein falsches, trügerisches Bild erleben viele dann als Affront und als Ende der Liebe. Deshalb wird geschwiegen und versucht, dem eigenen Empfinden widerstrebende Rollen zu erfüllen, woraus nicht selten ein innerer Groll gegen den Partner erwächst, der ja sozusagen verhindert, dass man seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend authentisch lebt. Solche unterdrückten Emotionen haben oftmals psychosomatische Krankheiten zur Folge.
Und doch ist es manchmal besser, die Wahrheiten nicht zu sagen?
Jeder muss seine eigene Kraft kennen und einschätzen, ob er den Gegenwind aushält, wenn er seine Meinung sagt. Es kann durchaus klug sein, vorerst zu schweigen, wenn absehbar ist, dass der andere auf Kritik oder ein Nein aggressiv reagiert. Da ist es besser, die richtige Gelegenheit abzuwarten und diplomatisch die Kontroverse gut vorzubereiten. Dennoch: Wer seine Meinung generell nicht sagt, vergibt sich die Chance zur Reifung durch die verbale Auseinandersetzung. Oft malen wir uns in Gedanken katastrophale Folgen aus, wenn wir Kritik anbringen oder anderer Auffassung sind. Tatsächlich passiert meist nicht das Schlimme, das man erwartet, vielmehr steigt bei den anderen die Achtung.
Warum kann ein Schweigen, ständiges Verbiegen erschöpfen und im schlimmsten Fall sogar zum Burnout führen?
Ein Nein fällt häufig schwer, weil man nicht als Versager dastehen will, nach dem Motto: Die anderen schaffen es doch auch! Am Anfang sagt man sich, dass man nur eine Weile über seine Kräfte arbeitet. Tauchen dann die ersten Anzeichen von Erschöpfung auf, beginnt eine Selbsttäuschung über den eigenen Zustand, weil man jetzt schon weit gegangen ist – und das soll alles umsonst gewesen sein? Niemand soll die Erschöpfung merken, um nicht als „Weichei“ dazustehen, um nicht mit möglichen Nachteilen zu rechnen. Ein Verbergen des wirklichen Befindens zur Aufrechterhaltung der „Maske“, wie ich es in meinen Büchern beschrieben habe, kostet Kraft. Insofern kann ein verpasstes Nein zum richtigen Zeitpunkt oder ein dauerhaft fehlendes Eintreten für die eigenen Bedürfnisse einen Burnoutprozess befördern.
Burnout trifft eben nicht nur Arbeitssüchtige und Hyperaktive, sondern auch die Stromlinienförmigen, die mit der Passt-schon-Tendenz. Mit einem „Bis hierhin und nicht weiter“ schaffen wir innere Freiräume, innerhalb dieser Grenzen können wir uns selbstbewusster und kreativer bewegen.
Manfred Nelting, geb. 1950 in Hamburg, ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Naturheilverfahren, Homöopathie. Veröffentlichungen, unter anderem: Burnout – wenn die Maske zerbricht. Goldmann, München 2014.