Mein Therapeut, der Traummann?

Manchmal verliebt sich eine Klientin in ihren Psychotherapeuten oder er überschreitet seine Grenzen. Was bedeutet das für den Fortgang der Therapie?

Die Illustration zeigt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren, die verliebt zu ihrem Therapeuten schaut
Das Verhältnis von Klientin und Therapeut – zwischen Offenheit und klaren Grenzen © Karsten Petrat

In einer Hand den Stift, auf den Oberschenkeln die Schreibunterlage, so sitzt er da in seinem bequemen Stuhl, der Psychotherapeut. Verständnisvoll und ernst blickt er herüber, dann lächelt er, nickt und sagt: „Wenn ich richtig verstehe, dann …“ Nun wiederholt er, was sie soeben gesagt hat. Und tatsächlich, in seinen eigenen Worten sagt er genau das, was sie gemeint hat. Was für ein Mann! Er kann zuhören, hat für alles Verständnis, wirkt nie verunsichert, und wenn er etwas wiedergibt, dann trifft er den…

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den Nagel auf den Kopf. Sie fühlt sich grenzenlos verstanden.

So oder ähnlich klingt es, wenn Klientinnen davon berichten, dass sie sich irgendwann in ihren Therapeuten verliebt hätten, weil dieser all ihren tiefen Sehnsüchten zu entsprechen schien. Er habe einfach wie der perfekte Partner für sie gewirkt. Sie schmeicheln ihm und versuchen, ihn immer mehr in private Gespräche zu verstricken. Bis sie ihn schließlich zum Geburtstagsfest einladen.

Doch was tut er? Sachlich fragt er danach, was es für sie bedeutet, ihn auf dem Geburtstagsfest dabei zu haben. Hat der Mann denn über all die Monate nichts mitbekommen? Dann erklärt er der Klientin, dass sich seine Teilnahme an ihrer privaten Feier therapeutisch verbiete. Hat er denn gar keine Gefühle für sie? Hat er die ganze Zeit seine Zuneigung nur gespielt?

Für verliebte Klienten in einer Psychotherapie ist es oft nicht leicht zu verstehen, warum die Zugewandtheit des Therapeuten eben nicht für eine Verliebtheit steht, sondern dass es sich um eine professionelle Zugewandtheit handelt. Mehr noch: Ein wie auch immer geartetes „Verhältnis“ zu einem Klienten ist therapeutisch ein Tabu und führt bei Bekanntwerden in den Psychotherapeutenkammern und Fachverbänden zu Sanktionen, bis hin zum Entzug der Approbation, also der gesetzlichen Befugnis, als Psychotherapeut arbeiten zu dürfen.

Intimität erzeugen und Grenzen einhalten – wie geht das?

Aber können denn zwei erwachsene Menschen nicht allein entscheiden, mit wem sie ins Bett steigen und mit wem sie eine Beziehung eingehen? Nein, so einfach ist das nicht. So naiv wir gerne Liebesgefühle als naturgegeben betrachten, so sind sie doch speziell zwischen Klienten und Psychotherapeuten eine hochverstrickte Angelegenheit. Egal ob die „Einladung“ zu einem Verhältnis vom Klienten oder vom Therapeuten ausgeht, ein Therapeut, der ein solches Verhältnis eingeht, begeht einen massiven Fehler in seiner Berufsausübung.

Dabei spielt so etwas wie ein „Gefühl von Liebe“ in Psychotherapien durchaus eine Rolle, aber eben in ganz anderer Form: „Die Liebe ist von zentraler Bedeutung in der Psychotherapie“, sagt die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau. Schon Freud habe von der „Heilung durch Liebe“ gesprochen. „Das Gefühl, aufgenommen und verstanden zu werden, ist eine starke gefühlsmäßige Erfahrung, die einen Patienten oder eine Patientin oft richtig aufblühen lässt.“

Und Quindeau geht sogar noch einen Schritt weiter und meint, es gebe sogar eine Art therapeutischer „Verführung“ hin zu einer sehr vertrauensvollen, geradezu intimen Öffnung, denn nur so könnten Klienten von einem psychotherapeutischen Geschehen wirklich profitieren.

Eine tröstende Berührung am Oberarm?

Das markiert einen heiklen Punkt: Ein Therapeut muss eine „Intimität“ erzeugen, um ein wirkungsvolles Therapiegeschehen in Bewegung zu setzen – nur muss er sich dabei eben auch immer an Grenzen halten können. Genau um diese Grenzen geht es, wenn ein Therapeut nicht auf deutliche „Zeichen“ der Klientin reagiert.

Das meint das sogenannte Abstinenzgebot in Psychotherapien: dass zwar alle Vorstellungen und Wünsche der Klienten ausgesprochen und besprochen werden dürfen und sogar sollen, dass es aber zu keinerlei Handlung kommen darf, die diese Wünsche in der Therapie erfüllt. Und das gilt in ganz besonderer Weise für den Therapeuten. Beginnt er, in einer Therapie von sich und seinen Wünschen und seinem Begehren zu sprechen, dann ist das so, als würde ein Handwerker zu uns in die Wohnung kommen, uns erst einmal eine Stunde lang von seinen Sanitärproblemen bei ihm zu Hause berichten und uns diese Stunde anschließend in Rechnung stellen.

Wo beginnen die Grenzen, die ein Therapeut nicht überschreiten darf? Vielleicht schon bei einer tröstenden Berührung am Oberarm? Erst recht jedoch bei vermeintlich ungewollten Berührungen in intimeren Bereichen wie Brust oder Po.

Narzisstischer Missbrauch

Aufschlussreich sind Überlegungen, wann Therapeuten eigentlich zu Übergriffen neigen oder „Einladungen“ von Klienten annehmen. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, der sich viel mit Helferkonflikten beschäftigt hat, spricht von einem „narzisstischen Missbrauch“ durch den Therapeuten genau dann, wenn dieser spürt, dass er als Therapeut scheitert, sich dieses Scheitern aber nicht eingestehen will: „Der narzisstische Missbrauch scheint mir in einer Verleugnung des Scheiterns zu wurzeln. […] Man will als Therapeut eine gute und hilfreiche Person sein und kann nicht verarbeiten, dass es Grenzen gibt, dass man manches auch nicht geleistet hat, nicht leisten konnte, ist aber gleichzeitig auch nicht in der Lage, mit anderen über die Gründe dafür zu sprechen.“

Nach dieser Lesart also ist der übergriffige Therapeut einer, der fachlich scheitert. Dabei ist es auch belanglos, ob eine Klientin etwas „freiwillig“ tut oder ein Therapeut die sexuellen Angebote einer Klientin „lediglich“ erwidert hat. Er verschiebt das therapeutische Geschehen ins Private, um sein berufliches Scheitern zu übertünchen. Das kann ganz harmlos mit einer Einladung der Klientin in ein Café beginnen.

Von der Therapie in die Sauna

Oder auch so: Sandra S. hat eine sehr gute und vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Therapeuten. Er weiß von ihr fast alles, auch Dinge, die sie niemandem von ihren Freunden erzählen würde. Schon seit einigen Monaten registriert sie, dass er ihr offen Komplimente macht. Es gefällt ihr durchaus, Anerkennung für ihr attraktives Äußeres zu bekommen. Seit wenigen Wochen allerdings bemerkt sie, dass er immer stärker auf einer detaillierten Sexualanamnese besteht. Bei ihren sozialen Schwierigkeiten sei das wichtig, sagt er.

Schließlich will er auch wissen, wie sie am liebsten masturbiert und welche Sextoys sie dabei benutzt. Und dann eines Sonntags taucht er in der gemischten Sauna im Fitnesscenter zu genau jener Zeit auf, von der er weiß, dass sie dann immer dort ist. Das Vertrauen von Sandra S. ist dahin. Ihr Erleben und ihr Gefühl des Bedrängtwerdens auszudrücken traut sie sich nicht. Sie bricht die Therapie ab.

80 Prozent aller Übergriffe gehen von Männern aus

In Deutschland werden jährlich bis zu 600 Fälle sexueller Übergriffe von Therapeuten vermutet. Diese Zahlen stammen von Monika Becker-Fischer und Gottfried Fischer, die sich bereits in den 1990er Jahren mit dem Thema beschäftigten. Sie werden von den meisten Fachleuten und auch vom Familienministerium übernommen und wurden zuletzt auch noch einmal von Marga Löwer-Hirsch bekräftigt, die 2017 das Buch Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie veröffentlichte. Allerdings muss von höheren Zahlen ausgegangen werden, da oft beide Seiten kein Interesse daran haben, das Verhältnis öffentlich zu machen.

Rund 80 Prozent aller sexuellen Übergriffe gingen von Männern aus, schreiben Monika Becker-Fischer und Gottfried Fischer; nach den Schätzungen könnten acht bis zehn Prozent aller Therapeuten im Laufe ihrer Berufskarriere betroffen sein. Während bei Therapeutinnen die sexuellen Beziehungen zu Klienten offenbar tatsächlich häufig zu längeren Beziehungen führen, scheint das bei den männlichen Kollegen eher seltener zu sein.

Bei zwei Dritteln dieser Männer nämlich bleibt es nicht bei einem singulären Ereignis, sondern sie haben im Laufe ihrer Berufskarriere immer wieder sexuelle Verhältnisse zu Klientinnen. Das heißt: Ihr Bedürfnis nach einem privaten Kontakt zu Klientinnen scheint kurzfristigen sexuellen Interessen zu entsprechen. Was Klientinnen für Verliebtheit halten, folgt eher der Logik des sexuellen Begehrens.

Kompensation beruflichen Scheiterns

Bei einem Teil dieser Männer legen diagnostische Einschätzungen nahe, dass Anteile einer dissozialen oder narzisstischen Persönlichkeitsstörung vorliegen (bei aller Vorsicht, die immer solchen diagnostischen Etikettierungen gegenüber angebracht ist). Das kann dazu führen, dass sie sowohl die wirklichen Gründe ihres Verhaltens verkennen als auch die Folgen für die Klientinnen bagatellisieren, um sich selbst psychisch zu stabilisieren.

Andrea Schleu vom bundesweit arbeitenden Ethikverein e.V.–Ethik in der Psychotherapie umschreibt diese Männer nach den Erkenntnissen ihrer Beratungsstelle so: „Es sind oft ältere, gut beleumundete, engagierte und in Machtpositionen arbeitende Männer, die aber emotional sehr bedürftig erscheinen.“

Bernhard Strauß von der Universitätsklinik in Jena und Psychotherapieforscher ist in seinem Urteil bezüglich dieser Therapeuten ebenfalls eindeutig: „Ich glaube, dass diese Männer aufgrund ihrer ­Persönlichkeitseigenschaften eigentlich für den Beruf ungeeignet sind. Es handelt sich um Personen, deren narzisstische Struktur sie nach einem Berufsfeld suchen lässt, in dem sie andere Menschen von sich abhängig machen können und in dem sie sich mächtig fühlen. Das findet sich ja auch in anderen Berufen.“

Fehlende Qualitätskontrollen

Psychotherapeuten sind eine sehr gut ausgebildete Berufsgruppe: Sie haben Psychologie studiert, anschließend eine mehrjährige sowohl theoretische als auch praktische Psychotherapieausbildung absolviert und verfügen über viel Selbsterfahrung und Supervision. Viele von ihnen haben sogar eine eigene Psychoanalyse hinter sich. Warum reicht das alles nicht, um die zu Übergriffen neigenden Therapeuten entweder schon früh von ihrer Berufsentscheidung abzubringen oder ihnen wenigstens genügend therapeutisches Instrumentarium an die Hand zu geben, um eigene Begehrlichkeiten unter Kontrolle halten zu können?

Bernhard Strauß: „Viele Ausbildungsinstitute haben in diesem Punkt zu wenig Qualitätskontrolle. Personen, deren persönliche Voraussetzungen für diesen Beruf eher zweifelhaft sind, rutschen dann eben doch mit durch – obwohl von uns befragte Institute angaben, dass sie rund fünf bis zehn Prozent der Absolventen für den Therapieberuf als eher ungeeignet erachten. Wenn jemand mit bestimmten Reaktionen in Supervision und Selbsterfahrungen auffällt, müssten gezielte Gespräche geführt werden. Davor schrecken jedoch viele Institute offenbar zurück.“

Die Verliebtheit zum Thema machen

Verliebt sich eine Frau in ihren Therapeuten, darf das durchaus zum Thema in der Therapie werden. Verheimlichen muss sie es nicht. Dann geht es darum, die Verliebtheit zu besprechen oder, wie es die Psychodynamiker ausdrücken: das Thema zum „Material“ der Therapie zu machen. Erforscht wird nun, woher das Verliebtsein rührt und was das mit der Klientin und ihren sonstigen Wünschen zu tun hat. Psychisch stabile Frauen können meistens souverän damit umgehen.

Problematischer wird es erst, wenn der Therapeut das Verhältnis aktiv sucht und psychisch instabile Frauen bedrängt. Die Untersuchungen, etwa von Marga Löwer-Hirsch, zeigen nämlich, dass es ganz besonders psychisch sehr instabile Frauen und Frauen mit Missbrauchs- und Vergewaltigungserfahrungen trifft. Für viele missbrauchte Klientinnen wirken solche sexuellen Erlebnisse dann retraumatisierend.

Gerade diese Frauen mit ihrer tiefen Verletztheit und der Sprachlosigkeit über ihre frühen Erfahrungen sind anfällig dafür, sich gegen Übergriffe nicht entschieden genug zur Wehr setzen zu können. Sie erleben nun ausgerechnet mit einem Helfer noch einmal das, was sie in der Therapie hatten bearbeiten wollen. Der Helfer wird zum Täter.

