Zeuginnen des Lebens

Unsere Kolumnistin Mariana Leky denkt über ihr Leben und das ihrer Freundin nach, während sie in deren Küche Zwiebeln schneidet.

Die Illustration zeigt zwei Freundinnen, die gemeinsam im gleichen Kochtopf rühren und dabei glücklich sind
Weil man mit seinen Freunden nicht zusammenlebt, kann man sich auch nicht so oft danebenbenehmen. © Elke Ehninger

Heute hatte ich eine Veranstaltung in Koblenz und übernachte bei meiner Freundin Julia. Wir sind in ihrer Wohnküche, ich schneide Zwiebeln fürs Abendessen, Julia sitzt auf dem Boden vor einer Kommode, die sie noch schnell fertig streichen muss, Julia ist Tischlerin. Wir sind seit langer Zeit zum ersten Mal allein zusammen, weil Julias Mann und Kinder in Ferien sind.

Ich kenne Julia seit über zwanzig Jahren. Wir haben uns während des Studiums kennengelernt. Auf einer Exkursion saßen wir zufällig nebeneinander…

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während des Studiums kennengelernt. Auf einer Exkursion saßen wir zufällig nebeneinander im Reisebus. Mit einer Zutraulichkeit, die ebenso selbstverständlich wie erstaunlich war, fingen wir ansatzlos an, uns unser bisheriges Leben zu erzählen – es gab nichts, was zu früh gesagt werden konnte. Die ganze mehrstündige Busfahrt über erzählte mal die eine und die andere hörte fieberhaft zu, dann ging es umgekehrt. Und immer wieder schien es, als habe die, die gerade erzählte, etwas Wesentliches über ihr Leben bisher nur nicht verstanden, weil sie auf die andere gewartet hatte, die es ganz meisterhaft erklären konnte.

Mit dieser Unterhaltung haben wir nie aufgehört. Wir sitzen immer noch immer wieder in diesem Bus, obwohl wir weit voneinander weg leben.

Während ich die Zwiebeln schneide und zwischendurch Julia beim konzentrierten Streichen zuschaue und ihrer vorlauten Wanduhr zuhöre, die alle halbe Stunde einen anderen Vogelgesang abspielt, denke ich darüber nach, warum unsere Freundschaft so lang so gut gelingt, warum keiner von uns im Traum einfiele zu sagen: Jetzt war das aber lang genug mit dir.

Ein Grund, warum es gar nicht lang genug sein kann, ist, dass das Essen nicht auf dem Tisch stehen und der Boden nicht gewischt sein muss, wenn die eine bei der anderen auftaucht. Man wird umstandslos ins akute Leben reingemischt: Als Julia letztens bei mir auftauchte, musste ich noch schnell einen Text fertig schreiben, und sie hat derweil mit meinem Sohn Hausaufgaben gemacht.

Eine Freundschaft hält es aus, wenn man mal schweigt

Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass unsere Freundschaft nicht jede Woche aufgeladen werden muss. Unsere Freundschaft ist wie eine innere Landschaft, die man durchwandern kann, auch wenn man allein ist. Manchmal melden wir uns wochenlang nicht beieinander, und trotzdem zerbricht am längeren Schweigen nichts. Wenn ich nach einiger Zeit bei Julia anrufe und sage: „Du glaubst nicht, was passiert ist“, sagt sie „Erzähl“ und ich kann hören, wie sie alles stehen und liegen lässt und mitfiebert. Seit Jahrzehnten teilen wir unsere Leben mit, und immer war die eine zumindest innerlich dabei, wenn die andere an einer dramatischen Weggabelung stand: an einer dieser großen Kreuzungen mit Wegweisern, die nach alter Wegweiserart ein Pokerface tragen und keinen Hinweis darauf geben, in welche Richtung man sich wenden soll. Wir haben an diesen heiklen Kreuzungen beigestanden, oft stillschweigend, und Ratschläge nur auf ausdrücklichen Wunsch erteilt. Weil wir uns so lange kennen, sind wir gegenseitig Zeuginnen unserer Glücke und Unglücke geworden. „Erinnere dich, da bist du schon mal langgegangen“, können wir auf Nachfrage sagen, „du musst da nicht mehr hin, die Strecke kennst du schon, es ist dort ziemlich finster.“ Oder: „Erinnere dich, du konntest das schon mal, also du wirst es wieder können.“

Ich weiß nicht, ob Freundschaften einfacher zu halten sind, wenn man nicht in der gleichen Stadt wohnt. Wenn man sich nicht oft sieht, kann man sich einerseits leichter verlorengehen, andererseits hat man weniger Gelegenheit, sich danebenzubenehmen. Es gibt vieles, was ich an Julia nicht fassen kann: ihre bekloppte Wanduhr, ihre viel zu lange Beziehung mit einem gehässigen Oberstudienrat vor fünfzehn Jahren, ihr Hantieren mit Kräutlein und Suden, wenn sie krank ist, ihr staunenswertes Vermögen, stundenlang mit Menschen zusammen zu sein, ohne das Bedürfnis zu haben, dringend mal wieder für sich sein zu müssen, ihre ebenso unverbrüchliche wie absolut unerklärliche Liebe zur Musik von Marius Müller-Westernhagen, ihre Ungeduld, ihre Brille (es ist eine mit Strass). Und natürlich gibt es eine Liste mit Dingen, die Julia an mir unfassbar findet: meine sehr begrenzte Freude an Geselligkeit zum Beispiel oder meinen Hang zum Herumpsychologisieren, meine unverbrüchliche Liebe zu Melissa Etheridge, meine sehr überschaubaren Kochkünste, meinen Eiertanz um heiße Breie, meine unkritische Haltung zur Schulmedizin, meine Begeisterung für Hunde aller Art. All das sind aber Kinkerlitzchen, all das kann uns nicht dazwischen­grätschen, weil wir nicht zusammenleben.

Kann Marius Müller-Westernhagen dazwischengrätschen?

Noch ist nichts dazwischengegrätscht, denke ich plötzlich, während ich die letzte Zwiebel zerstückele. Man weiß ja erfahrungsgemäß nie. Vielleicht fällt es Julia doch noch und nicht nur im Traum ein, mich zu verlassen, und allein bei dem Gedanken rutscht mir das Herz in die Hose. Vielleicht ist es ihr irgendwann doch genug mit mir, weil ich irgendwann einmal zu oft Bernhardiner oder Paracetamol anpreise oder weil eines Tages jemand neben ihr in einem Bus Platz nimmt, der ihr plötzlich nähersteht als ich. Marius Müller-Westernhagen zum Beispiel.

Julias Wanduhr gibt einen schrillen, blechernen Ton von sich, der wahrscheinlich ein Amselgesang sein soll. Sie steht auf, wäscht ihre Pinsel aus und stellt eine Pfanne auf den Herd.

„Was guckst du denn so?“, fragt sie. „Ich habe gerade über uns nachgedacht“, sage ich, „darüber, was eine gute Freundschaft ausmacht“, und Julia sagt: „Erzähl.“

„Zeugenschaft, Anfeuerung, Beistand, Vertrauen“, sage ich etwas schal.

„Und gut geschnittene Zwiebeln“, sagt Julia und deutet auf mein Zwiebelgemetzel. Sie lächelt mich an, und so, wie sie lächelt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie mich so bald nicht verlassen wird.

Wir kochen, wir essen, wir erzählen und dann, spät am Abend, hängt Julia die Wanduhr ab und sperrt sie in die Kammer, damit ich schlafen kann.

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit über zwei Jahren in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was sie und die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2019: Paare im Stress