Frau Professor Abraham, wozu brauchen wir Vorstellungskraft?
Entgegen der weitläufigen Meinung ist Vorstellungskraft nicht nur notwendig, um sich auszumalen, „was wäre, wenn…“. Sie ist unentbehrlich für unsere Sinneswahrnehmung. Einerseits hilft sie dabei, auf uns einprasselnde Informationen zu bändigen. Andererseits ist sie notwendig, um immer wieder neue Informationslücken zu füllen.
Welche Informationslücken schließt die Vorstellungskraft für uns?
All jene, die durch Ungereimtheiten in unserer…
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schließt die Vorstellungskraft für uns?
All jene, die durch Ungereimtheiten in unserer Sinneswahrnehmung entstehen. Denken Sie an Grundsätzliches: Licht reist schneller als Schallwellen. Dennoch erscheint uns die Mundbewegung unseres Gesprächspartners synchron mit seinen Worten. Wir erleben Bild und Ton als gleichzeitig – das sind sie aber nicht. Heute wissen Wissenschaftler, dass diese Vorstellung von Gleichzeitigkeit eine Fähigkeit des Gehirns ist, die uns pausenlos zugutekommt. So finden wir uns dank der Vorstellungskraft leichter in unserer Umwelt zurecht.
Und wie bändigt unsere Vorstellungskraft die Informationsflut?
Ziehen Sie morgens eine Armbanduhr an? Oder streifen Sie sich eine Kette über? Unmittelbar nachdem wir uns Schmuck oder Uhren anlegen, spüren wir ihr Gewicht, fühlen ihre Stofflichkeit. Aber bereits wenige Minuten später verschwindet dieses Gefühl. Nicht etwa weil der Schmuck verschwunden ist. Sondern weil wir die Information, dass er da ist, nicht ständig brauchen. Die Informationsflut in Schach zu halten ist nur eine der vielen wichtigen Funktionen der menschlichen Vorstellungskraft. Sie ist an vielfältigen neuronalen Vorgängen beteiligt, etwa beim Sehen, beim Musikhören oder wenn wir uns bewegen.
Sie vergleichen unsere Vorstellungskraft mit Wasser. Welche Parallelen sehen Sie da?
Vorstellungskraft ist so allgegenwärtig und essenziell für unser Leben wie das Wasser. Sie ist dynamisch, geht in verschiedene Formen über – so wie Wasser, das sich als Eis, Regentropfen oder Ozean manifestieren kann. So wie das Wasser sich sowohl überirdisch als auch unterirdisch seinen Weg ebnet, so ist unsere Vorstellungskraft mal mit und mal ohne unser Bewusstsein am Werk. Und doch ist sie stets in unserem Alltag präsent.
Wie unterscheidet sich das wissenschaftliche Verständnis von Vorstellungskraft von dem verwandten Konzept der Kreativität?
Im alltäglichen Gebrauch setzen wir die Vorstellungskraft immer wieder mit der Kreativität gleich. Die Wissenschaftler unterscheiden strenger zwischen den beiden. Vorstellungskraft wird benötigt, um die Welt mit unseren Sinnen zu erleben. Kreativität ist dafür nicht nötig. Aber die Vorstellungskraft kann ebenfalls Schöpferisches leisten – worin sie sich mit der Kreativität überschneidet. Grundsätzlich sprechen Wissenschaftler der Vorstellungskraft ein breiteres Funktionsspektrum als der Kreativität zu. Beispielsweise brauchen wir keine Kreativität, um einen Gegenstand als uns bekannt oder unbekannt zu kategorisieren. Aber wir brauchen dafür unsere Vorstellungskraft, weil diese auf entsprechende Weise mit unserem Gedächtnis verbunden ist.
Worin besteht diese Verbindung?
Ursprünglich nahm man an, das Gedächtnis liefere eine getreue Abbildung der vergangenen Wirklichkeit. Aber heute wissen wir, dass unsere Erinnerungen keinesfalls solide sind. Vielmehr sind sie wie gestrickt. Und die Vorstellungskraft strickt mit: Dinge werden ausgelassen, Dinge werden dazugedichtet, verschönert, aufgebauscht. Die Neurowissenschaft zeigt, dass das Gedächtnis und die Vorstellungskraft nicht nur eng miteinander verwoben sind – sondern sich häufig überlappen. Sogar buchstäblich. Die zwei scheinen sich derselben Hirnareale zu bedienen. Im selben Maße, in dem das Gedächtnis ein Fundament unserer Identität ist, ist es auch die Vorstellungskraft.
Wenn die Vorstellungskraft so grundlegend für das Erinnern und die Sinneswahrnehmung ist, heißt das, dass sie bereits früh in der evolutionären Entwicklung des Menschen aufgetaucht ist?
Das ist natürlich schwer zu sagen, aber heute glauben Wissenschaftler tatsächlich, dass die Vorstellungskraft sich sehr früh entwickelt hat – nämlich gemeinsam mit unseren fünf Sinnen. Ihre Aufgabe bestand wahrscheinlich seit jeher darin, die Welt mit all ihren physikalischen Besonderheiten und Herausforderungen regelmäßiger, gleichmäßiger und schlicht einfacher für uns zu gestalten. Aber ausgehend von dieser elementaren Aufgabe scheint die Vorstellungskraft sich anschließend immer mehr und komplexer verzweigt zu haben – bis hin zu den schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, die wir als Fantasie und Kreativität bezeichnen.
Der Mensch scheint die Vorstellungskraft nicht nur früh eingesetzt, sondern sich auch früh mit ihr auseinandergesetzt zu haben: Wie interpretierten die Denker und Philosophen sie im Laufe der letzten Jahrtausende?
Die fernöstliche Tradition war immer offen gegenüber dem Imaginären. In den buddhistischen und hinduistischen Traditionen waren Realität und Vorstellung keine fixen Attribute der Außenwelt, sondern etwas, dem der Einzelne auf die Spur ging – etwa mithilfe der Meditation. Das Individuum hinterfragte seine Realität und Einbildung. Dabei erfuhr es verschiedene Bewusstseinszustände. Generell findet sich in den hinduistischen Veden, dieser mehr als 3000 Jahre zurückreichenden Sammlung religiöser Texte, eine interessante Einstellung: Niemand kann dir sagen, was Realität und was deine Vorstellung ist – du musst es für dich herausfinden. Das ist in der westlichen Tradition nicht der Fall. Hier wird zwischen einer allgemeingültigen Realität und einer persönlichen Vorstellung des Einzelnen unterschieden. In der christlichen Religion gibt es die reale Welt, wie Gott sie geschaffen hat. Sie ist keine Einbildung. Auch in der westlichen Philosophie wurde deutlich zwischen dem Realen und dem Imaginären unterschieden. Denken Sie etwa an die empirischen Lehren des britischen Denkers David Hume oder die Werke des Moralphilosophen Immanuel Kant.
Brauchen wir eigentlich Vorstellungskraft, um gegenüber unseren Mitmenschen moralisch zu sein?
Wir brauchen Vorstellungskraft, um Empathie zu empfinden – um die Dinge aus einer anderen als aus der eigenen Perspektive betrachten zu können. Deshalb ist die Vorstellungskraft sicherlich unabdingbar, um rücksichtsvoll und gerecht gegenüber anderen Menschen zu sein. Aber wir benutzen sie auch im größeren Rahmen: Wir gehen auf die Straße und demonstrieren für eine faire Gesellschaft oder eine gerechtere Welt. Weder diese Gesellschaft noch diese Welt sind real. Sie existieren in unserer Einbildung – aber diese Vorstellungen von Gerechtigkeit haben reale Konsequenzen, bringen etwa Politiker dazu, moralischer zu agieren. Vorstellungskraft und moralisches Handeln sind ebenso stark wie komplex miteinander verwoben.
Kreativität ist ein begehrtes Attribut in unserer Gesellschaft. Zu Recht?
Diese Form der Vorstellungskraft ist tatsächlich die Quelle neuer wie einzigartiger Ideen. Sie kann neue Zugänge und Lösungsansätze für komplexe Probleme bieten – auch für die großen Herausforderungen unserer Zeit, etwa den Klimawandel. Heute glauben viele Menschen, dass wir nicht durch rigorose Forschung, sondern durch Visionäre mit entsprechender Vorstellungskraft und außergewöhnlichen Ideen die aktuelle Klimabedrohung abwenden werden. Doch dabei sind wir – wie überall – mit ganz unterschiedlichen Formen von Vorstellungskraft konfrontiert: Kreative Vorstellungskraft ist sehr individuell, jeder ist auf seine ganz eigene Weise kreativ. Manche Menschen mögen exzellente Ideen haben, aber sie wissen nicht, wie sie praktisch umzusetzen sind. Andere haben womöglich keine exzellenten Ideen – aber dafür eine sehr gute Vorstellung davon, wie Dinge sich realisieren lassen. Auch im Kontext der kreativen Problemlösung ist die Vorstellungskraft gefragt.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der schöpferischen Vorstellungskraft und bestimmten Persönlichkeitszügen?
Wir haben im Grunde zu wenige verlässliche Methoden und Möglichkeiten, dieser Frage nachzugehen. Oder vielleicht haben wir bislang einfach nicht den richtigen Weg gefunden, diese Fragestellung zu erörtern. In bisherigen Studien zeichnet sich aber eine bestimmte Verbindung immer wieder ab: Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her offen für neue Erfahrungen und intellektuell neugierig sind, scheinen auch kreativer zu sein. Sie wollen Dinge verstehen, sind aufmerksam und aufgeschlossen gegenüber ihnen ungewohnten und fremdartigen Gedanken.
Manche von uns haben das Gefühl, eine ziemlich schwache Vorstellungskraft zu haben. Was können sie tun?
Die Leute, die das von sich behaupten, wenden ihre schöpferische Vorstellungskraft schlicht nicht oft genug an. Sie ist kein fix und fertig in die Wiege gelegtes Talent. Vielmehr ist sie wie ein Muskel: Wer sie immer wieder anwendet, trainiert und verbessert sie.
Wie könnte ein solches Training aussehen?
Beginnen Sie, Dinge zu mögen, die Sie bislang nicht mochten. Im Englischen haben wir den Ausdruck an acquired taste – ein erworbener Geschmack. Denken Sie an Kaffee oder Wein. Beide sind im Grunde bitter oder sauer und nicht wirklich lecker. Aber den meisten von uns schmeckt das eine oder das andere. Oder gleich beides. Suchen Sie sich also beispielsweise ein Getränk oder eine Speise aus, die Sie bisher nicht mochten – ohne diese Abneigung je hinterfragt zu haben. Und lassen Sie sich auf diese Kost ein. Dieses Einlassen bedarf so einiger Imagination. Sie werden sich das Essen nämlich schön und lecker reden. Und dabei zweifelsohne Ihre Vorstellungskraft trainieren. Sie können diese Übung auch mit Büchern, Musik und Filmen wiederholen, die Sie bisher nicht wirklich mochten.
Gibt es Erkrankungen, unter denen die Vorstellungskraft leiden kann?
Ja, beispielsweise die Aphantasie. Wenn ich Ihnen sage: „Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich Ihren Lieblingsort vor“, haben Sie damit sicherlich keine Probleme. Menschen mit Aphantasie hingegen schließen nach dieser Aufforderung die Augen – und sehen nichts. Sie können die Bilder nicht heraufbeschwören. Psychologische Fragebögen wie der Vividness of Visual Imagery Questionnaire helfen dabei, Aphantasie festzustellen. Die gute Nachricht: Bei dieser Erkrankung ist nur die bildliche Vorstellung betroffen. Menschen mit Aphantasie haben grundsätzlich keine Probleme mit anderen Formen der Vorstellungskraft. Sie können sich beispielsweise Musikpassagen ohne jegliche Probleme vorstellen.
Und neigen umgekehrt Menschen mit einer starken Vorstellungskraft zu bestimmten Störungen?
