Nennen wir ihn Marc Kühn. Kühn war ein normaler Teenager, bis er mit 17 Jahren eine Depression entwickelte und erheblich an Gewicht – Kummerspeck – zulegte. Als mit viel Sport und immer weniger Essen die Pfunde purzelten, geriet er jedoch in eine unaufhaltsame Abwärtsspirale. Er wog schließlich nur noch 45 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,80 Meter. Der Alltag wurde zusehends schwieriger, der Körper machte nicht mehr mit. Glücklicherweise überredete ihn seine an Bulimie erkrankte Schwägerin, eine…
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Körper machte nicht mehr mit. Glücklicherweise überredete ihn seine an Bulimie erkrankte Schwägerin, eine Beratungsstelle an der örtlichen Uniklinik aufzusuchen. Dort diagnostizierte ihm der Arzt eine Magersucht, und auch seine Depression war nicht geheilt. „Die Scham war am Anfang schon groß. Ich dachte immer, an einer Essstörung erkranken doch nur weibliche Models“, erinnert sich der heute 28-Jährige.
Tatsächlich werden die meisten psychischen Krankheiten bei Frauen diagnostiziert. Von der Depression sind laut den Zahlen des Robert-Koch-Instituts etwa doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen; pro Jahr wird bei acht Prozent der Frauen und vier Prozent der Männer eine solche Krankheit festgestellt. Auch Angst- und Essstörungen gelten als „typisch weiblich“. Nur jede zwölfte Person mit Essstörungen ist laut Statistik männlich. Lediglich Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie die antisoziale Persönlichkeitsstörung und Suizide findet man häufiger bei Männern. Insgesamt wird laut einer aktuellen Studie der TU Dresden derzeit pro Jahr bei 33 Prozent der Frauen, aber nur bei 22 Prozent der Männer eine psychische Störung diagnostiziert.
Dieses Ungleichgewicht wird einerseits damit erklärt, dass Mädchen häufiger von Missbrauchserfahrungen betroffen sind und Frauen darum tatsächlich häufiger psychische Leiden entwickeln. Zudem sind sie trotz Emanzipation und Gleichberechtigungsbemühungen immer noch schlechter mit sozialen und materiellen Ressourcen ausgestattet – auch das kann in ein psychisches Leiden münden. Schließlich spielen bei der Entwicklung von Depressionen und Angststörungen Hirnbotenstoffe wie Serotonin oder Dopamin eine Rolle, die wiederum von den weiblichen Geschlechtshormonen Östrogen und Progesteron beeinflusst werden. „Depressionen sind bei Jungen vor der Pubertät etwa gleich häufig wie bei Mädchen“, sagt Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der psychosomatischen Schön-Klinik Roseneck. „Erst mit dem Eintritt in die Pubertät, wenn vermehrt Geschlechtshormone ausgeschüttet werden, steigt die Erkrankungsrate bei den Mädchen stark an.“ Diese Unterschiede erklären jedoch nur zu einem Teil, warum bei Männern so viel seltener eine psychische Störung diagnostiziert wird als bei Frauen.
Mittlerweile wird immer deutlicher, dass die Zahl der männlichen Betroffenen schlichtweg unterschätzt wird. So hat etwa Alison Field, Epidemiologin am Boston Children’s Hospital, kürzlich in einer Studie aufgedeckt, dass mittlerweile auch viele junge Männer übermäßig um ihr Äußeres besorgt sind und häufig auch schon ein unnormales Essverhalten an den Tag legen. In der Analyse gaben fast 18 Prozent der 5500 männlichen Befragten an, extrem auf ihr Aussehen und ihr Gewicht zu achten. Drogen- und Alkoholkonsum sowie depressive Verstimmungen waren die Folge. Fast drei Prozent hatten in der Studie eine Binge-Eating-Störung, also unkontrollierbare Essanfälle. Doch außerhalb dieses Diagnosekriteriums gab sogar ein Drittel der jungen Männer zu, unregelmäßig sehr viel zu essen oder sich zu übergeben. „Die Ergebnisse zeigen, dass wir Jungen mehr berücksichtigen müssen“, sagt Field.
Jungen und Männer schämen sich ihrer „Frauenkrankheit“
Denn die Tatsache, dass die Essstörung in der öffentlichen Wahrnehmung als weibliches Problem verankert ist, hat zur Folge, dass junge Männer nicht die benötigte Hilfe und Unterstützung bekommen. Das haben die britischen Psychologinnen Ulla Räisänen und Kate Hunt in einer aktuellen Interviewstudie mit 39 Jugendlichen offengelegt. Sogar die Betroffenen selbst kämen oft nicht einmal auf die Idee, dass sie essgestört seien. Aber auch Eltern und Lehrer reagierten nicht angemessen. Und das liegt nicht nur an der Geschlechterbrille, mit der die Störung betrachtet wird, sondern auch daran, dass Männer oft ganz andere Symptome zeigen. Sie essen zwar auch weniger, treiben aber häufig exzessiv Sport – es gibt ein eigenständiges Krankheitsbild, die Sportanorexie, von der vor allem Männer betroffen sind.
Weil Männer seltener in der Praxis erscheinen und nicht die vertrauten Krankheitszeichen erkennen lassen, sind auch Ärzte kaum darin geschult, diese Krankheiten bei männlichen Patienten zu entdecken. Dabei hätten gerade die Hausärzte eine Schlüsselrolle bei der Erkennung solcher Leiden. „Wenn man die Krankheit früh diagnostiziert, verbessert das die Prognose ungemein“, so Räisänen. Gemäß ihrer Studie mussten die männlichen Patienten nach der Diagnose auch länger warten als die weiblichen Patienten, bis sie einen Therapieplatz erhielten.
Wie Essstörungen gilt auch selbstverletzendes, autoagressives Verhalten wie etwa das Ritzen als etwas, das nur Mädchen tun. „In den Medien, aber auch von medizinischen Experten wird häufig dieses geschlechtstypisierende Zerrbild reproduziert“, sagt Harry Friebel, Sozialwissenschaftler an der Universität Hamburg. „Aber auch Jungs ritzen sich, und zwar in zunehmendem Maße.“ Das besorgniserregende Verhalten, bei dem sich Jugendliche mit scharfen Gegenständen schneiden, sich kratzen oder beißen, beginnt häufig in der Pubertät. Etwa 200 00 Personen sind betroffen, andere Schätzungen gehen von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus. Forschung zum Thema gibt es kaum.
Dabei ist das Etikett „weiblich“ auch hier ein echtes Problem, es generiert ein Stigma der Unmännlichkeit. „Der Junge oder junge Mann kann aggressiver Täter sein – autoaggressives Opfer aber nicht“, meint Friebel. „Eine Sensibilisierung für selbstverletzendes Verhalten als männliches Problem ist deswegen schwierig.“ Offen ist, warum sich Jugendliche überhaupt selbst körperlich versehren. Friebel glaubt, das Verhalten sei Zeichen für Identitätsprobleme. Sie treten auch häufig bei essgestörten oder depressiven Patienten auf.
Wut und Reizbarkeit: Die Depression der Männer
Zwar gelten Depressionen heute nicht mehr als reine Frauenkrankheit. Prominente wie die Fußballspieler Sebastian Deisler und – auf dramatische Weise – Robert Enke haben gezeigt, dass Männer keinesfalls dagegen gefeit sind. Trotzdem herrschen auch hier noch stereotype Vorstellungen. Manche Experten gehen jedoch neuerdings davon aus, dass Männer fast genauso häufig an Depressionen erkranken wie Frauen. Anne Maria Möller-Leimkühler, Sozialwissenschaftlerin an der LMU München, erforscht seit Jahren die unterschätzten Männerleiden. Sie erklärt: „Depressive Männer haben eine andere Symptomatik. Sie sind seltener antriebslos und gleichzeitig unruhig wie Frauen, sondern eher aggressiv, reizbar, neigen zu Wutanfällen, Alkoholmissbrauch oder beleidigendem Verhalten.“ Sie spricht von einer „männlichen Depression“.
Christian Bauer, der ebenso anonym bleiben will wie Marc Kühn, litt zwar auch unter depressiven Schüben. Diese wurden aber von Schlafstörungen, Herzrasen und Kopfschmerzen begleitet. Gegenüber seiner Familie und seinen Freunden war der 41-jährige Manager ungeduldig und aufbrausend. Doch „männliche“ Symptome wie Reizbarkeit oder übersteigertes Risikoverhalten fehlen in dem Handbuch ICD-10, das Psychologen zur Diagnose von psychischen Leiden heranziehen. Würde man diese Symptome jedoch berücksichtigen, gäbe es tatsächlich so viele depressive Männer wie Frauen, das hat zumindest kürzlich eine Studie der University of Michigan mit 5700 Probanden aufgedeckt. Bei beiden Geschlechtern lag die Depressionsrate bei rund 30 Prozent. Ulrich Voderholzer schränkt allerdings ein: „Das Konzept der Männerdepression muss erst noch in weiteren Studien bestätigt werden.“ Denn in schweren depressiven Episoden hätten die männlichen wie weiblichen Patienten eben doch vergleichbare Symptome.
Es gibt noch einen weiteren Hinderungsgrund dafür, dass depressive Männer als solche wahrgenommen werden: „Männer haben eine geringere Selbstaufmerksamkeit und eine höhere Symptomtoleranz“, sagt die Münchner Forscherin Möller-Leimkühler. Zudem sind Männer seltener bereit, über ihre seelische Verfassung zu reden, das gilt als Tabubruch. „Eine psychische Erkrankung wird als Schwäche empfunden, und das entspricht natürlich nicht der Rolle als starker Mann, der die Kontrolle hat und autonom ist“, bestätigt Voderholzer. „Das stellt die ganze Identität infrage.“
Christian Bauer hörte nicht auf die Ratschläge seiner Familie, zu der auch Ärzte gehören. Sie alle merkten, dass etwas mit ihm nicht stimmte. „Depression ist eine Krankheit, die man nicht kennt. Man glaubt, man ist irgendwie nicht normal, und eine krankheitsbedingte Auszeit ist ja auch nicht gerade förderlich für die Karriere“, sagt er. Am Ende streikte sein Körper, er brach zusammen. Die Hausärztin überwies ihn umgehend an einen Psychiater. „Das war sehr schwierig. Ich war gewohnt zu funktionieren und fühlte mich als Versager.“
Genau dieses Gefühl, den eigenen Erwartungen nicht (mehr) gerecht werden zu können, und die Furcht, vor anderen blamiert dazustehen, ist bei Männern ein häufiger Auslöser für ihre Depression. Frauen erkranken eher an einer Depression, wenn sie eine soziale Krise durchleben, etwa wenn sie beruflich und familiär überlastet oder alleinerziehend sind und dabei wenig soziale Unterstützung von der Familie oder Freunden erhalten. Bei Männern kommt es häufiger zu einer depressiven Störung wegen fehlender Gratifikation: etwa wenn sie in der Arbeit gemobbt werden, wenig verdienen oder gar arbeitslos sind. Aber auch geschiedene und dadurch in ihrem Selbstwert verletzte Männer erkranken häufiger.
Leistungsdruck und Körperkult: Bin ich gut genug?
Dass die amtlichen Statistiken die Erkrankungshäufigkeiten von Männern bei psychischen Störungen erheblich unterschätzen, zeigt auch ein Blick auf die Suizidraten. Denn Männer nehmen sich dreimal so häufig das Leben wie Frauen – und in schätzungsweise 80 Prozent geht eine Depression voraus.