Drängende Therapeuten

Doch was tun, wenn der Therapeut bedrängend wird? Zunächst einmal sollte eine Klientin ihren Eindruck offen ansprechen, auch wenn es schwerfällt. Hält sich der Therapeut anschließend nicht zurück oder verfällt er zunehmend in eine sexualisierte Sprache, bieten die Ärzte- und Psychotherapeutenkammern, die Krankenkassen und die Berufsverbände Beschwerdemöglichkeiten.

Dazu muss sich die Klientin aber offen äußern und bereit sein, den juristischen Weg zu gehen, was für viele von ihnen mit ernsthaften inneren Hindernissen verbunden ist. Doch sehen sich die Kassen, Kammern und Verbände nicht in der Lage, juristisch etwas zu tun, wenn die Klientinnen anonym bleiben wollen. Das betrifft auch unabhängige Beratungsstellen wie den Ethikverein. Andrea Schleu betont: „Zuerst einmal können wir dann nichts anderes tun, als zuhören und anerkennen, dass das, was die Frau schildert, geschehen ist. Wir glauben ihr. Sie stößt bei uns nicht auf die Abwehr, dass wir das nicht hören wollen. Und wir können informieren, wie eine professionelle Psychotherapie aussehen sollte. Alles Weitere muss sich aus den Anliegen dieser Frauen ergeben.“

Baustellen und Hoffnungen

Vehement reagiert Rosemarie Piontek auf dieses Thema. Als erklärte „Gendertherapeutin“ und Mitbegründerin des Bamberger Instituts für Gender und Gesundheit e.V. hat sie in ihrer beruflichen Laufbahn schon mehrere Klientinnen gehabt, die von Übergriffen eines männlichen Kollegen berichteten, aber nicht den juristischen Weg gehen wollten.

„Ich erwarte längst“, sagt sie, „dass sich die Juristen in den Kammern, bei den Berufsverbänden und andernorts zusammensetzen und eine Lösung dafür suchen, wie der Schräglage zu begegnen ist, dass wir den Schutz des Therapeuten vor einer möglichen Verleumdung höherstellen als den Opferschutz. Das ist unsäglich. Alle ziehen sich dahinter zurück, dass eben anonym nichts gehe.“

Und Andrea Schleu fordert: „Die Verlängerung der bisherigen Verjährungsfrist von fünf Jahren würde schon etwas helfen, denn eine schwer missbrauchte Person braucht oft länger, um so ein juristisches Verfahren durchstehen zu können.“ Trotzdem machen sich positive Veränderungen bemerkbar. Andrea Schleu beobachtet in der eigenen Arbeit, dass sich Frauen oft schon zu Beginn oder während einer Psychotherapie in der Beratungsstelle melden, um nachzufragen, ob ein Verhalten eines Therapeuten noch in Ordnung sei. Das Problembewusstsein hat also zugenommen. Denn eines steht fest: Für sexuelle Handlungen gibt es keinerlei therapeutische Begründung.

Weiterführende Adressen

Wer sich von seinem Therapeuten bedrängt fühlt,

  • kann sich an die regionalen Psychotherapeutenkammern (siehe bptk.de) oder bei ärztlichen Psychotherapeuten an die Ärztekammern (bundesaerztekammer.de),
  • an den jeweiligen Fachverband, dem der Therapeut angehört (Angaben sollten im Informationsmaterial einer Praxis stehen), 
  • an das Deutsche Institut für Psychotraumatologie (dgptv.de),
  • an den Ethikverein in Essen (ethikverein.de) oder
  • an den Gesundheitsladen in Köln (gesundsheitsladen-koeln.de) wenden.

Literatur

Monika Becker-Fischer und Gottfried Fischer: Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Asanger, Kröning 2014

Mathias Hirsch: Das Phänomen Liebe. Wie sie entsteht, was sie in der Psychotherapie für Probleme macht und warum sie missbraucht werden kann. Psychosozial, Gießen 2018

Marga Löwer-Hirsch: Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie. Fallgeschichten und Psychodynamik. Psychosozial, Gießen 2017

Ilka Quindeau, Wolfgang Schmidbauer: Der Wunsch nach Nähe – Liebe und Begehren in der Psychotherapie. Im Gespräch mit Uwe Britten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017

Rosemarie Piontek: Doing Gender. Umgang mit Rollenstereotypen in der therapeutischen Praxis. dgvt-Verlag, Tübingen 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2020: Wer bin ich noch?