Bedrohliche Nähe

Therapiestunde: Ein Mann Mitte 30 ist sich „selbst abhandengekommen“. Welche Rolle spielt dabei seine Homosexualität?

Illustration zeigt einen Mann, der unter Regenwolken und einem Regenbogen steht.
Nicht immer leicht: Als Homosexueller in der heteronormativen Gesellschaft zurechtzukommen. © Michel Streich

Herr M., ein 35-jähriger gutaussehender, großgewachsener Mann mit athletischem Körperbau und schelmischem Blick, kommt pünktlich zum Erstgespräch. Er erläutert mir, dass ich ihm von der Schwulenberatung empfohlen worden sei, die er im Rahmen einer Erstberatung aufgesucht habe.

„Ich kann mich an nichts festhalten, habe mich verloren und leide unter krassen Stimmungsschwankungen“, beschreibt er seine psychische Verfassung. Als Jugendlicher auf dem Lande aufgewachsen, fiel ihm mit 13 Jahren zum ersten Mal seine…

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Als Jugendlicher auf dem Lande aufgewachsen, fiel ihm mit 13 Jahren zum ersten Mal seine Andersartigkeit auf. Er sei auch immer wieder mit seiner Umgebung in Konflikt geraten. In einer Phase, in der Anpassung alles ist, schien ihm Anpassung unmöglich. Dann habe er mehrere Jahre im Verborgenen eine geheime homoerotische sexuelle Beziehung geführt, bis er sich mit Mitte 20 geoutet habe. Heute schwanke er zwischen sexsüchtigem Verhalten, welches vor allem in der Anonymität stattfinde, und dem Wunsch nach Partnerschaft und Intimität.

In bisherigen Beziehungen sei er immer schnell beunruhigt gewesen und habe zu Kontrollverhalten und Verlustangst geneigt: „Ich drehe dann vollkommen am Rad, wenn mein Partner nicht sofort auf eine WhatsApp-Nachricht reagiert.“ So könne er Partnerschaften nie lange halten und gehe dann zurück in die Welt der Datingportale und Sexpartys.

Wir sprechen darüber, dass es nie eine leichte Aufgabe ist, die beiden grundlegenden Bedürfnisse nach Autonomie einerseits und Bindung andererseits unter einen Hut zu bekommen. Nicht von vornherein auf die gängigen gesellschaftlichen Ziele (Heiraten, Kinderplanung) orientiert zu sein wirft die Fragen auf, welche persönlichen Ziele er innerhalb des großen Spannungsbogens homosexuellen Lebens verfolgen möchte, wofür er diese Freiheit verwenden will und wie er das eigene Leben gestalten möchte.

Welche Lebenserfahrungen haben zum Vermeiden von Nähe geführt?

Herr M. schildert, wie gut es ihm tut, einen Raum in den Sitzungen zur Verfügung gestellt zu bekommen, in dem er sich selbst und die widerstrebenden inneren Bedürfnisse zeigen kann. Die von der buddhistischen Sicht beeinflusste Haltung, dass Verlangen, Eifersucht, Wut und Angst Gefühle sind, die kommen und auch wieder gehen, hilft ihm, sich selbst in all seinen Ambivalenzen anzunehmen.

Ich ermutige ihn, eigene Wünsche und Vorstellungen zu erkunden und nach Antworten auf die Frage „Was fange ich mit meiner Freiheit an?“ zu suchen. In den darauffolgenden Monaten nahm Herr M. seinen alten Traum vom Fotografieren wieder auf und veröffentlichte im Rahmen eines Projektes ein Buch, das von der Vielfalt der verschiedenen Lebensformen in der LGBTIQ-Community zeugt.

Er ist stolz, dass dieses Buch einer anderen Definition von dem, was schön ist und schön sein kann, Ausdruck verleiht. So kann er sich mit Selbstbehauptung gegen Widerstände stellen und sein Modell vertreten: „Nehmt mich oder lasst es!“, und verfällt daraufhin immer weniger in Autoaggressionen. Es gelingt Herrn M. immer besser, sich und seine Bedürfnisse zu zeigen.

