Manchmal gibt es Erfahrungen, die wir mit unseren Patientinnen und Patienten gemeinsam haben, allerdings ohne dass diese davon erfahren. Denn in der Regel erzählen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht aus ihrem Privatleben. Diese Form der Zurückhaltung, die Abstinenz, beschreibt eine wichtige Grundhaltung in der psychoanalytischen Arbeit.
Kurz gesagt geht es darum, dass Therapeutinnen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Behandlung darauf verzichten, ein eigenes privates Interesse jenseits…
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verzichten, ein eigenes privates Interesse jenseits der therapeutischen Rolle zu befriedigen. So ist etwa jegliche Kontaktaufnahme für private oder berufliche Zwecke genauso untersagt wie das Eingehen von intimen Beziehungen.
Abstinenz als Haltung
Das war nicht immer so. In den Anfängen der Psychoanalyse entstanden immer wieder intime Kontakte zwischen Therapeuten und Patienten, weil man mit den schädigenden Auswirkungen noch wenig Erfahrung hatte. Es folgte eine Zeit, in der sich eine sehr strenge Auffassung von Abstinenz entwickelte. Dies führte bei manchen Analytikerinnen zu einem kühlen, abweisenden Verhalten, welches sogar belastend für die Behandlung sein konnte.
Heute versteht man Abstinenz nicht mehr als strikte emotionale oder persönliche Neutralität, sondern als technische Haltung. Damit schützen wir den therapeutischen Bereich, den Patientinnen mit all ihren Nöten, ungeklärten Konflikten und verdrängten Gefühlen brauchen, und ermöglichen die Erfahrung einer neuen, entwicklungsfördernden Beziehung. Und so kann es in seltenen Fällen auch im Sinne der Behandlung sein, dass sich der Analytiker einmal zu erkennen gibt. So wie letztens in der Sitzung mit Luna.
Luna kenne ich seit fast drei Jahren. Ursprünglich kam sie zu mir, weil sie bereits als Kind körperliche Beschwerden entwickelt hatte, für die keine somatische Ursache gefunden wurde, die ihr Leben jedoch immer weiter einzuschränken drohten. Viel zu früh hatte sie ihren Vater verloren und war damals mit der Verarbeitung dieses Verlusts überfordert. Auch in anderen Lebenssituationen hat sich Luna als Kind oft unwohl und ausgeliefert gefühlt und darauf schließlich mit innerem Rückzug und psychosomatischen Symptomen reagiert.
Ausbruch aus dem seelischen Korsett
Innerhalb der Therapie war es ihr erstmals möglich, ihre Gefühle, Bedürfnisse, aber auch Grenzen bewusst wahrzunehmen und ins eigene Handeln zu integrieren, so dass diese nicht mehr körperlich ausgedrückt werden mussten. Die therapeutische Arbeit gab ihr Mut und neues Selbstvertrauen, Luna erlebte eine andere Art von Beziehung, die es ihr ermöglichte, sich auf sich zu konzentrieren. Ganz allmählich schälte sie sich aus einem seelischen Korsett aus Trauer, Schuldgefühlen und vereinnahmenden Loyalitätsansprüchen seitens der Familie heraus und entwickelte eine nie gekannte Lebendigkeit und Kreativität.
Vieles in Lunas Leben veränderte sich positiv, und sie bemerkte irgendwann, dass es ihr noch nie so gut gegangen sei. Dann kam eine für Luna sehr fordernde Situation, denn ein Onkel erkrankte, und es war zu erwarten, dass dieser bald versterben würde. Dies stellte sie vor eine schwierige Entscheidung: Sollte und wollte sie noch einmal Kontakt aufnehmen? Was sollte sie sagen? Wäre dies womöglich das letzte Gespräch?
Konfrontation mit dem Tod
Bekannte Gefühle und Gedanken wurden in Luna wach, erinnerte sie diese Situation doch unweigerlich an den frühen Verlust, den sie eben erst seelisch verarbeitet und so weit überwunden hatte, dass sie bereit gewesen war, ins eigene Leben zu gehen. Wir sprachen häufig darüber, reflektierten die aktuelle Situation, brachten diese mit der früheren in Verbindung. Eine eindeutige Entscheidung aber konnte Luna nicht treffen.
Und nun sitzt Luna vor mir und nachdem sie mir verkündet hat, dass sie heute eigentlich nicht habe kommen wollen, fängt sie bitterlich an zu weinen. Ich ahne, was passiert ist. Es folgt ein Reigen von Selbstvorwürfen und Selbstanklagen. Warum habe sie nur so lange gewartet? Warum nicht den Kontakt gesucht? Sicher sei sie dem Verstorbenen etwas schuldig geblieben.