Magisches Denken und Aberglaube sind bei Menschen mit einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung verbreitet. Sie messen beispielsweise zufälligen Ereignissen eine große Bedeutung bei. Sie glauben auch, dass ihre Gedanken und Taten auf magische Weise bestimmte Ereignisse hervorrufen oder verhindern können. Das erfordert einen starken Einsatz der schöpferischen Vorstellungskraft. Aber im Grunde genommen ist auch dies ein Versuch, sich mithilfe der Vorstellungskraft in einer chaotischen, unberechenbaren Umwelt zurechtzufinden – wie bei gesunden Menschen. Allerdings nimmt das bei den Betroffenen problematische Ausmaße an, die ihnen unter anderem das Zusammenleben mit anderen Menschen erschweren.
Erfordert schöpferische Vorstellungskraft Mut?
Dinge anders als gewohnt interpretieren, vertraute Denk- und Handlungsweisen herausfordern, indem man sie durch das Vorstellen von Alternativen und Neuem hinterfragt – das erfordert sicherlich Mut! Vergessen Sie nicht, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Wir gehen den Dingen gerne „wie immer“ nach. Das ist uns vertraut, das fällt uns leicht. Alles Unbekannte fällt eher schwer und ist bisweilen einschüchternd anders. Weil die Vorstellungskraft das Potenzial hat, Gewohnheiten zu stören – vielleicht sogar zu zerstören –, braucht es sicherlich auch Mut, sich auf sie einzulassen und ihr zu folgen. Sie ist ein mächtiges Instrument des Menschen. Ein Instrument der Veränderung und Erneuerung.
Wie kann sie unseren Alltag erneuern?
Gerade wenn Sie glauben, Ihr Alltag sei langweilig und fade, kommt Ihnen die Vorstellungskraft wie gerufen. Es gibt kein langweiliges Leben – nur einen Mangel an Vorstellungskraft. Benutzen Sie Ihre Vorstellungskraft, um Ihre Mitmenschen besser zu verstehen. Benutzen Sie sie, um bestimmte Dinge nicht so schwer zu nehmen und öfter zu lachen. Gerade wenn der Alltag Sie zermürbt. In der Kindheit ist unsere Vorstellungskraft unser treuster Begleiter gewesen – und so wichtig für unsere Entwicklung. Als Erwachsene vernachlässigen wir sie chronisch. Dabei ist kreative Vorstellungskraft persönlich, erfinderisch, revolutionär. Die Vorstellungskraft ist ohne Zweifel eine unserer wichtigsten Ressourcen. Sie steht uns jederzeit und überall zur Verfügung. Entdecken Sie sie neu!
Kreative Vorstellungskraft trainieren
Verbinden Sie sich die Augen und entdecken Sie Ihr Zuhause durch Ihren Tast- und Hörsinn neu.
Versetzen Sie sich in jemanden, dem Sie täglich begegnen, aber den Sie nicht kennen.
Stellen Sie sich Ihr Zuhause mit anderen Möbeln vor.
Besuchen Sie einen Stadtteil Ihres Wohnortes, in dem Sie noch nie zuvor waren.
Schließen Sie neue Bekanntschaften mit Menschen, die andere Interessen hegen als Sie.
Wenn Ihre Vorstellung Eigeninitiative ergreift: Bremsen Sie sie nicht, sondern folgen ihr.
Mit Vorstellungskraft gegen Unsicherheit
Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem Sie völlig sicher sind. Malen Sie ihn sich in zahlreichen Details aus – so lange, bis Sie ruhiger werden.
Wenn Sie pessimistische Gedanken hegen, stellen Sie sich diese beispielsweise als Herbstlaub an Bäumen vor, das vom Wind weggeweht wird. Malen Sie sich aus, wie die verdorrten Blätter, die pessimistischen Gedanken sich immer weiter von Ihnen entfernen.
Stellen Sie sich vor, wie jene positiven Eigenschaften, von denen Sie gerne mehr hätten, in Ihnen stärker werden und aufblühen. Bedienen Sie sich bei dieser Vorstellung beispielsweise verschiedener Formen und Farben.
Anna Abraham ist Professorin und Leiterin des Torrance Center for Creativity and Talent Development an der University of Georgia in Athens, USA. Sie hat Psychologie in Indien und Großbritannien studiert und promovierte in Neurowissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum
Zum Weiterlesen
Anna Abraham (Hg.): The Cambridge handbook of the imagination. Cambridge University Press, Cambridge 2020