Ein Schrank von einem Mann kommt in meine psychotherapeutische Praxis. Er setzt sich hin und beantwortet freundlich meine Fragen. Als verkehrspsychologischer Therapeut empfange ich nur sehr selten Frauen. In der Regel sind meine Klienten Männer, die eher unfreundlich-distanziert in die erste Therapiestunde kommen.
Meistens haben sie bereits mehrere schwere Verkehrsdelikte begangen und wurden dann in einer Begutachtung als charakterlich problematisch für eine Teilnahme am Straßenverkehr eingestuft. Diese…
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eine Teilnahme am Straßenverkehr eingestuft. Diese Klienten zeigen meistens keine Behandlungsmotivation und halten die verordnete Therapie – in der Regel sind dies zehn bis fünfzehn Sitzungen – für reine Geldmacherei, was sie auch (meist nonverbal) deutlich zum Ausdruck bringen.
Freundlich einsilbig
Nichts Unfreundliches kommt mir bei diesem jungen Mann entgegen, eher eine gewisse Unsicherheit und Schüchternheit. In der ersten Therapiestunde informiere ich mich über die Verkehrsvorgeschichte und die Lebenssituation. Er gibt freundlich, wenn auch etwas einsilbig Auskunft: Er ist 24 Jahre alt, von Beruf Zimmermann, und er lebt mit seiner Freundin zusammen. Ihm wurde wegen zwei massiver Geschwindigkeitsüberschreitungen der Fahrausweis provisorisch entzogen.
Ich mache eine kleine Aufstellung mit Spielfiguren auf dem Tisch, wobei ich den jungen Mann in drei Rollen aufstelle: als Verkehrsdelinquent, als Begutachteter und als Klient in der Therapie. Ich stelle noch andere Figuren hinzu: die Gutachterin, einen Behördenvertreter, den Therapeuten. Anhand dieser Aufstellung kann der Klient erkennen, dass er nicht Opfer von behördlicher Willkür ist, sondern der Verursacher einer Straftat.
Nachstellen der Gefahrensituation
In der zweiten Sitzung gehe ich auf die beiden Verkehrsdelikte ein. Ausgerüstet mit Messband und einer Tabelle zur Berechnung von Reaktions- und Bremsweg gehen wir nach draußen und simulieren dort eine Gefahrensituation: „Stellen wir uns vor, Sie fahren 80 Stundenkilometer anstatt der erlaubten 50, und plötzlich taucht ein Fußgänger aus dem Nichts auf der Fahrbahn auf: Wie sieht das aus? Was sind die Konsequenzen?“
Der Klient gibt sich beeindruckt: „Das habe ich mir so nie gedacht… Das ist wirklich gefährlich.“ Dennoch leuchtet bei mir am Ende der zweiten Sitzung ein Warnsignal: Das verläuft so reibungslos, emotionslos, alles so nett und freundlich – irgendwie bin ich nicht zufrieden.
In der dritten Sitzung versuche ich auf die persönlichen Hintergründe einzugehen, die zu den Verkehrsdelikten geführt haben. Der Klient bleibt bei seiner freundlichen einsilbigen Grundhaltung. Ich beginne die Geduld zu verlieren, und am Ende der vierten Sitzung werde ich dann deutlich: „Nein, so mache ich nicht weiter. Ich habe Sie mehrmals aufgefordert, aktiv mitzumachen, mir zu sagen, was und wie Sie denken, nur so kommen wir vorwärts. Aber Sie bleiben bei Ihren knappen freundlichen Antworten: Ja… Nein… Ich weiß nicht.“
Zweiter Anlauf
Ich beende die Therapie und lade den Klienten ein, mich anzurufen, wenn er die Therapie fortsetzen beziehungsweise endlich beginnen will: „Aber dann müssen Sie was erzählen können aus Ihrem Leben, sonst geht das nicht!“ Etwas verunsichert, aber immer noch recht freundlich verabschiedet sich der Klient.
Zwei Monate später sein Anruf: „Ich möchte die Therapie fortsetzen.“ Ich frage nach: „Aber haben Sie jetzt etwas zu berichten?“ Er bejaht und erscheint tatsächlich zur nächsten Sitzung mit guten Absichten: Er begrüßt mich wieder freundlich, setzt sich hin, kramt aus seiner Hosentasche einen Zettel, faltet ihn auf und beginnt zu lesen:
„5.45 – der Wecker läutet – aufstehen, duschen, Frühstück – 6.20 aus dem Haus – 7 Uhr Arbeitsbeginn – Vorbereiten des Materials für die Baustelle – Beladen des Anhängers – 8 Uhr Abfahrt…“ Ich bin verunsichert: „Entschuldigen Sie, aber was machen Sie da?“ Der Klient schaut mich verdutzt an: „Ich erzähle etwas aus meinem Leben…, so wie Sie das verlangt haben.“ „Ah ja, alles klar, machen Sie weiter. “
Achtsam für die Lücke
Ein bedeutender Teil der Verkehrsdelinquenten, die ich in meiner Praxis empfange, sind Männer mit komplexen Lebenserfahrungen. Sie haben gelernt, schwierige Lebensereignisse zu bewältigen, indem sie sie „wegstecken“ und „vorwärtsschauen“, „nur nicht darüber reden“. Ihre therapieferne Einstellung ist eine große Herausforderung für mich. Es gilt, achtsam zu sein für den Zwischenraum: Wo tut sich eine Lücke auf für therapeutisches Arbeiten?