Auch für sie selbst sei es eine verpasste Chance. Die Chance, sich bewusst zu entscheiden und nicht die Angst bestimmen zu lassen; die Chance, diesmal nicht auszuweichen und später wieder voller Reue an die verpasste Gelegenheit denken zu müssen. So hatte es Luna ja schon einmal erlebt. Und so schien es nun erneut.
Verständnis für das eigene Verhalten entwickeln
Ich erlebe Luna wieder als den Teenager von damals, als ihr Vater gestorben und sie diesem Verlust ohnmächtig und allein ausgeliefert gewesen war. Und so erzähle ich Luna, wie mir etwas ganz Ähnliches widerfahren ist: von dem Verlust eines mir sehr nahen und geliebten Menschen und wie ich das letzte Gespräch, den bewussten Abschied ebenfalls so lange hinausgezögert hatte, bis es zu spät war.
Auch ich war voller Schuldgefühle und Reue, bedauerte zutiefst, keine Gelegenheit mehr zu bekommen, das Verpasste nachzuholen. Mich quälten ähnliche Fragen, und zunächst konnte ich nicht verstehen, warum ich mich nicht rechtzeitig gemeldet hatte. Es wäre doch möglich gewesen!
Doch offenbar gab es in mir auch eine Seite, die nicht hatte anrufen wollen und die diesem direkten und bewussten Abschied, allen guten und ehrlichen Absichten zum Trotz, aus dem Weg gehen wollte. Ich hatte den bevorstehenden Tod nicht wahrhaben wollen und mit dem Aufschieben des Telefonats die unbewusste Fantasie verbunden, auch das Unausweichliche des Endes aufschieben zu können.
Letztlich half mir dann das Verstehen meines Verhaltens, mich innerlich damit zu versöhnen. Ich konnte mich anders verabschieden und diesen Menschen lebendiger in mir behalten. Auch konnte ich anerkennen, wie ich in der übrigen Zeit für diesen Menschen da gewesen war, wir Entscheidendes miteinander geteilt hatten.
Vorbild sein
Ob ich mir trotzdem gewünscht hätte, angerufen zu haben? Ja, klar. Und das bleibt auch weiterhin so.
Diese eigene Erfahrung stelle ich Luna also zur Verfügung, die in ihrer Lebensgeschichte keine Vorbilder hatte, die Krisen durch Annahme und Auseinandersetzung bewältigten. Im Gegensatz dazu hatte ihre Mutter die eigenen Gefühle oft mit Lunas verwechselt und ihr ihre Vorstellung von einem richtigen Trauern übergestülpt, wodurch Luna seelisch regelrecht erstickt war.
Im bisherigen Therapieprozess haben wir dies wie auch ihre Schuldgefühle und ihre Neigung, sich in schwierigen Situationen zu verlieren, lange und intensiv durchgearbeitet. Nun will ich Luna im realen Kontakt erfahren lassen, dass Fehler, Schwächen, eigene Grenzen zum Menschsein dazugehören und dass man damit umgehen und leben kann.
Trauer gemeinsam aushalten
Im Verlauf meiner Erzählung hört Luna auf zu weinen, wird ganz aufmerksam, kommt aus ihrem inneren Rückzug hervor. Nach und nach lässt sie neue Gedanken und Gefühle zu, wird wieder zur erwachsenen Luna. Das Geschehen ähnelt der Interaktion einer Mutter mit ihrem Kind, wenn es emotional aufgewühlt ist.
Indem sie empathisch das Gefühl des Kindes, etwa Trauer, aufgreift, benennt und mit ihm zusammen aushält, ohne selbst emotional davon mitgerissen zu werden, beruhigt sie das Kind. Die Intervention ermöglicht Luna so eine neue emotionale Einrahmung der eigenen Erfahrung, die sie ihre Gefühle ertragen lässt. Im weiteren Verlauf wird aus Lunas Reue Bedauern und aus den Schuldgefühlen die Anerkennung der eigenen Grenzen.
In der folgenden Woche meint Luna, dass sie die letzte Sitzung irgendwie ermutigt habe, mehr zu sich zu stehen. Auch erzählt sie mir von ihren Fantasien über mich. Ich sei greifbarer geworden und sie fühle sich bereit, sich nun auch intensiver mit unserer therapeutischen Beziehung auseinanderzusetzen. Ein neuer Schritt für Luna.
Yasemin Soytas ist Diplompsychologin und Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in Bonn. In ihrem Psychotherapieblog neuesvondercouch.de berichtet sie aus der Praxis und versucht, Fachliches verständlich zu erklären