Wieder in Kontakt

In Krisenzeiten möchten wir wieder Kontakt zu einst eng vertrauten Menschen aufnehmen. Kann es gelingen, an die alte Freundschaft anzuknüpfen?

Die Illustration zeigt Menschen, die sich aus den Augen verloren hatten und sich wiedergefunden haben bei verschiedenen Unternehmungen
Die Coronapandemie befeuert das Bedürfnis, die alten Freundschaften wiederzubeleben. © Sabine Kranz

Als Uta Deffke vor Jahren für ein Praktikum nach Frankfurt am Main zog, hörte sie, dass auch ein guter Freund aus der Kindheit dort wohne. „Ich wusste sofort: Den kannst du anrufen, er hat bestimmt eine Idee, wo ich unterkommen kann“, erzählt sie. Mit dem Freund hatte sie als Kind und Jugendliche „die Badeseen abgeklappert“, viele Ausflüge und Urlaube zusammen verbracht. Beide Eltern sind miteinander befreundet. Deshalb blieb eine Verbindung, auch nachdem sich beide aus den Augen verloren hatten.

Und…

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beide aus den Augen verloren hatten.

Und tatsächlich: „Als wir uns dann in Frankfurt wieder begegneten, war es wie in alten Zeiten. Wir redeten bis in die Nacht, gingen gemeinsam in die Biergärten, als hätte es nie eine Lücke in unserer Beziehung gegeben.“ Man kennt sich, doch was in der Beziehungspause passiert ist, kennt man nicht. Beides nährt die Gespräche.

Dann ist Deffkes Praktikum zu Ende. Wieder schläft ihre Beziehung ein, bis er nach Berlin zieht. Dort arbeitet Uta Deffke inzwischen in der Pressestelle einer Forschungseinrichtung und als Kabarettistin. „Wieder gingen wir regelmäßig zusammen aus, zum Beispiel zu Quizabenden in Kneipen. Wir haben beide in dieser Zeit die Kneipenquizkultur entdeckt.“ Deffke weiß: Im Notfall kann sie auf ihren alten Freund immer zählen. Die gemeinsame Vergangenheit verbindet so sehr, dass sie auch über manche Macke des anderen großzügig hinwegsehen, die man bei einer neuen Freundschaft vielleicht nicht tolerieren würde.

Nährstoff ist die gemeinsame Vergangenheit

Bis vor wenigen Jahren galten inaktive Beziehungen wie etwa ruhende alte Freundschaften in der Forschung als nutzlos, sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch für das Wohlbefinden. Das war neueren Untersuchungen zufolge jedoch eine drastische Fehleinschätzung.

Bestimmte emotionale Qualitäten können wir überhaupt nur mit langjährigen und alten Freundinnen und Freunden erleben. Dazu gehört „die bittere Süße, die mit dem Schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen einhergeht“, schreibt Jorge Walter, Managementforscher an der George Washington University. „Die ‚Damals-Themen‘ machen wehmütig und sind auch schön, jedenfalls wenn die Erinnerungen schön sind“, findet Walter. Und sie sorgen dafür, dass sich alte Freunde bei der Wiederaufnahme der Beziehung Einzigartiges zu sagen haben.

Denn der Nährstoff einst enger Beziehungen ist die gemeinsame Vergangenheit: Man hat – meist in jungen, prägenden Jahren – ein Stück Lebensweg gemeinsam beschritten. Das hinterlässt tiefe Spuren, auch wenn man sich dann später für lange Zeit aus den Augen verloren hat. Deshalb kann die Beziehung rasch wiederaufleben, schneller jedenfalls, als ein neuer guter Freund, eine beste Freundin gefunden ist. In wiedererweckten alten Freundschaften finden wir Unterstützung, Vertrautes, vielleicht aber auch neue Perspektiven – schließlich haben beide in der Zwischenzeit viel erlebt. Unter dem Schlagwort reconnection haben inzwischen Ökonominnen, Psychologen und Kommunikationswissenschaftlerinnen das Thema der wiederbelebten Freundschaften entdeckt. Denn die Kontaktaufnahme mit alten Freundinnen und Freunden scheint gegenwärtig immer bedeutsamer zu werden: Alte Freundschaften gewinnen an Wert. Aber warum?

Nur ein paar Klicks entfernt

Zunächst hat das schlicht mit dem technischen Fortschritt zu tun: Das Internet und die sozialen Medien ermöglichen die Kontaktaufnahme auf einfache Weise: Die Spur eines Menschen ist dort relativ leicht aufzunehmen. „Die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter, LinkedIn und auch Suchmaschinen helfen uns enorm dabei, alte Freunde zu finden und mit ihnen auf unverfängliche Weise Kontakt aufzunehmen“, schreibt die Kommunikationsforscherin Kelly Quinn von der University of Illinois in Chicago. Sie befragte 23 Internetnutzer beiderlei Geschlechts zwischen 46 und 64 Jahren in ausführlichen Interviews, weshalb sie sich online mit alten Freundinnen und Freunden in Verbindung gesetzt hatten. Quinns Studie mit dem sprechenden Titel „Wir haben seit dreißig Jahren nicht miteinander gesprochen“ erschien 2013.

Mussten Menschen vor dem Internetzeitalter aufwendig recherchieren, um einen aus den Augen verlorenen Freund ausfindig zu machen, ist dieser heute nicht selten ein paar Klicks entfernt. Das Suchen von und die Kontaktaufnahme mit alten Freunden sei ein wichtiges Motiv der Internetnutzung von Menschen ab der Lebensmitte, schreibt Quinn. Frauen und Männer im Seniorenalter nutzen moderne Kommunikationstechnologien sogar hauptsächlich, um ihre sozialen Kontakte zu pflegen. Da dies ihr Geschäftsmodell ist, setzen die sozialen Medien ihrerseits Anreize, alte Bekanntschaften zu suchen, und schlagen Namen vor. Sie machen „unsere Netzwerke sichtbar“, so Quinn.

Während jüngere Menschen mit ihren Bekannten und Freundinnen in der Regel immer virtuell verknüpft blieben, haben die Älteren, in deren Jugend es noch kein Internet gab, nun die Möglichkeit, eingeschlafene Freundschaften zunächst virtuell wiederzuerwecken.

Hemmungen vor der Kontaktaufnahme

Vor der Kontaktaufnahme jedoch haben die allermeisten Menschen gewisse Hemmungen. „Sie haben Angst vor Zurückweisung. Oder dass die andere sich vielleicht nicht mehr an sie erinnert. Oder dass der andere verärgert ist, weil man selbst den Kontakt nicht gehalten hat. Einige befürchten auch, dass sie sich selbst schlecht fühlen werden, weil die andere sie in puncto Karriere übertrumpft hat“, beschreibt Jorge Walter gängige Befürchtungen. Diese schilderten ihm 224 Füh­rungspersonen ganz lebhaft, als er sie in einem Experiment aufforderte, mit zwei Menschen aus ihrem früheren Leben, zu denen sie keine Verbindung mehr hatten, per Telefon oder persönlich in Kontakt zu treten. Eine dieser beiden zu kontaktierenden Personen sollte einst ein guter Freund, eine gute Freundin, die andere eine eher lose Bekanntschaft gewesen sein. Die Teilnehmenden sollten die beiden um eine Idee für ein aktuelles Projekt bitten. „Alle unserer 224 Personen aus dem Topmanagement hatten richtig Angst“, so Walter.

Menschen fühlen sich nicht wohl, einen alten Freund oder eine alte Freundin, von denen sie lange nichts gehört haben, direkt anzurufen, erfuhr auch sein italienischer Kollege Francisco Ibarra, Kommunikationsforscher an der Universität Trient, in einer Befragung von 28 Personen. Die Art und Weise der Kontaktaufnahme muss angemessen sein, so der Tenor, nicht zu aufdringlich, und sie soll das Gegenüber in seinen Reaktionen nicht einengen. Am ehesten geht das über die sozialen Medien, eine unverbindliche „Freundschaftsanfrage“ genügt. Wie viel Nähe und Distanz sich nach zig Jahren der Pause einstellt, kann auf diese Weise feinstimmiger und wechselseitiger ausgehandelt werden, als wenn man die einst beste Freundin völlig überraschend am Telefon hat.

Wenn wir mit einem Menschen, mit dem wir wirklich eng befreundet waren, via Internet wieder Kontakt aufnehmen, ist es oft echte Neugier, die uns antreibt, so Kelly Quinn. Es ist Ausdruck der Verbundenheit, wenn uns interessiert, was aus dieser Person geworden ist, mit der wir einst so viel Zeit verbracht haben. Für einen Teil der 23 von Quinn befragten Personen gab es allerdings kein weiteres Bedürfnis nach einem nachhaltigen Beziehungsrevival. Der Austausch schlief wieder ein, nachdem sich die beiden auf den neusten Stand gebracht hatten. „Dieser Abgleich“, so die Kommunikationsforscherin, „ist auch ein sozialer Vergleich: Welchen Beruf und welchen Status hat man erlangt?“ Wir beurteilen die eigene Lage meist in Bezug auf andere, auf Bekannte und Freundinnen. Insofern dient dieser Austausch dann auch der Bestätigung des eigenen Erfolgs und der Anerkennung: „Hut ab! Dass, du es so weit gebracht hast!“

Die verschiedenen Identitäten in uns

Auf psychologischer Ebene hilft die Kommunikation mit den Vertrauten von früher dabei, uns unserer selbst zu vergewissern, analysiert Quinn. „Wir ­alle haben verschiedene Identitäten aus verschiedenen Lebensphasen. Wenn wir mit alten Freunden und Freundinnen sprechen, hilft uns das, die gegenwärtige Identität zu bestätigen.“ Das kann Charakterzüge, die Lebenslage oder das Verhalten betreffen. Vielleicht sagt uns die gute alte Freundin: „Du wirkst viel ruhiger, als ich dich in Erinnerung habe.“ Wenn wir uns selbst auch gerne als gelassener betrachten (und wer tut das nicht?), bestärkt uns dieses Lob natürlich: Ja, ich habe mich weiterentwickelt!

Das Bedürfnis nach Freundschaften aus früherer Zeit dürfte gegenwärtig auch deshalb zunehmen, weil Identitäten heute fragmentierter sind. Zehn unterschiedliche berufliche Stationen, zwei Hochzeiten und drei Wohnorte im Laufe eines Lebens sind inzwischen keine Seltenheit. Beziehungen, die über diese wechselvolle Lebensspanne hinweg Bestand haben und noch immer tragen, sind da wie ein Anker. Sie stabilisieren unsere Identität.

Die Coronapandemie befeuert die Wiederaufnahme von früheren Kontakten zusätzlich. Das förderte eine aktuelle Studie von US-Forschern zutage, die zur Veröffentlichung im Journal of Applied Psychology eingereicht ist. Danach ist der Austausch mit alten Freunden eine Bewältigungsstrategie, um den Stress in der Pandemie abzufedern. 232 Beschäftigte suchten umso häufiger wieder Anschluss, je mehr sie um ihre Arbeit bangten oder in der Familie Stress hatten.

Sozialkapital aufbauen

Das Wiederauflebenlassen von Freundschaften ist aber auch eine vergleichsweise einfache und zeitsparende Möglichkeit, „Sozialkapital“ aufzubauen, weiß die Forschung. Eingeschlafene Freundschaften sind schneller geweckt als neue gefunden. Zugleich sind Freunde ganz allgemein für das Wohlbefinden und auch für den sozioökonomischen Status wichtig: Freundinnen geben einander wechselseitig auf persönlicher und beruflicher Ebene wichtige Informationen, teilen Aktivitäten, vermitteln Jobangebote und unterstützen einander sozial.

Die Freiwilligen aus dem Management, die in Jorge Walters Experiment auftragsgetreu einen guten alten Freund, eine Freundin nach vielen Jahren kontaktiert und um einen Gefallen gebeten hatten, konnten das bestätigen. „Zu über 90 Prozent hat ihnen das Gespräch oder die Begegnung sehr großen Spaß gemacht, sie regelrecht beflügelt. Sie sprachen sofort über alte Zeiten. Und die einst engen Freunde hatten sehr gute Ideen für ihre Projekte.“ Diese Anregungen bewerteten die Teilnehmenden als genauso wertvoll oder sogar wertvoller als Ratschläge aus ihrem aktuellen Freundeskreis.

Jorge Walter zufolge schlummern in eingeschlafenen Freundschaften besondere Schätze: Wenn man einander einmal vertraut hat und eng befreundet war, zerbricht das Vertrauen nicht, wenn man sich aus den Augen verloren hat. Die meisten Freundschaften enden nicht im Konflikt. Die Beziehung reißt ab, weil einer wegzieht, eine dauerhafte Partnerschaft eingeht, eine Familie gründet. Die Pflege einer Paarbeziehung und natürlich erst recht das Leben mit Kindern bedarf der Zeit, die dann an anderer Stelle fehlt. Das einmal erworbene Vertrauen indes bleibt meist unangetastet. „Vertrauen hat nichts mit der Länge der Beziehung zu tun, aber damit, wie der andere sich verhalten hat und was ich dabei fühle. Und das vergessen wir nicht“, sagt Walter. „Ich würde für meinen Sandkastenfreund durch die Hölle und wieder zurück gehen, obwohl wir uns jetzt nur alle paar Monate sprechen.“ Das alte Vertrauen ist im Moment des Kontakts sofort wieder da.

Eine Stimme jenseits der Echokammer

Und wenn die vormals engen Freundinnen zwischenzeitlich ganz andere Lebenserfahrungen gemacht haben, können sie unser Leben um neue Sichtweisen bereichern, leitet Walter aus seinem Experiment ab. „Wenn wir mit unseren aktuell besten Freunden sprechen, hören wir immer dieselben Geschichten. Wir bewegen uns in einer Echokammer.“ Wenn guter Rat teuer ist, wäre es erhellender, einen guten alten Freund, eine gute alte Freundin zu fragen, ermuntert Walter. Denn sie oder er ist eben nicht (mehr) Bestandteil unserer Echokammer, dazu liegt die gemeinsame Zeit zu lange zurück. „Eingeschlafene Freundschaften“ so Walters Resümee, „vereinen das Beste aus beiden Welten, aus der Welt der engen und der losen Freunde.“

Dass einst enge Gefährtinnen und Wegbegleiter nach einer Beziehungspause erneut in den engen aktuellen Freundeskreis übergehen, ist allerdings nicht gesagt. Bisweilen schläft der Kontakt ein zweites Mal ein oder läuft eher auf Sparflamme weiter. Denn in der Regel haben beide inzwischen längst neue gute Freundschaften geschlossen.

Lange Zeit gingen Netzwerkforscher davon aus, dass Menschen in ihrer Jugend und ihren Zwanzigern die meisten Freundschaften hätten und diese Zahl von da an abnehme. Noch immer liest man dies in Fachartikeln. Oliver Huxhold vom Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin konnte nun aber anhand der Daten von mehr als 19000 Deutschen nachweisen, dass dies nicht mehr zutrifft. „Es gibt diese Abnahme bis etwa zum Alter von 40 bis 50 Jahren, der Rushhour des Lebens. Doch dann nimmt die Zahl der Freunde wieder zu, und das bis zum Alter von etwa 75 Jahren, also solange die Leute Zeit haben und körperlich fit sind.“ Huxhold geht davon aus, dass es sich bei den Hinzugekommenen sowohl um neue als auch um alte Freundinnen und Freunde handelt, mit denen wieder engere Bande geknüpft werden.

Die Stärke der losen Beziehungen

Er wies sogar nach, dass „lose Kontakte“ – von der Forschung bislang als wenig relevant für die Persönlichkeitsentwicklung vernachlässigt – im Verlauf des Lebens zu engen Freundschaften werden können. „Die Stärke der losen Beziehungen“ – so überschrieb er 2020 eine Studie anhand von Daten aus den USA. Die Forschenden dort hatten über mehr als 23 Jahre die sozialen Netzwerke und die seelische Gesundheit von 802 Personen detailgenau erfasst. „Bis dato hieß es immer, dass lose Freundschaften kaum einen Wert haben“, sagt Huxhold. „Wir konnten das klare Gegenteil zeigen.“ Personen mit vielen losen Beziehungen erwiesen sich als zuversichtlicher und hatten eine deutlich geringere Neigung zur Depressivität. Und Menschen mit vielen lockeren Freundschaften hatten später mehr enge Freundinnen und Freunde. Zwischen dem losen und engen Freundeskreis herrscht über die Zeit ein gewisses Kommen und Gehen. Huxhold ermutigt deshalb zum freundlichen Wort im Treppenhaus und auf der Straße: „Ein Bekannter im Jahr 2021 kann 2028 ein guter enger Freund werden.“

„Freundschaften setzen allerdings gemeinsame Interessen und gemeinsame Einstellungen voraus“, ergänzt der Freundschaftsforscher und Psychologe Horst Heidbrink, der an der FernUniversität in Hagen arbeitet. Wenn sich Lebenspfade eine Zeitlang abweichend entwickeln – sprich: die eine drei Kinder bekommt und die andere keine –, lockert das die Beziehung. Sobald sich beide Wege aber wieder annähern, etwa indem beide sich selbständig machen, haben sie wieder deckungsgleiche Lebensthemen. Das ist Voraussetzung für gute Gespräche und soziale Unterstützung. „Es reicht nicht, wenn wir nur von alten Zeiten schwärmen. Es muss mehr Verbindendes geben, damit eingeschlafene Beziehungen eine zweite Blüte erleben“, sagt Heidbrink und erklärt damit, warum viele über die Kontaktaufnahme nicht hinauskommen, andere schon.

Seit der Coronapandemie telefonieren Uta Deffke und ihr langjähriger Freund nun wieder öfter, obwohl er inzwischen in Hannover und sie weiterhin in Berlin lebt. Viele gemeinsame Lebensthemen haben sie eigentlich nicht, findet Deffke. „Er liebt Autos, ich nicht. Er hat geheiratet und Familie, ich nicht“, analysiert sie. „Aber die Sorge um die miteinander befreundeten Eltern verbindet uns in dieser Zeit und die gemeinsamen Erlebnisse. Man hat fast eine familiäre Beziehung.“

Die Ära der Freundschaft

Die Bedeutung von Freundschaften nimmt seit Jahren zu. Heute 75-Jährige sammeln weniger enge Freunde und Freundinnen um sich, als heute 55-Jährige im Alter von 75 aller Voraussicht nach haben werden. Das zeigte Oliver Huxhold vom Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin anhand von Simulationen.

Diese Aufwertung der Freundschaft hängt auch mit der Fragilität der Kernfamilie zusammen. Die Zahl der Scheidungen von Paaren selbst nach zwanzig und mehr Beziehungsjahren ist in den letzten dreißig Jahren erheblich gestiegen und liegt gegenwärtig in etwa bei dreißig Prozent. Wer dann allein ist – die Kinder groß, man selbst noch vital und unternehmungslustig –, sucht in der frei gewordenen Zeit den Kontakt zu anderen vertrauten Menschen.

Aktivitäten mit Freundinnen und Freunden sind bei Menschen über 65 Jahren sogar beliebter als die mit der Familie, fand Huxhold in einer weiteren Befragung heraus. Familiäre Beziehungen können in dieser Lebensspanne nämlich mit konfliktträchtigen Themen wie der Pflege von Angehörigen oder Erbschaftsangelegenheiten belastet sein. „Familie kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon. Deshalb sind diese Beziehungen leicht-lebiger und weniger konfliktbeladen.“

Der Alternsforscher beobachtet auch, dass enge Freunde und Freundinnen mehr und mehr familiäre Kernaufgaben übernehmen. In Coronazeiten erledigen sie schon mal ­Einkäufe oder passen hin und wieder auf die ­Kinder auf. Mit Blick auf diese gesellschaftlichen Trends erwartet ­Huxhold, dass gute alte Freundinnen und Freunde für uns künftig noch bedeutsamer werden.

Quellen

Oliver Huxhold u.a.: The strength of weaker ties: An underexplored resource for maintaining emotional well-being in later life. The Journals of Gerontology, Series B: Psychological Sciences, 75/7, 2020, 1433–1442

Oliver Huxhold: Gauging effects of historical differences on aging trajectories: The increasing importance of friendships. Psychology and Aging, 34/8, 2019, 1170–1184

Kelly Quinn: We haven’t talked in 30 years! Relationship reconnection and internet use at midlife. Information, Communication & Society, 16, 2013, 397 bis 420

Francisco Ibarra u.a.: Design challenges for reconnecting in later life: A qualitative study. DIS’18 Companion, 2018. DOI: 10.1145/3197391.3205426

Jorge Walter u.a.: The power of reconnection – how dormant ties can surprise you. MIT Sloan Management Review, 2011, 52/3, 45–50

Seong Won Yang u.a.: Dormant tie reactivation as an affiliative coping re­sponse to stressors during the COVID-19 crisis. Journal of Applied Psychology, zur Veröffentlichung eingereicht

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2021: Sich von Schuldgefühlen befreien