Er entwickelt ein stabileres Selbstbild und kann sich in seiner Ambivalenz annehmen: „Einerseits brauche ich das Geheimnis und das Anonyme, und andererseits habe ich den Wunsch nach einer großen Liebe!“ Er sieht, wie wichtig es ist, in Kontakt mit sich selbst zu kommen, weil er dann eher in der Lage ist, gut zu sich zu sein und sich selbst treu zu bleiben.

Im weiteren Verlauf der Therapie werden die Lebenserfahrungen, die zum Meiden von Nähe geführt haben, lebendig. In diesem Zusammenhang sprechen wir über Herrn M.s Mutter. Sie litt an Depressionen, war überbehütend und liebessüchtig. Weil er sie trösten und aufheitern musste, hat er heute in zwischenmenschlichen Beziehungen Schwierigkeiten, sich emotional abzugrenzen, aus Angst, abgewertet oder verlassen zu werden. Er fürchtet: „Wenn ich nicht verständnisvoll genug bin, bleibe ich allein!“ In seiner Kindheit hat er kaum Grenzen ausgebildet oder verteidigt und die Einprägung „Nähe ist bedrohlich!“ übernommen.

Sich in seiner Ambivalenz ­annehmen

Indem ich die Angst vor der Nähe in den Therapieraum hole, wird die Ambivalenz zwischen Rückzug einerseits und dem Wunsch nach Verbundenheit andererseits in der Beziehung zu mir sichtbar. Wenn Herr M. sehr verschlossen ist, sage ich: „Wenn Sie sich nicht zeigen, erschöpft mich das. Ich fühle mich im Gespräch auf mich allein gestellt und leer. Einerseits wollen Sie Nähe und Beziehung, andererseits ziehen Sie sich so weit zurück. Ich will Sie verstehen. Ich will mit Ihnen gemeinsam in einem Boot sitzen.“ Wenn es Herrn M. gelingt, etwas von sich zu zeigen, melde ich mich: „Jetzt erlebe ich Sie viel näher an mir dran. Jetzt fühle ich mich Ihnen ganz nah.“

Ich setze mich als „Resonanzkörper“ in der Therapie als einer Art Sicherheitszone ein und reagiere anders als seine Mutter, so dass Nähe als weniger bedrohlich empfunden werden kann. Im Freundeskreis, mit Arbeitskollegen und anderen Bezugspersonen ist es ein Gewinn für Herrn M., nicht mehr nur ganz oder gar nicht in Beziehung sein zu können, sondern sowohl Nähe als auch Distanz besser aushalten zu lernen.

Die therapeutische Beziehung wird damit zu einer ersten Anlaufstelle für die Gestaltung neuer zwischenmenschlicher Strategien. Durch die korrigierende Erfahrung kann Herr M. während der Therapie eine eineinhalbjährige zärtliche Beziehung zu einem jungen Mann wagen und sich auf die Bindung einlassen – ein echter Meilenstein für ihn! Doch die Partnerschaft beziehungsweise ihr Scheitern bringt ihn auch in Kontakt mit seinen Verlustängsten und Kontrollzwängen: „Ich genüge nicht!“ Daraufhin versucht er sich mittels Drogen und Sex selbst zu beruhigen sowie Kontrolle und Distanz zu gewinnen.

In unseren Gesprächen wird ihm – und auch mir – deutlich, dass seine Grund­unsicherheit, die das Aufbauen und Halten von intimen Beziehungen erschwert, auch wesentlich mit dem schweren Kampf zu tun hat, den Minderheiten in einer immer noch heterosexuell dominierten Gesellschaft auszufechten haben. Herr M. kann seine Brüche und Unberechenbarkeiten als automatisierte Reaktionsmuster auf die vielfältigen Belastungen sehen, mit denen er diesen Druck ausagiert. Er lernt, Spannungen auszuhalten und sich mit anderen zusammenzutun, um sich auch auf künstlerischem Wege für eine vielfältigere und tolerantere Gesellschaft zu engagieren, in der alle Menschen selbstbestimmt leben und lieben können.

Verena Volp ist Diplompsychologin und arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Berlin

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl