Meine Nachbarin Frau Schwerter, Mitte sechzig, befindet sich seit vier Tagen in ihrer Entspannungswoche. Ihre Therapeutin hat sie angehalten, eine Woche lang ausschließlich zu entspannen. Wir alle im Haus wissen Bescheid – Frau Schwerter spricht seit Tagen von nichts anderem. Weil die Therapeutin Frau Schwerter geraten hat, allein zu entspannen, ganz für sich zu sein, treibt sich Herr Schwerter den Tag über in der Stadt herum, bis seine Frau mit ihrer Entspannung fertig ist.
Frau Schwerter soll eine Woche…
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Frau mit ihrer Entspannung fertig ist.
Frau Schwerter soll eine Woche lang entspannen, weil sie unter einer medizinisch unerklärlichen Pulsschnelligkeit leidet. Sie kann nachts nicht schlafen, weil ihr Herz so schnell und so laut pocht. Auch davon hat Frau Schwerter uns allen erzählt, so eindringlich, dass wir alle nachts ihr wild schlagendes Herz durch die Wände und Stockwerke pochen hören können.
Frau Schwerter gruselte es vor der Woche, weil sie sich mit Entspannung nicht auskennt und nun unter einem Leistungsdruck steht. Ich treffe sie im Hausflur, sie steht da mit einem leeren Blumentopf in den Händen. Ich frage: „Und? Wie läuft’s?“, und Frau Schwerter schaut mich an, als habe sie seit Stunden auf diese Frage gewartet.
Mit Gewalt zur Entspannung
Früher, holt sie aus, sei man ja heimlich immer ein bisschen beeindruckt gewesen, wenn jemand sagte: „Ich kann mich einfach nicht entspannen“, weil man annahm, dass dieser jemand einfach zu energiegeladen und tatendurstig war, um auf einem Sofa herumzuentspannen. Jetzt, sagt sie, sei das Gegenteil der Fall. Man gelte als mangelhaft, wenn man nicht effektiv entspannen könne, weil man dann keinen Kontakt zu sich selbst habe und keine Selbstfürsorge und so weiter.
Man werde, sagt Frau Schwerter, quasi mit Gewalt zur Entspannung genötigt, in einer Drogerie habe sie jüngst eine Creme gesehen, die tatsächlich Relaxation Booster heiße, sie wisse ja nicht, wie ich das fände, aber für sie klinge das nach militärischer Intervention.
„Es läuft wohl nicht so gut“, resümiere ich vorsichtig, und Frau Schwerter sagt aus tiefster Seele: „Nein.“
Frau Schwerter hatte sich gut vorbereitet. Sie hatte eine von der Therapeutin empfohlene Lektüre durchgearbeitet, die diverse Entspannungstipps vorstellte. Ein Tipp lautete: „Mit einem Haustier schmusen.“ Frau Schwerter stellten sich die Nackenhaare auf, weil sie (sehr zu Recht) „Schmusen“ für ein wahrhaft entsetzliches Wort hält. „Aber das ist natürlich geschmäcklerisch“, sagt sie großzügig.
Vergiftete Bilder
Weil es erwiesen ist, dass Schmusen mit Haustieren den Pulsschlag senkt, näherte sich Frau Schwerter in deutlicher Schmuseabsicht ihrem Pekinesen, der – Frau Schwerter hatte das immer an ihm geschätzt – kein großer Schmuser war und sich irritiert in die Küche zurückzog. Ich erzähle Frau Schwerter, dass das Herz eines Blauwals mitunter nur einmal pro Minute schlägt, man könne also auch versuchen, mit einem Wal zu schmusen, vielleicht färbe sein Puls ja ab, aber Frau Schwerter bezweifelt, dass ein Wal unter „Haustier“ firmiert.
Auch den Tipp „Phantasiereisen“ hat Frau Schwerter ausprobiert, auch das hat nicht geklappt, weil jeder Ort, an den sie sich phantasierte, in kürzester Zeit ungemütlich wurde. Träumte sich Frau Schwerter an einen Meeresstrand, schaukelte innerhalb kürzester Zeit Plastikmüll auf den Wellen. Phantasierte sie sich in eine stille arktische Landschaft, trieben auf Schollen vom Klimawandel ausgemergelte Eisbären vorbei. Saß Frau Schwerter innerlich unter einem lauschigen Kastanienbaum, hatte der sofort die Miniermotte.
Jedes Bild, das in Frau Schwerter aufstieg, wurde rasch zu einem Schadbild, und gut für den Puls ist das nicht. „Ich weiß nicht, wie angesichts der Welt ein Puls die Contenance bewahren soll“, sagt Frau Schwerter, und das weiß ich natürlich auch nicht, nur, dass ein nachts donnernder Puls der Welt auch nicht weiterhilft.
Tipp fünfzehn
Ein weiterer Tipp ist Meditation. Meditation geht bei Frau Schwerter ebenso wenig wie Phantasiereisen. „Aber Meditation ist wirklich phantastisch“, beteuert sie und berichtet, dass Wissenschaftler buddhistische Mönche in Magnetresonanztomografen geschoben und dort Schwarz auf Weiß gesehen haben, wie tiefzufrieden und einwandfrei meditierende Gehirne sind. Außerdem, sagt Frau Schwerter, stoßen buddhistische Mönche ja außerordentlich viel Mitgefühl aus, was wiederum gut für die Welt ist.
Frau Schwerter schaut in ihren leeren Blumentopf, als läge auf dessen Grund ein einwandfreier buddhistischer Hippocampus. „Ich hasse Entspannung“, knurrt Frau Schwerter jetzt, sie ist dabei, wie ihr Herz die Contenance zu verlieren, „ich hasse dieses ganze Entspannungsgemurkse zutiefst.“
Ich deute auf den Blumentopf. „Tipp fünfzehn“, sagt Frau Schwerter, „ich soll was mit Erde machen. Wegen Erdung, wenn Sie verstehen.“ Ich verstehe. „Vielleicht sollten Sie spazieren gehen“, schlage ich vor, „da freut sich auch der Hund.“
Entknitterung
„Der Hund will nichts mehr mit mir zu tun haben“, sagt Frau Schwerter, „wegen des versuchten Schmusens.“ Ich verstehe auch das. „Dann vielleicht kochen“, sage ich, weil ich, wenn ich nicht schlafen kann, Sachen vorkoche und einfriere, mein Eisfach ist voll mit den gefrorenen Zeugnissen schlafloser Nächte. „Alles völliger Murks“, krakeelt Frau Schwerter, und da kommt Herr Schwerter durch die Haustür. Er sieht erholt aus – offenbar ist es entspannend, den lieben langen Tag darauf zu warten, dass jemand mit seiner Entspannung fertig ist. „Na“, sagt er munter zu seiner Frau, „wie geht’s meinem Relaxation Booster?“
„Viel besser“, sagt Frau Schwerter, und tatsächlich haben sich ihre Gesichtszüge entknittert. Es scheint entspannend zu sein, über Entspannungstechniken herzuziehen. Kurz stelle ich mir vor, wie Frau Schwerter hasserfüllt Pekinesen, Mönche und Wale beschmusen muss. Dann doch lieber krakeelen.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker