Mein innerer Kern

Gibt es ein wahres Selbst? Wissenschaftler haben da ihre Zweifel!

Die Illustration zeigt eine Frau, die bei einem weiblichen Skulpturenkopf, der aussieht wie sie, das Gesicht aufklappt und in ihren inneren Kern schaut
Ist da ein authentisches Ich hinter all den Umhüllungen? © Ramona Ring

Haben Sie schon mal den Hollywoodklassiker Grease gesehen? Da werden wir Zeugen einer erstaunlichen Wandlung. Die bieder-brave, herzenswarme Sandy mutiert zu einem bad girl in Leder, das es krachen lässt. Zur Freude des bad boy Danny. Doch irgendwie nimmt man der guten Sandy das wilde Mädchen nicht ab. Es wirkt so, als sei dieser Teil ihrer Persönlichkeit nicht authentisch. Als sei es nicht ihr wahres Selbst.

In einem ganz anderen Fall vollzog sich die Veränderung in die entgegengesetzte Richtung: bei der…

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sich die Veränderung in die entgegengesetzte Richtung: bei der Verwandlung des Saulus zum Paulus, beschrieben im Neuen Testament. Wenn sich ein Mensch von einer unmoralischen zu einer schönen Seele verwandelt, „dann finden das die allermeisten Menschen toll“, bringt es Nina Strohminger von der University of Pennsylvania auf den Punkt. Der Mensch hat sozusagen zu seinem wahren Selbst gefunden. Dieses wahre Selbst hat unter der Maskerade unseres täglichen Verhaltens „einen moralischen Kern“, wie die Psychologin die Botschaft neuer Studien resümiert.

Wahrscheinlich hat sich jeder schon mal die Frage nach dem wahren Selbst gestellt. Durchkämmt man in Buchläden die einschlägigen Regale, wird man fast erschlagen von Werken, die Selbstfindung zum Credo des westlichen Individuums erheben. Die unzähligen Ratgeber verweisen vor allem auf eines: Dass man seinem wahren Selbst treu folgen soll. Man sollte Dinge tun, die man sich tief im Herzen wünscht, die den ureigenen Träumen und Talenten entsprechen und die man guten Gewissens vertreten kann. Lehrerin oder Mutter oder Programmiererin zu sein zum Beispiel. Doch es geht noch weiter, meint Strohminger: „Da werden Wesenszüge eines angeblichen wahren Selbst gesucht, die unter Kindheitstraumen und dem Schmutz gesellschaftlicher Zwänge verborgen sein sollen.“ Aber gibt es ein solches Selbst überhaupt? Das Konzept „ist wissenschaftlich unhaltbar“, sagt die Psychologin. Da sei nichts, was wir als wahres Selbst in uns entdecken könnten.

Rassistischer, grausamer, großzügiger

Seit geraumer Zeit allerdings finden Psychologen hinter dem Terminus einen tiefgehenden Glauben. Beharrlich unterscheiden Probanden in Studien zwischen Merkmalen, die sie dem wahren Selbst zuordnen, und solchen, die sie eher einem falschen Selbst beimessen. Sie eröffnen mithin fein getrennte Schubladen, in die sie einzelne Elemente des Selbst packen, geordnet nach Wichtigkeit, von zentral bis peripher, von authentisch bis bedeutungslos.

In ihren ersten Studien konfrontierten Strohminger und ihr Kollege Shaun Nichols Probanden mit Gedankenspielen. Die Teilnehmenden sollten sich vorstellen, sie würden zufällig einem alten Freund begegnen, den sie seit Jahrzehnten nicht gesehen haben. Die Frage: Wie müsste sich der Freund charakterlich verändert haben, damit er kaum mehr erkennbar wäre? Die klare Antwort: Veränderungen in moralischen Merkmalen – zum Beispiel rassistischer, grausamer, großzügiger oder empathischer zu werden – wiegen weit mehr als andere Persönlichkeitsveränderungen, wie neue Interessen zu entwickeln oder ein nachlassendes Gedächtnis.

Moralische Normen scheinen im allgemeinen ­Verständnis die eigentliche Identität eines Menschen auszumachen – sogar mehr als Persönlichkeitsmerkmale wie Gewissenhaftigkeit oder Offenheit für ­Neues. „Das kann erklären“, sagt Strohminger, ­„warum viele Menschen keine Psychopharmaka ­nehmen ­würden, die ihre moralischen Fähigkeiten mindern könnten.“

Ein Instinkt für Fairness

Zu den Befunden passen weitere Studienergebnisse. Demnach begegnen sich Menschen erst dann richtig „tief“, wenn sie ein Bild von den moralischen Werten des Mitmenschen bekommen. Zwar sind die klassischen Persönlichkeitsmerkmale auch wichtig, doch fallen sie gegenüber den moralischen Werten des wahren Selbst ab.

Diese moralischen Werte entwickeln sich ab der Kindheit. Sie sind individuell und hängen von persönlichen Erfahrungen ab. Schon Babys haben mit nicht einmal einem Jahr einen universellen Instinkt für Fairness. In den folgenden zehn bis fünfzehn Jahren baut sich dann ein individueller ethischer Kodex auf, abhängig von den Werten, die den Heranwachsenden vermittelt werden und die sie von Gleichaltrigen übernehmen. Sie lernen, platt gesagt, was richtig und falsch ist.

Zuweilen kommen dabei Zustände heraus, die einen förmlich zerreißen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Mark ist tiefreligiös, empfindet Homosexualität als große Sünde und predigt das, wo immer er kann. Dumm nur, dass Mark selbst sich zu Männern hingezogen fühlt. Was macht nun sein wahres Selbst aus?

In etlichen Studien hat der Philosoph Joshua Knobe von der Universität Yale festgestellt: Probanden vom rechten gesellschaftlichen Spektrum sehen im wahren Selbst eher konservative ethische Werte – ­also Marks Religiosität. Probanden vom linksliberalen politischen Spektrum erkennen Marks authentisches Wesen in seiner Homosexualität, der er folgen sollte. Die Moral des Einzelnen entscheidet also letztlich über die Einschätzung des wahren Selbst der anderen.

Erstaunlicherweise „ist die Definition des wahren Selbst als moralisches Selbst in verschiedenen Ethnien und Kulturen ziemlich robust“, sagt Strohminger. Ob in Kolumbien, Singapur, Russland oder ­Baden-Württemberg: Mit dem wahren Selbst meinen die Leute stets das Gleiche. Und auch ausgesprochene Menschenverächter gehen davon aus, dass das wahre Selbst moralisch ist – und gut.

Das Schälen der Zwiebel

Studien belegen: Probanden stufen positive Persönlichkeitsmerkmale als zentraler für das echte Selbst ein als negative, unerwünschte Eigenschaften. ­„Gute“ Merkmale definieren nach Ansicht der Studienteilnehmer das wahre Wesen eines Menschen. Und ­dieses gute und moralische Selbst hat eine innere Stimme, die uns früher oder später auf den richtigen Weg im Leben führt.

Tatsächlich teilen Kinder wie Erwachsene die ­Ansicht, dass sich die Charaktermerkmale eines Menschen im Laufe des Lebens verbessern. „Die ­Leute scheinen intuitiv zu glauben, dass die positiven ­Eigenschaften des wahren Selbst irgendwann durchscheinen“, sagt Strohminger.

Fragt man Probanden in Studien, welche Anteile des Selbst einen Menschen „schlechter“ werden ­lassen, sind das Eigenschaften des falschen Selbst. Sie korrumpieren demnach unseren eigentlichen Kern. Wird ein Rüpel allerdings zu einer besseren Person – etwa zu einem treusorgenden Familienvater –, dann machen die Probanden die Merkmale des wahren Selbst dafür verantwortlich. „Das wahre Selbst ist nicht immer und überall sichtbar“, sagt Strohminger. Es liegt nicht auf dem Präsentierteller, aber man kann es enthüllen. Es zu finden gleicht dem Schälen einer Zwiebel: Hülle um Hülle schält sich ab, bis der Kern sichtbar wird.

Selbst und Sinn

Die Vorstellung vom wahren Selbst kann beispielsweise mit erklären, warum die meisten Menschen die Persönlichkeit ihres Partners nachweislich viel unrealistischer, weil wohlwollender beschreiben, als das Außenstehende tun. Denn Partner fokussieren sich offenbar partout auf den guten Kern des oder der Geliebten. „In gesunden Beziehungen ist das okay“, sagt Nina Strohminger, „in Beziehungen mit einem gewalttätigen Partner natürlich verheerend.“

Grundsätztlich ist es sinnvoll, in anderen das moralische Selbst als das wahre Selbst zu erkennen. „Wir fokussieren uns auf die ethischen Werte der Menschen, weil wir herausfinden wollen, wie sie als soziale Partner wären“, sagt Strohminger. Deshalb hält sich die Vorstellung vom wahren Selbst beharrlich in unserer Gedanken- und Gefühlswelt. Und auch weil sie positive Emotionen auslösen kann. In Studien der US-Psychologin Rebecca Schlegel berichten jene Probanden von Wohlbefinden und Lebenssinn, die das Konzept des wahren Selbst stark verinnerlicht haben. In anderen Studien stehen Probanden überzeugt hinter einer Entscheidung, die sie auf dem Fundament des wahren Selbst getroffen haben.