Und so eine Lücke taucht auf der Liste des Klienten um 13.30 Uhr auf: „Termin beim Anwalt.“ Ich frage nach: „Ah, Termin beim Anwalt…, geht es da um Verkehrsgeschichten?“ „Nein, das ist was anderes.“ „Um was geht es denn, wenn ich fragen darf?“ „Ich hatte ein Problem mit der Polizei.“ Beim genaueren Nachfragen stellt sich heraus, dass dieser freundliche junge Mann ein Fan des FC Basel ist und anlässlich eines Fußballspiels in einer großen Schlägerei mit einer anderen Fangruppe mitgewirkt hat. In der Exploration dieses Vorfalles berichtet er, dass dies so eine Art Hobby sei.
Suche nach den Motiven
„Tor!“, juble ich innerlich. Jetzt geht es darum, diese günstige Ausgangssituation zu nutzen: Was sind die Motive, die meinen Klienten dazu bewegen, die Fußballspiele als Bühne für gewalttätige Auseinandersetzungen zu nutzen? Gibt es Parallelen zum Autofahren mit stark überhöhter Geschwindigkeit? Als Psychodramatiker denke ich immer sofort szenisch und daher verwickle ich den Klienten in eine Skulpturarbeit:
„Da müssen wir etwas genauer hinschauen. Wir machen ein kleines Experiment, und vielleicht gibt uns das etwas Klarheit. Stehen Sie doch bitte auf, und wir stellen uns nun vor, dass wir in einer Skulpturensammlung sind, in einem großen Museum. Viele Statuen sind in diesem Raum, und hier steht eine ganz spezielle Statue…, nämlich eine Statue für Sie als Fußballfan. Stellen Sie sich doch bitte mal da hin als Statue und versuchen Sie auszudrücken, wie das aussieht: als Fußballfan im Moment der Auseinandersetzung mit einer anderen Fangruppe.“
Der Klient zeigt in seiner Rolle als Statue eine stolze, kämpferische Figur. Ich markiere den Standort dieser Skulptur mit einem Kissen und bitte den Klienten, sich wieder auf den Besprechungsstuhl zu setzen. Ich kommentiere: „Wenn ich mir diese Statue vorstelle, die wir da mit einem Kissen markiert haben, dann sehe ich eine Statue, die so etwas vermittelt wie Freude, Stärke, Macht, Zusammengehörigkeit. Sehen Sie das auch so?“„Ja, es ist ein geiles Gefühl.“ „Ja, geil ist vielleicht ein treffendes Wort. Und was wäre das Gegenteil? Wenn wir uns eine Statue vorstellen, die das Gegenteil ausdrückt – was würden wir da sehen?“„Ich weiß es nicht, Langeweile oder so.“
Entwicklung von Bewältigungsstrategien
„Wollen Sie es mal versuchen: so eine Statue darzustellen, die das Gegenteil ausdrückt?“ Der Klient zeigt eine zweite Skulptur, in der ich Hilflosigkeit und Mutlosigkeit sehe. Die nächsten Therapiesitzungen waren endlich „therapeutisch“: Wir haben exploriert, wo diese Hilflosigkeitsstatue ihren Ursprung hat – vermutlich in der Kindheit. Der Klient erinnerte sich an oft wiederkehrende Konfliktszenen seiner Eltern: er allein in seinem Zimmer, wo er versucht, möglichst nicht mitzubekommen, wie sich Vater und Mutter laut und schlimm beschimpfen. Wir konnten auch eine Verbindung skizzieren zum unangemessenen Verkehrsverhalten und Bewältigungsstrategien entwickeln.
Welch einen großen Umweg musste er nehmen, um mir etwas von sich zu erzählen! Nach zwölf Therapiestunden wurde diese verkehrspsychologische Intervention beendet, der Klient hat in der Folge das Fahreignungsgutachten mit positivem Ergebnis absolviert.
In guter Erinnerung bleiben mir seine Worte zur Verabschiedung am Ende der letzten Stunde: „Vielen Dank für alles, und auch meine Freundin lässt Sie herzlich grüßen.“ „Oh, vielen Dank, wie komme ich denn zu dieser Ehre?“ „Sie sagt, sie sei sehr froh, dass ich in Therapie gegangen bin. Sie meint, seither spreche ich auch mehr mit ihr.“
Roger Schaller ist als verkehrspsychologischer Therapeut, Seminarleiter, Psychodrama-Ausbilder und Supervisor tätig. Als Autor hat er neben anderem Das große Rollenspiel-Buch. Grundtechniken, Anwendungsformen, Praxisbeispiele verfasst (Beltz 2017)