Das Unterschätzen der Krankheit führt auch zu einer schlechteren Versorgung der Betroffenen. „Wenn behandelt wird, dann spät, stationär und teuer anstatt früh, ambulant und günstig“, so Möller-Leimkühler. Laut Männergesundheitsbericht wird die Depression lediglich bei 30 bis 35 Prozent der Betroffenen diagnostiziert, und nur bei sechs bis neun Prozent wird die Krankheit angemessen behandelt.
Ob psychische Störungen bei Männern zunehmen, ist umstritten. „Klar ist nur, dass die Krankschreibungen und Frühberentungen aufgrund von psychischen Krankheiten in den letzten 20 Jahren dramatisch zugenommen haben“, sagt Voderholzer. Ob das aber eine tatsächliche Zunahme der Erkrankungen anzeigt oder nur eine bessere Aufmerksamkeit in der Gesellschaft mit der Folge, dass Männer sich heute eher in die Psychologenpraxis trauen und die Krankheiten auch besser erkannt werden, das ist heftig umstritten.
„Gefühlt nehmen Essstörungen bei Männern zu“, meint Andreas Schnebel, Psychologe und Vorsitzender des Bundesfachverbands Essstörungen. „Die Selbstoptimierung findet heute ja schon im Kindergarten statt, dann erzeugt die Schule Druck, und die Jobsuche ist heute schwieriger als früher. Obendrein müssen die Männer als ‚neue Väter‘ auch andere Rollen erfüllen.“ Und auch sie werden in der Werbung, durch spezielle Männermagazine und den Boom an Fitnessstudios zunehmend mit einem Körperkult konfrontiert, der sportliche Höchstleistungen und Waschbrettbäuche diktiert.
Autoaggressives Verhalten oder auch Depressionen könnten laut Harry Friebel durch die Krise der traditionellen Männlichkeitsrolle ausgelöst werden. „Der männliche Zwang zur Stärke und Dominanz ist den konventionellen männlichen Rollenmustern noch eingeschrieben, obwohl sich die Frauen in mancherlei Hinsicht bereits auf der Überholspur befinden“, sagt er. Das generiere depressiv machende Misserfolgserfahrungen. Auch Voderholzer sieht moderne Belastungsfaktoren: Familienverantwortung, Wegfall der Großfamilie, Mobilität, Jobunsicherheit – all das begünstigt die Entwicklung einer Depression für beide Geschlechter.
Andererseits würden aber auch mehr Störungen diagnostiziert. Etwa weil bei den Medizinern eine bessere Wahrnehmung herrscht. Aber auch weil Patienten heute eher wagen, sich zu einem psychischen Leiden zu bekennen – und dazu hat erstaunlicherweise die Diskussion um den „Burnout“ beigetragen. Zwar ist das Burnoutsyndrom keine anerkannte Krankheit. Die Berichterstattung darüber hat jedoch das Thema in die Öffentlichkeit getragen. „Auch wenn die übermäßige Arbeitsbelastung nicht beim Gros der Patienten eine tragende Rolle spielt, sondern andere Faktoren wie mangelnde Anerkennung und Jobunsicherheit, hat die Diskussion darüber geholfen, psychische Erkrankungen teilweise zu entstigmatisieren“, sagt Voderholzer. Und das ist wichtig, damit die Betroffenen sich trauen, über ihre Gefühle zu reden, Scham und Ängste zu überwinden und sich Hilfe zu suchen.
Wichtig sei zudem die Prävention, so Voderholzer. Vor allem der betrieblichen Gesundheitsvorsorge komme eine wichtige Rolle zu, Möller-Leimkühler sieht auch Möglichkeiten der Vorbeugung bei der Schulsozialarbeit sowie in Sportvereinen. Der Männergesundheitsbericht 2013 hat gezeigt, dass Männer keineswegs Präventionsmuffel sind, solange die Angebote an ihre Lebenswirklichkeit angepasst sind. Auch mithilfe des Internets können Ärzte und Therapeuten besser informieren, aufklären und beraten. „Gerade niederschwellige Angebote wie die Internetberatung nehmen mehr Jungs als Mädchen wahr“, berichtet der Münchner Psychologe Andreas Schnebel.