„Der Glaube ans wahre Selbst könnte eine entscheidende Basis gegenseitigen Vertrauens sein“, vermutet Nick Haslam von der University of Melbourne in Australien. Dieser Glaube in eine gütige, wohlwollende soziale Welt, an das Gute im Menschen sei womöglich in allen von uns fest verankert. Wird er traumatisch erschüttert, kann das schlimme seelische Folgen haben.

Vom Wandel zum besseren Menschen

Psychologin Mina Cikara möchte das Konzept vom wahren Selbst praktisch nutzen. Sie erforscht, wie und warum das eigene Ich in der Dynamik von Gruppen oft untergeht und nicht mehr zur Geltung kommt. Deshalb nehmen Menschen innerhalb einer Gruppe oft viel radikalere Positionen ein, als sie als Individuen vertreten. In diesem Zuge werden Mitglieder anderer Gruppen oft geächtet, angefangen bei den Anhängern rivalisierender Fußballvereine bis hin zu Auseinandersetzungen auf der weltpolitischen Bühne. Besonders stark betroffen von derlei Anfeindungen sind Menschen anderer Ethnien und Religionen.

Zwei Monate nach dem islamistisch motivierten Massaker im kalifornischen San Bernardino im Dezember 2015 befragten Cikara und ihr Mitarbeiter Julian De Freitas mehr als 1000 weiße US-Amerikaner. Die Wissenschaftler wollten wissen, wie sehr die Befragten sich von Menschen, die sie als „Araber“ wahrnahmen, bedroht fühlten. Die Probanden bekamen Geschichten zu lesen, in denen sich Menschen zum Besseren wandeln – entweder ein weißer US-Amerikaner, ein Mensch aus einem arabischen Land in seiner Heimat oder ein arabischstämmiger Immigrant in den Vereinigten Staaten. Dann wollten die Forscher von den Studienteilnehmern wissen: Ist dieser Wandel auf das wahre Selbst der Personen zurückzuführen oder auf ihr peripheres Selbst?

Die Probanden gaben an, dass ihrer Meinung nach das wahre Selbst hinter der moralischen Besserung des weißen Amerikaners stecke – aber auch hinter der des arabischstämmigen Amerikaners und des Arabers im Heimatland. Obwohl diese als Mitglieder einer stereotyp gefährlichen Ethnie eingestuft wurden, vermuteten die Teilnehmenden auch bei ihnen ein fundamental „gutes“ wahres Selbst. Und noch mehr: Als die Probanden in einem weiteren Versuch zuerst gebeten wurden, über das wahre Selbst der arabischstämmigen Menschen zu sinnieren, sank die Angst vor dieser Ethnie. Die weißen US-Bürger spendeten unter diesen Umständen dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond sogar einen Teil einer Belohnung, die sie ganz hätten für sich behalten können.

Mina Cikara findet die Ergebnisse „ermutigend“ und will in jedem Fall weitere Studien starten, um die Strategie in der Realität zu testen. Womöglich lassen sich unter Konfliktparteien jedweder Art gezielte Kampagnen starten, die an das wahre Selbst der Menschen erinnern. Ob sie die Zankenden wirklich besänftigen würden, weiß niemand.

Nach Ansicht Strohmingers und ihrer Kollegen ist das wahre Selbst nichts weiter als das: eine Projektion, eine Vorstellung, eine Illusion. So wie viele Menschen an Engel glauben, so glauben sie auch an die Existenz des wahren Selbst. Es ist eine streng subjektive Einschätzung. Aber, wie Nick Haslam unterstreicht, zuweilen „eine sehr nützliche“.

Ausgewählte Studien

Julian De Freitas u. a: Consistent belief in a good true self in misanthropes and three interdependent cultures. Cognitive Science, 42, suppl. 1, 2018, 134–160

Julian De Freitas u. a.: Origins of the belief in good true selves. Trends in Cognitive Sciences, 21/9, 2017, 634–636

Nina Strohminger u. a.: The true self: A psychological concept distinct from the self. Perspectives on Psychological Science, 12/4, 2017, 551–560

Nina Strohminger und Shaun Nichols: The essential moral self. Cognition, 131/1, 2014, 159–171

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2019: Bin ich gut genug?