Training im Schlafcamp

Psychologie nach Zahlen: 4 Arten, auf die das nächtliche Träumen uns am Tage hilft.

Die Illustration zeigt eine Frau mit pinker Haarfarbe, die davon träumt mit Hanteln zu trainieren
Assoziative Einsichten und neue Ideen kommen häufig in einem unkonzentrierten, entspannten, gar verträumten Wachzustand – auch in tiefer Nacht. © Till Hafenbrak

Mal sind sie schön, mal bedrohlich, mal peinlich. Die Träume, die uns im Schlaf heimsuchen, geben der Forschung einige Rätsel auf. So sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielsweise noch immer nicht einig, wieso die bildreichen Schlafstrecken überhaupt existieren. Aber da Träume den Menschen bereits seit seiner evolutionären Entstehung zu begleiten scheinen, sprechen Forschende ihnen elementare Funktionen zu. So auch Susan Llewellyn, emeritierte Professorin an der University of Manchester. Sie geht den Nachtbildern in ihrem aktuellen Buch What Do Dreams Do? nach und beschreibt die vermuteten Funktionen von Träumen und wie diese den Alltag des früheren und heutigen Menschen womöglich prägten und prägen.

1 Überleben

„Ursprünglich träumten wir, um zu überleben“, schreibt die Forscherin – und beruft sich unter anderem auf die sogenannte Bedrohungssimulationstheorie (threat simulation theory). Dieser Hypothese zufolge sind Träume ein Übungsfeld für verschiedene Bedrohungsszenarien – und für richtige, aber auch falsche Reaktionen in diesem Szenario. Etwa wenn der oder die Schlafende von einer Lebensgefahr träumt und fliehen sollte, aber nicht vom Fleck kommt. Der Albtraum macht allzu deutlich, wie wichtig eine zeitige Flucht ist – und diese nächtliche Warnung, so die Vermutung, hat unseren fernen Vorfahren das Überleben erleichtert.

Das Träumen soll den frühen Menschen auch in anderer Hinsicht auf ­seine gefährliche Umwelt vorbereitet haben: „Es diente als ein Übungsfeld für das lebenswichtige Erkennen von Mustern“, so Llewellyn. Das menschliche Gehirn sei darauf ausgelegt, in seiner Umgebung Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen. Etwa dass dunkle Wolken einen schweren Gewittersturm ankündigen. Auf diese Weise kann der Mensch in einer scheinbar chaotischen Umwelt künftige Ereignisse voraussehen und sich auf sie einstellen. Laut ­Llewellyn könnten Traumszenarios den frühen Menschen dabei geholfen haben, kausale Zusammenhänge und ­Regelmäßigkeiten im wachen Zustand besser und schneller zu erkennen.

Nun leben wir als Homo sapiens bekanntlich seit geraumer Zeit in einer weitgehend selbsterschaffenen Umgebung, die sich von der unserer Vorfahren erheblich unterscheidet. In unseren Städten lauern keine Raubtiere und die Wettervorhersage übernimmt der Wetterbericht. Doch auch in der Zivilisation hat das Träumen seinen Sinn nicht verloren, meint Llewellin: „Heutzutage scheinen viele Träume der Vermeidung soziokultureller Fehler zu dienen, die uns beispielsweise aus der Gesellschaft ausschließen könnten.“ Ein solcher Ausschluss aus der Gemeinschaft war für Menschen schon immer ein bedrohliches Szenario. Vielleicht träumen wir deshalb häufig von sehr peinlichen Situationen – um diese im Wachzustand effektiver zu meiden.

2 Erinnern

Im Schlaf festigt sich die Erinnerung an das jüngst Gelernte. Im Fachjargon spricht man von „Gedächtniskonsolidierung“. Netzwerke von Nervenzellen im Gehirn werden in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert und – wenn dies häufiger geschieht – dauerhaft miteinander verbunden. Diese Verbindungskonstellationen entsprechen dann einem bestimmten Gedächtnisinhalt. Forschende haben Belege dafür gefunden, dass frisch Gelerntes im Schlaf im Gedächtnis konsolidiert wird – vor allem im traumlosen Tiefschlaf.

Doch das Träumen könnte auch die Funktion einer spezifischen Gedächtnisstütze haben, vermutet Sue Llewellyn. Sie sieht Parallelen zwischen dem bildreichen Träumen und den komplexen Mnemotechniken, derer sich die Gedächtnismeister im wachen Zustand bedienen. „So beruhen die Tricks und Eselsbrücken der Gedächtnismeister primär auf der Visualisierung – deutlich weniger auf den anderen Sinnen“, schreibt sie. Dabei seien fantasiereiche Bilder entscheidend für die Erinnerungsprofis – ähnlich ausgefallen seien die Träume der meisten Menschen, so Llewellyn.

3 Entscheiden

Bei der beliebten Empfehlung „Schlaf mal eine Nacht drüber“ könnte es um mehr gehen als um bloße Bedenkzeit: Träume scheinen den Entscheidungsprozess zu bereichern. Das legen einige Studien nahe. Sie dokumentieren unter anderem, dass das Gehirn während des Träumens einen besseren Zugriff auf frühere Erinnerungen zu haben scheint als im Wachzustand. „Außerdem stellt das Gehirn während des REM-Schlafes, in dem sich die meisten Träume abspielen, komplexe Assoziationen zwischen den individuellen Erfahrungen und dem Wissen der Schlafenden her“, schreibt Llewellyn. Durch dieses unbewusste Kombinieren könnten die Träume uns bei der Entscheidungsfindung helfen, so ihre Mutmaßung. „Denn immerhin vollziehen sich 95 Prozent unserer Denkprozesse unbewusst.“

4 Kreativ sein

Kreativität umfasst unter anderem die Fähigkeit, etwas neu zu interpretieren, indem man es in seine Elemente zerlegt und diese Einzelteile auf unerwartete Weise kombiniert. „Diese Definition von Kreativität ähnelt den Traumprozessen“, schreibt Llewellyn. Hier werden unsere vergangenen Erfahrungen und unser Wissen zerlegt und neu zusammengesetzt. Diese assoziativen Vorgänge scheinen die Kreativität zu fördern.

Das dokumentierte beispielsweise ein Forschungsteam an der Harvard Medical School: Wurden die Probandinnen und Probanden aus dem Traum­schlaf geweckt und vor eine Assoziationsaufgabe gestellt, kamen ihnen ausgefallenere Assoziationen als sonst. Beim Stichwort „Tisch“ fiel beispielsweise einem verschlafenen Teilnehmer „Altar“ statt einer wacheren, konzentrierteren Antwort wie „Stuhl“ ein. Den frisch Aufgeweckten fiel es außerdem leichter, weniger offensichtliche Verbindungen herzustellen – so etwa die Stichwörter „sinken“, „Staub“ und „Schauspieler“ mit dem Begriff „Stern“ (star) zu assoziieren.

Kreative Menschen berichten oft, dass sie gerade dann assoziative Einsichten und neue Ideen haben, wenn sie in einem unkonzentrierten, entspannten, gar verträumten Wachzustand sind“, schreibt Llewellyn. So sind wir möglicherweise verträumt besonders kreativ – mitten in der Nacht, aber auch am helllichten Tag.

Literatur

Sue Llewellyn: What Do Dreams Do? Oxford University Press, Oxford 2020

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