Mein Freund Max war noch nie bei einem Abiturtreffen. Nun jährt sich sein Abitur zum 25. Mal. Ich habe ihn überredet, zu dem dazugehörigen Fest zu fahren – und dafür muss ich jetzt mit. Man soll „mit Anhang“ kommen, und da Max derzeit keinen Anhang hat, soll ich mich zur Verfügung stellen.
Auf der Zugfahrt in Max’ Heimatstadt erzählen wir uns Schulzeitgeschichten. Max erzählt von seinem Chemielehrer, der bei einem Experiment seinen Daumen verlor. Daraufhin, erzählt Max farbenfroh, wurde der große Zeh des…
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seinen Daumen verlor. Daraufhin, erzählt Max farbenfroh, wurde der große Zeh des Chemielehrers amputiert und dorthin operiert, wo früher der Daumen gewesen war.
Der Chemielehrer trug immer Sandalen mit Socken. Max kassierte eine Fünf nach der anderen, weil er sich nicht konzentrieren konnte, sondern den Chemielehrer immer anstarren musste – und zwar nicht den Zehdaumen, sondern die leere Stelle am Fuß des Chemielehrers. „Die Socke warf Falten über dem Nichts“, sagt Max im Zug, immer noch beeindruckt.
Unglücklich verliebt
Ich erzähle von Andreas, in den ich unglücklich verliebt war, wegen dem ich mindestens drei Kilo Tagebuch vollschrieb, darunter mehrere Gedichte, die ich erfolglos der Bravo zum Abdruck anbot. Andreas aber war, wie alle, in Kati verliebt, in Kati mit dem seidenen Haar und der reinen Haut. Kati und Andreas wollten später nach Miami auswandern. Ich habe Andreas gegoogelt. Er ist nicht in Miami, sondern in einem Bezirksamt in Dortmund.
Wie in mich war auch in Max niemand verliebt. Wie ich hatte auch Max Pickel mit Eiterwipfeln an der Backe und vom Hals abwärts einen aus den Fugen geratenen Pubertätskörper, den er mit zeltartigen T-Shirts zu umspielen versuchte; mit diesen Achtziger-Jahre-T-Shirts, auf denen Wörter in eiscremefarbenen Großbuchstaben mit Ausrufungszeichen prangten: FUN! stand da oder NO FEAR!. Diese Botschaften sollten unsere Gemütslage betiteln und waren natürlich haushoch gelogen. Jetzt im Zug finde ich, dass man eigentlich vor jemandem, der NO FEAR! auf seinem T-Shirt stehen hat, zu Recht Angst haben sollte. Und ich stelle mir vor, was gewesen wäre, wenn auf unseren T-Shirts wahrheitsgemäß VERZWEIFLUNG! oder FÜRCHTERLICHES UNWOHLSEIN! gestanden hätte, mit Ausrufungszeichen und in Pistazieneisgrün.
Die U-20-Gesichter von damals
Max, erzählt er, war in eine Michaela verliebt (seidenes Haar, reine Haut). Irgendwann traute er sich, sie anzusprechen. Irgendwann hat er sich direkt vor sie hingestellt, in seinem Zeltshirt und mit einem Satz, den er nächtelang erwogen hatte, einem Satz von, aus Max’ Sicht, so unübersehbarer Schönheit und Wahrheit, dass Michaela dem Satz und auch Max auf der Stelle verfallen müsste. Max stand also da mit all seinem zusammengenommenen Mut und sagte feierlich: „Du, Michaela, ich habe jetzt übrigens die Bastlerzeitschrift Mechanikus im Abo.“ Max und Michaela hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen von Schönheit. Michaela schaute Max an, als sei er ein mannshoher Pickel, und dann hat sie ihn ausgelacht, sehr lange und sehr laut. Max lief weg, ungewöhnlich behände, alles wackelte beim Weglaufen, nicht nur der Mut, nicht nur der Bauch, sondern das ganze niederträchtige Leben.
Max’ Abiturfest findet in einer Kneipe statt, und weil ich der Anhang bin, kann ich in Ruhe zuschauen. Max und ich sind gleich alt. In den Gesichtern seiner Mitschüler meine ich einerseits noch die U-20-Gesichter erkennen zu können, andererseits erahnt man schon die, die man in zwanzig Jahren tragen wird. Es ist ein schönes Fest. Immer wieder höre ich diese beiläufigen Kürzestaussprachen, die ich so nur von Klassentreffen kenne: „Sag mal, warum hast du eigentlich in der Achten nicht mehr mit mir geredet?“ „Hä? Du hast doch nicht mehr mit mir geredet!“ Oder: „Ich habe ja damals ziemlich darunter gelitten, dass du immer so scheiße zu mir warst.“ „Ich war nur scheiße zu dir, weil ich vollkommen verknallt in dich war.“
Max unterhält sich ausgelassen mit dem sehr zusammengeschrumpelten Chemielehrer, der immer noch Socken in Sandalen trägt, und tatsächlich wirft die eine Socke Falten über dem Nichts. „Ist Michaela auch da?“, frage ich. „Warte mal“, sagt Max und schaut sich um, „ich glaube, das ist die da hinten.“ Er deutet auf eine Frau, die jetzt nicht mehr seidig aussieht, sondern eher nach Dortmunder Bezirksamt. Ich ertappe mich dabei, dass mich das freut.
„Und? Was machst du so?“
Ich überlege, was wäre, wenn es doch Zeitreisen gäbe. Ich stelle mir vor, wie ich neben dem jungen, dicken, pickligen Max hätte herlaufen können, der vor Michaelas lautstarker Gehässigkeit floh. „Guten Tag, Max, ich komme aus der Zukunft“, hätte ich, etwas außer Atem, gesagt. „Ich will dich nur wissen lassen, dass es tatsächlich eine Sensation ist, die Bastlerzeitschrift Mechanikus im Abo zu haben. Und ich will dich wissen lassen, dass du in ungefähr dreißig Jahren über genau diese Michaela, vor der du jetzt davonläufst und die dir gerade scheinbar das ganze Leben verpfuscht hat, sagen wirst: ‚Warte mal, ich glaube, das ist die da hinten.‘“ Wahrscheinlich hätte das kein bisschen getröstet. Wahrscheinlich wäre Max noch etwas schneller gerannt, um mich, die durchgedrehte, steinalte Tante, zügig loszuwerden. Die Zeitangabe „in dreißig Jahren“ macht einen 14-Jährigen nur verzweifelter. „In dreißig Jahren“ klingt in 14-jährigen Ohren wie „nie und nimmer“.
Auch in meinen gut dreimal so alten Ohren klingt es plötzlich unfassbar, dass ich eine Fläche von dreißig Jahren locker überblicken kann. Leider ist auf dieser Fläche plötzlich gar nichts zu erkennen, sie sieht grau und landschaftslos aus, und ich komme mir dementsprechend leer vor. Eine ehemalige Mitschülerin von Max drückt mir ein Bier in die Hand und fragt: „Und? Was machst du so?“
„Ich werfe Falten über dem Nichts“, möchte ich düster antworten, aber ich sage: „Ich bin ein Anhang.“
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker