Auf Wiedersehen, Frau Wiese!

Die Nachbarin, der man so viel anvertraut, sie zieht aus. In ihrer letzten Kolumne nimmt Mariana Leky Abschied –von Frau Wiese und von uns

Die Illustration zeigt eine Frau mit langen Haaren, die wegläuft und unter ihrem Arm ein Haus trägt mit zwei Personen darin
Unsere Kolumnistin verabschiedet sich - von ihrer Nachbarin und von uns. © Elke Ehninger

Es ist so weit: meine Nachbarin Frau Wiese zieht aus, aus beruflichen Gründen und in eine andere Stadt. Ich habe sehr gern unter Frau Wiese gewohnt, fast zwölf Jahre lang ist der Soundtrack ihres häuslichen Lebens zu mir heruntergerieselt. Wir haben einander nie in unsere Wohnungen eingeladen, aber wir sind immer sehr zutraulich gewesen: Wir haben uns eine Menge anvertraut im Hausflur, an Wohnungstürschwellen, im Heizungskeller. Jetzt stehen in ihrer Wohnung kaum noch Sachen und drei Leute herum: der alte…

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Jetzt stehen in ihrer Wohnung kaum noch Sachen und drei Leute herum: der alte Nachbar Pohl, Frau Wiese und ich.

Wir befinden uns in Frau Wieses ausgeräumter und deshalb hallender Küche, in einem lockeren Halbkreis, mit hängenden Armen und Klößen in den Hälsen; wir stehen da wie Teilnehmer einer systemischen Familienaufstellung, die ins Stocken geraten ist. Hin und wieder kommt ein Umzugshelfer herein, er ist eine schweißgebadete Erscheinung, ein Sumo-Ringer würde neben ihm zerbrechlich aussehen. Der Umzugshelfer schultert letzte Dinge. Gerade trägt er Frau Wieses Hometrainer an uns vorbei, der im Arm des Umzugshelfers so viel zu wiegen scheint wie ein Geodreieck.

Noch ist Frau Wiese da, und es ist nicht gut auszuhalten, tatenlos unter diesem „Noch“ zu stehen, deshalb deutet Frau Wiese auf die Fensterscheibe und sagt: „Die Aufkleber da, die könnte man noch ablösen.“ – „Sehr gute Idee“, sagt Herr Pohl, und dann eilen wir alle drei dankbar zu der Fensterscheibe. Die Aufkleber sind klein und alt, es handelt sich um drei vergilbte Prilblumen, die Frau Wieses Vormieterin dort hingeklebt haben muss.

Herr Pohl friemelt seinen Fahrradschlüssel von seinem Schlüsselbund und kratzt damit an den Aufklebern herum, Frau Wiese und ich piddeln mit den Zeigefingern. Es dauert zum Glück, die Prilblumen kleben sehr gut, und obwohl wir es besser wissen, versuchen wir entschlossen, einem schwerwiegenden Ab­schied mit Piddeln und Friemeln beizukommen.

"Es muss riechen."

Der riesige Umzugshelfer kommt mit einem Schaukelstuhl in der einen und einer Bücherkiste in der anderen Hand vorbei. Er trieft. „Möchten Sie sich vielleicht etwas frischmachen?“, fragt Frau Wiese. „Ich habe noch ein Handtuch im Bad.“ Der Umzugshelfer lächelt und schüttelt den Kopf. Er hebt den Arm, an dem der Schaukelstuhl baumelt, und steckt die Nase in seine Achselhöhle. „Es muss riechen“, sagt er gut gelaunt, „sonst stimmt was nicht.“ Er winkt mit dem Schaukelstuhl und sagt: „Ich bin gleich fertig.“

Frau Wiese lässt von den Prilblumen ab und sagt mit etwas angeschlagener Stimme: „Ich bin überhaupt nicht mehr sicher, ob es eine gute Entscheidung ist.“ Es war absehbar, dass sie das sagen würde. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis Frau Wiese fertig mit ihrer Entscheidung war, aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt zu ziehen – und jetzt, in diesem Moment, beim Piddeln, beim Herumstehen unter einem bedrohlich tiefhängenden „Noch“, in einer plötzlich vollkommen ausdruckslosen Wohnung, zeigt sich die Entscheidung von ihrer nicht besonders fotogenen Seite.

„Ich bin jetzt so weit“, ruft der Umzugshelfer aus dem Nebenzimmer. Herrn Pohls Brille ist durch die Piddelei auf seine Nasenspitze gerutscht, er schiebt sie wieder hoch. Dann streicht er Frau Wiese über die Schulter, räuspert sich und sagt feierlich: „Die Güte einer Entscheidung bemisst sich nicht an ihrem Ergebnis.“ Ich lasse sofort von meiner Prilblume ab und starre Herrn Pohl an.

Ohrenbetäubendes Knistern

Ich bin wirklich keine Freundin von Wandtattoos, aber diesen Satz von Herrn Pohl möchte ich als Wandtattoo haben, und zwar sofort und an all meinen Wänden. Herr Pohl schaut uns erstaunt an, als wüsste er nicht, woher dieser Satz kam, ich frage: „Was bedeutet das?“, und Herr Pohl antwortet: „Das weiß ich leider auch nicht, aber es ist höchstwahrscheinlich wahr.“

Hinter uns knistert es. In einer leeren Wohnung kann auch ein Knistern ohrenbetäubend sein. Der Umzugshelfer steckt eine Brötchentüte in seine Brusttasche. „Wir können dann jetzt auch mal“, sagt er kauend. Er lächelt Frau Wiese aufmunternd an, und an dieser Stelle gibt es nichts Schöneres als das aufmunternde Lächeln eines kolossalen Umzugshelfers. Frau Wieses Entscheidung ist richtig, nicht wegen ihres unabsehbaren Ergebnisses, sondern weil sie nach erschöpfendem Hin und Her dafür sorgt, dass man jetzt auch mal kann.

Frau Wiese atmet tief durch. „Also dann“, sagt sie. Und gegen das, was dann kommt, hilft alles Piddeln und Durchatmen nicht. Frau Wiese fällt mir in die Arme, und obwohl wir uns eigentlich nur von Schwellen und Treppen kennen, fühlen unsere Herzen sich an, als balancierten auf ihnen ein Hometrainer, ein Schaukelstuhl und ein riesiger Umzugshelfer.

Ein bepacktes Herz

Frau Wiese und ich haben uns noch nie umarmt. Ich weiß in dem Moment, in dem ich Frau Wieses schmalen Körper im Arm habe, dass wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen werden, weil es keine gemeinsamen Treppen und Schwellen mehr geben wird, und wenn wir uns gleich „Auf Wiedersehen“ sagen, Frau Wiese, Herr Pohl und ich, dann meinen wir damit, dass wir uns wünschen, irgendwann etwas wie Frau Wiese in unserem Haus wiederzufinden; wir meinen damit, dass wir Frau Wiese wünschen, dass sie in ihrer neuen Stadt etwas wie uns findet.

Es wäre sehr schön, wenn der Umzugshelfer Frau Wiese jetzt heraustragen, wenn er sich herunterbeugen und Frau Wiese auf seiner Schulter Platz nehmen würde, im Damensitz. Sie wäre ihm ein Leichtes – sogar inklusive ihres bepackten Herzens. Stattdessen geht Frau Wiese neben dem Umzugshelfer aus der Wohnung. Sie winkt noch mal, nach hinten, zu uns, ohne sich umzudrehen. „Auf Wiedersehen“, sagt sie. Herrn Pohls alte Hand legt sich auf meine Schulter. „Es muss riechen“, sagt er, „sonst stimmt was nicht“, und auch das ist höchstwahrscheinlich wahr. „Auf Wiedersehen, Frau Wiese“, rufen wir durch die hallende Wohnung, „auf Wiedersehen.“

Und auch wir von Psychologie Heute sagen auf Wiedersehen – zu Frau Wiese, zu Herrn Pohl und: zu Mariana Leky. Dies ist ihre letzte Kolumne für uns. Vielen Dank für 39 wunderbare Texte, Frau Leky!

Mariana Leky stand mit ihrem Roman "Was man von hier aus sehen kann" über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schrieb sie seit Juli 2018 jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Alle Texte aus „Lekys Aussichten“ finden Sie hier.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2021: Erfüllter leben