Ich bin auf der Suche nach meiner Nachbarin Frau Wiese, weil ich mir Sorgen um sie mache. Frau Wiese steht vor einer schwierigen Entscheidung. Wobei: Eigentlich steht sie nicht, sondern liegt entkräftet davor. Frau Wiese hat mir so viel von dieser Entscheidung erzählt, so oft das Für und Wider aufgezählt, aus dem bald ein Wider und Wider wurde, dass ich kaum noch sagen kann, worum es eigentlich geht (irgendwas mit einem beruflich bedingten Umzug in eine andere Stadt). Die Entscheidung ist so groß geworden,…
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bedingten Umzug in eine andere Stadt). Die Entscheidung ist so groß geworden, dass ihr Anlass dahinter verschwunden ist.
Ich finde Frau Wiese im Heizungskeller. Eigentlich bin ich immer gern hier: das Gebrodel, das Blinken, die unzähligen Rohre und Lichter erinnern an die Versuchslabore durchgeknallter Professoren in 1980er-Jahre-Filmen. Jetzt aber ist der Heizungskeller ein Ort des Schreckens, denn Frau Wiese kauert unter einer verspinnwebten Rohrgemeinde und sieht schlecht aus. „Ich kann mich nicht entscheiden“, sagt sie, und ich setzte mich neben sie auf den staubigen Boden.
Wenn man etwas entscheiden muss, kann man Pro- und Kontralisten anfertigen, man kann Freunde und sein Bauchgefühl befragen, man kann reiflich überlegen. All das kann Frau Wiese nicht. Sie starrt bewegungslos auf die Entscheidung wie ein Reh ins Scheinwerferlicht. Es wirkt, als habe nicht Frau Wiese die Entscheidung in der Hand, sondern die Entscheidung Frau Wiese.
Eine fiese nach Essig stinkende Entscheidung
Während wir hier sitzen unter den Rohren, bekomme ich den Eindruck, dass es sich bei der Entscheidung um ein eigenständiges Wesen handelt, und als ich Frau Wiese das sage, fragt sie mich, ob ich den Gurkenkönig aus dem Kinderbuch von Christine Nöstlinger kenne. Den kenne ich, und obwohl ich seit Kindertagen nicht mehr an ihn gedacht habe, sehe ihn sofort wieder vor mir: Er ist ein gehässiger Despot vom Format einer kniehohen Gewürzgurke, eingelegt in Boshaftigkeit. „Genauso sieht die Entscheidung aus“, sagt Frau Wiese, „wie dieser Gurkenkönig.“
Die fiese, nach Essig stinkende Entscheidung hockt bräsig da, zufrieden schmatzend an Frau Wieses Zuversicht und Urteilsvermögen, sie hockt zwischen den Optionen, die sich Frau Wiese bieten, und hat alle Optionen mit Pech begossen: Alle sehen schrecklich aus, alle führen, glaubt die ausgelaugte Frau Wiese, direkt in ein wasserdichtes Verderben.
„Das ist natürlich albern und hysterisch“, sagt Frau Wiese, weil der Gurkenkönig ihr immerhin die Fähigkeit zur Selbstbezichtigung gelassen hat, und zupft sich ein Spinnennetz vom Pullover, „andere Leute müssen viel schwerere Entscheidungen treffen.“ Vor unserem geistigen Auge sehen wir lauter Menschen, die sich nach reiflicher Überlegung entscheiden, ein Geständnis oder ein Mandat abzugeben, eine Ehe zu verlassen, Maschinen abzustellen. „Und ich kann noch nicht mal diese eine pupsige Entscheidung treffen“, sagt Frau Wiese.
Hier Sitzenbleiben
Die Entscheidung, glaube ich, gibt nur vor, getroffen werden zu wollen. Immer wenn Frau Wiese zielt, mit bebender Schusshand, weicht sie feixend aus.
„Was ist eigentlich eine reifliche Überlegung?“, fragt Frau Wiese, und weil auch ich mittlerweile mit Pech begossen bin, sage ich: „Keine Ahnung. Pro- und Kontra-Listen vielleicht?“, und noch während ich das sage, höre ich, wie Frau Wieses Gurkenkönig sich vor Lachen überhaupt nicht mehr einkriegt.
Frau Wiese erinnert mich an mich selbst, wenn ich einen Bandscheibenvorfall habe. Ich versuche dann immer, mich so gut wie gar nicht mehr zu bewegen, weil jede Bewegung die falsche sein könnte. „Wir müssen irgendwie in Bewegung kommen“, sage ich leise, „wir brauchen einen Plan.“
„Der Plan ist, hier sitzenzubleiben, bis sich alles von selbst erledigt hat“, sagt Frau Wiese, und sie sieht dabei so traurig aus, dass es kaum auszuhalten ist. „Irgendwann verpufft die Entscheidung, sie macht sich davon, und es geschieht dann einfach irgendwas“, sagt sie. Ich denke an all die Psychoanalytiker in meiner Familie, die ich mir jetzt dringend herbeiwünsche in diesen räudigen Keller, und frage, was die fragen: „Und wie fühlt sich das an? Wenn sich alles irgendwie von selbst erledigt hat?“
Die Scheißegaltablette
„Nicht so gut“, sagt Frau Wiese. „Ein bisschen so, als würde vom Konto ein riesiger, mindestens fünfstelliger Säumniszuschlag abgebucht.“
Ich streiche Frau Wiese über ihren Kopf, in dem alles vollkommen zergrübelt ist. Sie lächelt mich müde an und fragt: „Sie haben nicht zufällig eine Scheißegaltablette dabei?“ Vor einigen Monaten haben Frau Wiese und ich uns über die tückischen Segnungen der (auch von Ärzten so genannten) Scheißegaltablette unterhalten. Sie befindet sich in abschließbaren Medizinerschränken und wird vor unangenehmen Untersuchungen verabreicht. Ihr Name ist Programm, Ängste und Sorgen werden von der Scheißegaltablette niedergestreckt, und kurzzeitig fühlt man sich, als sei alles, was man sich nie zugetraut hat, ein Leichtes: Unter dem Einfluss der Scheißegaltablette glaubt man, sogar professioneller Diplom-Entscheider werden zu können. Nachteil: Wenn die Wirkung der Scheißegaltablette abklingt, erwachen Ängste und Sorgen besonders ausgeruht und tatendurstig – und können alles noch viel besser als vorher.
Frau Wiese braucht keine Scheißegaltablette, sie braucht einen Profi, und zwar dringend. Jemanden, der mit ihr in ihren inneren Heizungskeller hinabsteigt, wo ganz offenbar ein durchgeknallter Professor tätig ist. Sie braucht jemanden, der den Gurkenkönig knebelt (und meinetwegen später dabei hilft, sich mit ihm anzufreunden – aber sicherheitshalber wäre ich zunächst für Knebeln), der Frau Wiese aus dem Gestrüpp ihrer Gedanken herausschneidet, der halbseidene Einzugsermächtigungen kündigt, der das Pech von den Optionen kratzt.
Solange wir allerdings hier sitzen, kommt niemand in Sicht.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker