Was sehen sie hier, Sarah Maria Sun?

Angelehnt an den projektiven Test TAT zeigen wir prominenten Menschen jeden Monat ein Bild und bitten sie, die Szene zu deuten.

Was sehen Sie hier, Sarah Maria Sun? © Andrea Ventura

„Zwei Ichs, erschreckend. Vorn rechts ein scheltendes, strenges, übergroßes, beurteilendes, kontrollierendes Ich. Ernst. Humorlos. Potenziell zerstörerisch. Es fühlt sich verpflichtet, allwissend zu sein. Der Pony vor dem naseweisen Gesicht macht es blind. So kann es gar nicht einsehen, dass es Kind ist und immer bleiben wird, denn niemals, und lebte es 100 Jahre, wird es alles rechtzeitig wissen, fühlen und kennen können. Ein dickschädeliges Monster, verkleidet in den Pullover der Liebe. In seiner Hand reckt sich das arme, kleine Erwachsenen-Ich und würde so gerne entkommen.

Es versucht nach Kräften, sich durchs Leben zu baldowern. Spielt mit Pferdchen (oder Eseln), mit Übermännern, die größer (oder aufgeblasener) sind als es selbst, tanzt als Ballerina vor. Ob’s was nützt? Jetzt sitzt es wieder mal im eigenen gallegelben Schlamassel. Die Krux des Ich ist, dass Groß und Klein immer wieder durcheinandergeraten und das Spiel schnell todernst wird. Dann reißt man sich aus Versehen den eigenen Kopf ab. Manchmal bläst man sich aber auch rechtzeitig die Haare aus dem Gesicht, erkennt sich selbst und lacht.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Als Musikerin lernt man früh Disziplin und Selbstkontrolle. Denn man möchte unbedingt so gut spielen können, dass man die Qualität der Phrasen und Töne adäquat hervorbringen kann. Außerdem ist man im besten Falle neugierig und aufmerksam und lernt schnell. Dadurch wird man schnell erwachsen. Je mehr man dann kann, desto mehr vertraut man wiederum dem Kind in sich. Es ist ein kompliziertes Lebensspiel. Wenn man das Kind in sich zu lange vernachlässigt hat, wird man womöglich ein kindischer Erwachsener, immer auf der Suche nach der Freiheit und der (Selbst-)Liebe, die einem als junger Mensch verwehrt blieb. Wenn man es rechtzeitig schafft, beides auszubalancieren, ist das Leben eine Aneinanderreihung abenteuerlicher Tage, in denen man Schrumpfen, Wachsen, Angst und Lust, Liebe, Verkleidung, Eseleien und Galopp mit meist sonnigem Gemüt hinnehmen kann.“

Sarah Maria Sun ist Sopranistin und eine der weltweit führenden Interpretinnen zeitgenössischer Musik. Ihre Diskografie umfasst 40 CDs. Kürzlich hat sie Heini, ihr erstes Kinderbuch illustriert und geschrieben (heini-kinderbuch.de)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein
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